Читать книгу Licht zwischen den Bäumen - Una Mannion - Страница 6
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ОглавлениеIch trat in die Dunkelheit hinaus. Dort, wo die Rasenflächen an den Wald grenzten, schimmerten die Leuchtkäfer. Die Nachtluft war warm und fühlte sich nach Sommer an. Die Bouchers wohnten auf der anderen Seite des Bergs; zu Fuß etwa zwanzig Minuten. Auf dem Weg musste ich am Haus der Addisons vorbei, dem »Manson-Haus«. Die Addisons waren aus Kalifornien an den Berg gezogen und wohnten eine Straße weiter oben als wir. Kurz nach ihrem Einzug fingen die Leute an zu reden. Es hieß, Mr Addisons Firma habe in Kalifornien Mammutbäume gefällt, deren Holz dann nie verarbeitet und irgendwann im Pazifik versenkt worden sei, und sein Name stehe ganz oben auf der »Todesliste«, die Charles Manson im Gefängnis geschrieben hatte. Ein paar Jahre zuvor hatte ein Mitglied der Manson-Familie versucht, Präsident Ford zu töten, um die Mammutbäume Kaliforniens zu retten. Niemand konnte sagen, ob an den Gerüchten um Mr Addison etwas dran war. Marie besaß eine Ausgabe von Helter Skelter, und ich hatte sie gelesen. In der Mitte gab es einen Bildteil mit Fotos. Ich betrachtete sie aufmerksam, versuchte, die Gesichter der jungen Frauen zu entschlüsseln, die sich Mansons Gruppe angeschlossen hatten, prägte sie mir ein, für den Fall, dass mir jemals eine von ihnen hier begegnete. Noch immer ging ich automatisch schneller, sobald ich einen VW-Bus sah.
Das Haus der Addisons lag tief im Wald. Je näher ich ihm kam, desto langsamer wurde ich, machte mich zum Sprint bereit. Die Außenbeleuchtung war mit einer Art Sensor ausgestattet und wenn nachts jemand vorbeiging, schaltete sie sich ein und tauchte das Haus und den umliegenden Wald in gleißendes Licht. Ich wechselte die Straßenseite, um sie nicht auszulösen, und ungefähr fünf Meter vor dem Grundstück rannte ich los, lief, so schnell ich konnte, gut hundert Meter weit, und dabei malte ich mir die Mörderinnen aus, die im Wald lauerten. Ich schaute über die Schulter zurück, um zu sehen, ob ich irgendwie verfolgt wurde. Oben an der High Point Road gab es eine Abkürzung direkt durch den Wald, die am Wasserturm vorbeiführte und zum Horseshoe Trail gehörte. Es war dunkel, aber ich kannte den Weg. Ich war schon so oft hier entlang gerannt. Gelbe Rechtecke, die an die Baumstämme gemalt waren, kennzeichneten den Wanderweg und leuchteten im Dunkeln kurz auf, wenn ein Splitter Mondlicht darauf fiel. Ich fand diese Markierungen immer sehr beruhigend; wie in einem Märchen zeigten sie mir, dass ich noch auf dem richtigen Weg war. Aber heute schwappte eine Welle der Panik über mich hinweg. Wie weit war Ellen wohl gelaufen?
Vor mir öffnete sich der Weg auf eine kiesbestreute Lichtung mit zwei Türmen. Der eine war ein riesiger Wasserturm aus Metall, ein massiges graues Gebilde, umringt von Eichen und Ahornbäumen. An manchen Tagen, wenn die Sonne am späten Nachmittag schon tiefer stand als das Blätterdach, warfen die Bäume perfekte Schatten auf die glatte Oberfläche, und der Turm schien fast ein Teil des Waldes zu werden. Der andere Turm war höher, ein bloßes Gerüst aus sich kreuzenden Metallteilen. Er sah aus, als würde er sich jeden Moment bewegen, seine Glieder ausstrecken und alle menschlichen Eindringlinge zerquetschen. Wir vermuteten, dass er irgendwie mit Strom zu tun hatte. Beide Türme waren von einem hohen Zaun umgeben, an dem oben in einem Winkel Reihen von Stacheldraht gespannt waren. Vergebens: Die Jugendlichen kletterten trotzdem darüber, sprangen dann hoch an die unterste Sprosse der Steigleiter des Wasserturms und zogen sich hinauf, um ihn zu erklimmen. Vor dem anderen Turm, der womöglich unter Strom stand, fürchteten sich alle.
Von der anderen Seite der Lichtung hörte ich Stimmen und Gelächter, wahrscheinlich ein paar Jugendliche aus Phoenixville, die dort herumhingen, kifften und Bier tranken. An beiden Türmen blinkten rote Lichter, als Warnung für den Flugverkehr oder auch als Signal an andere Außerirdische.
Letzten Winter waren Thomas und ich mit Jack Griffith hier oben gewesen, Thomas’ ältestem Freund am Berg. Seit Dads Beerdigung hatten wir ihn nicht oft zu Gesicht bekommen. Thomas ging kaum noch aus dem Haus, rief niemanden mehr zurück. Es war ein, zwei Tage nach Neujahr, in der Abenddämmerung; wir hatten noch Weihnachtsferien, und es schneite. Marie, Thomas und ich waren draußen und versuchten die Einfahrt freizuschippen, als Jack in einem kleinen Nissan Datsun herangerumpelt kam. Er habe jetzt den Führerschein, sagte er, und habe sich gedacht, Thomas und er könnten ein bisschen in der Gegend rumfahren, bevor die Schneepflüge kämen. Marie sagte zu Thomas, er solle ruhig mitfahren. Bevor sie in den Wagen stiegen, drehte Jack sich zu mir um und fragte, ob ich auch mitwolle, und ohne groß nachzudenken, sagte ich ja und kletterte auf den Rücksitz.
Wir fuhren durch tiefen Schnee. Die Straßen waren leer, nirgends waren Reifenspuren zu sehen; nur die Bäume legten den Verlauf der Fahrbahn fest. Es war dunkel, und wir fuhren, geborgen in Jacks Datsun, über den Berg, während es um uns herum weiterschneite. Im Radio lief »The Logical Song« von Supertramp, und wir versuchten, die Horseshoe Trail Road hinaufzukommen, aber die Räder drehten durch, der Wagen rutschte immer wieder zurück. Jack bekam ihn nicht weiter die Straße hinauf, also hielt er an, wir stiegen aus und stapften zu Fuß hoch bis zum Wasserturm, um zu sehen, wie es dort, ganz oben auf dem Berg aussah, wenn alles weiß war. Zu dritt standen wir in der abendlichen Schneestille, mit kalten Gesichtern, inmitten dicker Flocken und blinkender Lichter, und ich fühlte mich glücklich. Ich weiß noch, wie ich zu Jack hinüberschaute und er auf einmal schön geworden war, das dunkle Haar, die roten Wangen. Ich sah ihm an, dass auch er glücklich war, einfach nur, weil er hier mit uns stand. Seither war ich ein klein wenig verknallt in ihn, aber das hatte ich nicht mal Sage erzählt. Ich bekam ihn ja sowieso kaum zu Gesicht. Und Thomas auch nicht.
Als ich am Turm vorbeiging, hörte ich noch mehr Gelächter, Glas splitterte, und ich rannte los, damit sie mich nicht entdeckten. Aber ich war noch nicht bis zu den Bäumen auf der anderen Seite der Lichtung gekommen, als sich in der Dunkelheit vor mir Schatten bewegten. Ich verlangsamte meine Schritte und ging auf die fünf oder sechs Jugendlichen zu, die, von Grasgeruch umweht, in einem lockeren Kreis zusammenstanden. Abbey Quinn machte einen Schritt auf den Weg hinaus.
»Hey, Gallagher, bist du das? Wo willst du denn hin?«
Ich blieb stehen. Ich mochte Abbey, aber die anderen, die bei ihr waren, machten mich befangen. »Hallo, Abbey. Ich gehe babysitten.«
»Bei der bildschönen Mrs Boucher?« Abbey kicherte. Sie war bekifft.
Ich schaute zu den anderen hinüber, versuchte, ihre Gesichter zu erkennen. »Ja.«
»Ich hab gehört, es gibt jemanden, der Mrs Boucher besonders schön findet«, sagte sie und fing wieder an zu lachen.
Ich wusste nicht, was sie damit sagen wollte, und zuckte nur die Achseln. Abbey legte mir den Arm um die Schultern. Getrunken hatte sie auch.
»Du solltest mal ’n bisschen öfter herkommen. Würde dir guttun. Mit Sage.«
»Ich versuch’s«, sagte ich. »Aber jetzt muss ich los. Bis dann.« Und damit ging ich weiter den Weg entlang.
Er endete an der Straße, in der die Bouchers wohnten, und ich wandte mich nach links, hangabwärts. Hinter dem Haus der Bouchers lag eine Nike-Raketenbasis im Besitz der US-Regierung. Weil Philadelphia zu den wichtigsten Städten der USA gehörte, war es von vielen solcher Stützpunkte umgeben, die angeblich angreifende Raketen orten und Abwehrgeschosse abfeuern konnten, um sie zu treffen und zu zerstören. Einige der Stützpunkte hatten den Radar, die anderen hatten die Raketen. Ich wusste nicht, wie es bei unserem war. So oder so, es bedeutete, dass der Atomkrieg in greifbare Nähe gerückt war, dass wir zum Ziel werden konnten und im Boden unter uns Raketen lagerten. Nuklearwaffen und Radioaktivität machten mir Sorgen. Vor ein paar Jahren, nach dem Reaktorunfall auf Three Mile Island, mussten viele Menschen evakuiert werden. Wir hörten im Autoradio von Dads Pickup davon, auf dem Heimweg von der Schule. Harrisburg lag nur anderthalb Stunden Fahrt von uns weg, Luftlinie weniger. Ich hatte mir vorgestellt, wie die Menschen zu Fuß flüchteten und sich angsterfüllt nach dem Unsichtbaren umdrehten, das die Luft mit sich trug, wie alles von einer Verseuchung ausgelöscht werden konnte, die man nicht einmal sah. Es hieß, die Stützpunkte hätten schon seit den Sechzigerjahren ausgedient. Waren also auch die Boden-Luft-Raketen entfernt worden, oder ruhten sie immer noch hier unter der Erde? Das wusste niemand.
Mrs Bouchers Haus lag mehrere hundert Meter abseits der Straße, an einem steilen Abhang, und war vom Anfang der Zufahrt aus praktisch nicht zu sehen. Auf dem Weg nach unten sah ich die durch die Bäume zerschnittenen Lichter des Hauses. Ich nahm mir vor, Mrs Boucher zu erzählen, was mit Ellen passiert war. Vielleicht würde sie sich ja mit mir und den Jungs ins Auto setzen und den Berg hinunterfahren, um auf der Straße nach ihr Ausschau zu halten. Oder ich würde mit den Jungs im Haus bleiben, und sie könnte sich auf die Suche machen. Ich wusste, sie würde uns helfen. Aber kaum stand ich vor der Haustür, öffnete Mrs Boucher mir bereits; ich kam nicht einmal zum Klopfen. Sie hatte sich einen leichten Schal um die Schultern gelegt und schon nach Handtasche und Schlüssel gegriffen. Sie trat einen Schritt zurück, um mich einzulassen, nahm aber die Hand nicht von der offenen Tür.
»Hallo, Libby. Entschuldige, ich bin heute sehr in Eile. Die Jungs sind schon im Schlafanzug. Im Gefrierfach steht Eis. Ich habe Schoko-Mint für dich besorgt.« Ich zögerte kurz, bevor ich ins Haus trat. Mrs Boucher sah mich an. »Alles in Ordnung?«
»Ja, alles bestens. Danke. Auch für das Eis. Heute war der letzte Schultag vor den Sommerferien«, setzte ich noch hinzu, als würde das irgendetwas erklären. Ich ging an ihr vorbei in die Diele.
»Ach, das Paradox der Freiheit«, sagte Mrs Boucher, als wäre ihr alles klar. »Wir sehen uns später, wenn ich zurück bin.« Und damit zog sie die Haustür hinter sich zu.
Warum hatte ich ihr nichts erzählt? Ich fasste nach der Klinke, um die Tür zu öffnen, sie zurückzurufen, ihr zu sagen, dass wir Hilfe brauchten. Aber ich fand es schrecklich, andere um etwas zu bitten. Vielleicht würde sie ja auf ihrem Weg den Berg hinunter an Ellen vorbeifahren. Ich rief mir all die Leute vor Augen, die auf dem Heimweg an Ellen vorbeifahren könnten. Irgendwer würde doch sicher anhalten. In ihrer Schuluniform war sie leicht zu erkennen.
Ich spielte mit den Jungs und brachte sie dann ins Bett. Bruce, dem Zweijährigen, las ich Gute Nacht, Mond vor, Peter, dem Fünfjährigen, Peter Hase. Bruce nuckelte am Daumen und kuschelte sich an mich. Er hatte eine Mondlampe in seinem Zimmer, und als ich an der Stelle war, wo dem Zimmer Gute Nacht gesagt wird, schlief er längst. Nach dem Vorlesen nahm Peter gern selbst das Buch, um die Bilder noch einmal ganz genau zu betrachten. Ich tat so, als wäre auch er ein Hase, wir rieben zum Gute-Nacht-Sagen die Nasen aneinander und ich ermahnte ihn, sich noch schön das Fell zu putzen und zum Schlafen die Ohren anzulegen.
Dann ließ ich ihn allein und ging nach oben ins Wohnzimmer. Die ganze Zeit lauschte ich angestrengt auf das Telefon. Um zehn nahm ich den Hörer ab, um zu überprüfen, ob das Freizeichen zu hören war, und legte ihn dann sorgfältig wieder auf die Gabel. Ich hätte gern zu Hause angerufen, aber dann würde womöglich meine Mutter an den Zweitapparat bei sich im Zimmer gehen. Stattdessen rief ich Sage an, außer Marie und Thomas der einzige Mensch auf dieser Welt, der mich sofort verstehen würde.
»Hallo, ich bin’s.«
»Warum flüsterst du?«
»Weiß ich auch nicht. Ich bin bei den Bouchers. Mom hat vorhin, als es schon dunkel war, Ellen aus dem Auto geworfen. Auf der Brücke über den Turnpike. Sie muss zu Fuß nach Hause laufen, aber ich glaube, sie ist noch nicht wieder da.«
»Am Turnpike? Arme Ellen. Diese Straße ist so einsam.«
»Ja. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
»Ich schicke Charlotte mit dem Wagen los«, sagte Sage. »Das macht sie bestimmt.«
»Nein. Bitte nicht. Dann wird alles nur noch schlimmer. Mom kriegt vielleicht Ärger.«
»Und wenn schon.«
»Sag deiner Mutter bitte nichts. Ich melde mich, sobald ich weiß, dass sie zu Hause ist.« Ich setzte mich wieder auf das Sofa und versuchte, fernzusehen, konnte mich aber nicht konzentrieren. Wenn ich bloß etwas zu Mrs Boucher gesagt hätte, vielleicht hätten wir Ellen dann schon gefunden und alles wäre längst vorbei. Um halb elf klingelte das Telefon.
Marie war dran. »Sie ist immer noch nicht da.«
»O Gott. Mir ist ganz schlecht.«
»Auf der Straße ist sie nicht. Sie muss wohl durch den Wald gegangen sein.«
»Woher weißt du das?«
»Wilson McVay ist die ganze Strecke mit dem Motorrad abgefahren und hat sie nicht gesehen.«
»Du hast Wilson McVay angerufen?«
»Ja. Wen denn sonst?«
»Jeden, bloß nicht ihn. Der ist verrückt, Marie.«
»Die Leute, die so was sagen, kennen ihn nicht.«
»Die Leute haben Gründe, so was zu sagen. Er hat ziemlich verrücktes Zeug gemacht.«
»Er hat uns geholfen, Libby. Werd erwachsen.«
Mir fiel mehr als genug ein, was mit Wilson McVay nicht stimmte. Unser toter Kater Mr Franklin zum Beispiel. (So hatte ihn Thomas genannt, nach Benjamin Franklin, der sich der Legende zufolge einmal nachts am Berg verirrt haben soll. Unser Mr Franklin war uns als junges Kätzchen im Wald zugelaufen.) Wir waren überzeugt, dass Wilson ihn getötet hatte. Die Leute erzählten sich, er knalle die Haustiere der Nachbarn mit seinem Luftgewehr ab, und als wir Mr Franklin tot im Wald fanden, hatte er kreisrunde Wunden in der Flanke. Ich hatte selbst schon erlebt, wie verrückt Wilson sein konnte, und Marie war auch dabei gewesen. Vor Jahren, ich war vielleicht elf oder zwölf, saßen wir einmal auf den Schaukeln am Sun Bowl, und Wilson kam mit seiner Motocross-Maschine angefahren, kurvte herum und versuchte, den Felshang am anderen Ende des Geländes raufzukommen. Er machte ein paar Anläufe, dann fuhr er zu den Schaukeln und ließ die Maschine aufheulen, wirbelte direkt vor uns Staub auf. Eine Gruppe älterer Jungs war aufgetaucht und stand auf dem Basketballfeld herum. Sie waren mir mindestens genauso suspekt. Als Wilson mit dem Motorrad an ihnen vorbeifuhr, rief ihm einer, ein Typ mit freiem Oberkörper, so etwas wie »Psycho!« nach. Wilson wendete wieder. Als er erneut vorbeifuhr, kommentierte derselbe Typ: »Sogar die Spinner sind heute zum Spielen draußen«, und die anderen lachten. Wilson wendete erneut und fuhr direkt auf ihn zu. Er zögerte keine Sekunde, wich auch nicht aus und verfehlte den halbnackten Typen nur, weil der zur Seite sprang. Der Typ rappelte sich auf und schrie: »Ein Tag Freigang von der Klapse, was, Arschloch?« Wilson ließ das Motorrad liegen, rannte auf den Typen zu, sprang hoch und rammte ihm den Kopf gegen die Stirn. Der Typ stand einen Moment wie benommen da, dann sackte er einfach in sich zusammen. »Er hat ihn k.o. geschlagen«, rief jemand. Wilson war noch einmal an den Schaukeln vorbeigekommen, und ich hatte sein Gesicht gesehen.
Mir war klar, warum der Typ ihn als Verrückten bezeichnete – das taten alle. Etwa ein halbes Jahr vorher hatte die Polizei kommen müssen, weil Wilson bei den Nachbarn die Fenster eingeschlagen hatte. Bei drei Häusern hintereinander. Eine Scheibe nach der anderen hatte er mit bloßen Fäusten eingeschlagen, brüllend, mitten in der Nacht. Als es vorbei war, kam Mr Pascall, der gleich nebenan wohnte, nach draußen. Er fand Wilson splitternackt auf der Straße vor, heulend, Hände und Arme voller Blut. Wilson hatte zu ihm hochgeschaut und gesagt: »Sie rufen jetzt wohl besser die Bullen.« Kurz nach der Sache am Sun Bowl hörten wir, er sei in einen missglückten Raubüberfall verwickelt gewesen, bei dem auch ein Tankstellenmitarbeiter gefesselt worden sei. Manche behaupteten, Wilson hätte den Fluchtwagen gefahren. Irgendwas musste er jedenfalls gemacht haben, denn danach verschwand er für ein paar Jahre, und kein Mensch wusste, wohin. Seit er wieder da war, tauchte er häufig auf Partys auf, suchte die Gesellschaft von Jugendlichen, die kaum älter waren als ich, war dabei, aber hielt sich am Rand.
»Vielleicht hat sich Ellen ja versteckt, als sie das Motorrad gehört hat, weil sie Angst vor Wilson hatte.«
»Du kennst ihn doch gar nicht. Ich ruf dich an, wenn sie hier ist.«
Ich sah weiter fern, den Ton auf leise gestellt. Gerade fing Fantasy Island an. Es kam mir alles so lächerlich vor, der kleine Mann, der »Das Flugzeug! Das Flugzeug!« ruft, der Typ im Smoking, der angeblich gottähnliche Fähigkeiten hat und seinen Angestellten einschärft, für die reichen Gäste auch schön zu lächeln. Ich schaltete um zu Detektiv Rockford – Anruf genügt. Ich konnte einfach nicht stillsitzen. Es war gleich elf, mehr als drei Stunden her, seit Ellen aus dem Auto gestiegen war.
Mrs Boucher hatte verschiedene Zeitschriften und Zeitungen abonniert, Bücherregale pflasterten die Wände. Auf dem Couchtisch lagen der Philadelphia Inquirer und die New York Times. Beide Titelseiten machten immer noch mit den Kindermorden von Atlanta auf. Ich versuchte die Artikel zu lesen, konnte mich aber auch darauf nicht konzentrieren. Am Morgen, auf der Fahrt zur Schule, hatte ich in den Radionachrichten davon gehört. Sämtliche Brücken von Atlanta wurden von der Polizei observiert, und letzte Woche hatten sie mitbekommen, wie auf einer der Überführungen über den Chattahoochee River ein Wagen hielt und kurz darauf ein Platschen im Wasser zu hören war. Der Fahrer war festgenommen worden, und zwei Tage später wurde flussabwärts eine Leiche angeschwemmt. Jetzt glaubten sie, den Mörder endlich zu haben. Ich betete, dass er es auch wirklich war. Mehr als zwanzig schwarze Kinder waren tot oder wurden noch vermisst. Ich hatte Angst, so allein im Haus der Bouchers. Es bestand fast nur aus Glas und war an den Hang gebaut, der hinter dem Haus steil abfiel, sodass ich hier im Wohnzimmer wirklich das Gefühl hatte, inmitten von Baumwipfeln zu schweben. Mir war klar, warum Mrs Boucher immer von ihrem Baumhaus sprach. Es gab überall Fenster und keine Vorhänge.
Ich beschloss, noch einmal bei Sage anzurufen, damit sie ihre Eltern doch um Hilfe bat, selbst wenn das hieß, dass sie die Polizei einschalten würden. Auf dem Weg zum Telefon in der Küche huschte vor einem der vorderen Fenster ein Schatten vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich etwas Weißes. Ich blieb stehen, hielt den Atem an. Ein Rascheln war zu hören. Dann ein Klopfen an der Scheibe. Ich blickte an mir herunter, auf mein weißes T-Shirt, überlegte, ob ich vielleicht nur mein eigenes Spiegelbild gesehen hatte. Es klopfte wieder. Da war eindeutig jemand am Fenster. Ganz lässig, als hätte ich keine Angst, ging ich zur Haustür, versteckte mich dahinter und wartete. Ich schaltete die Außenbeleuchtung ein, warf einen Blick nach draußen und schrie auf. Dann riss ich die Tür auf, und Ellen stolperte über die Schwelle.
»Mein Gott, Ellen!«
Ihr Gesicht war mit Blut und Erde verschmiert. Unter dem rechten Auge hatte sie eine offene Platzwunde. Der rechte Arm und das rechte Bein waren voller Schrammen, ihre ganze Seite gespickt mit Rollsplitt von der Straße. Ihr weißes Polohemd war mit Blut und Schlamm bespritzt.
»Ich bin aus einem Auto gesprungen.«
»Was? Was meinst du damit?« Ich schloss die Haustür, spürte, wie mir das Blut in den Kopf schoss, in meinen Ohren rauschte es wie ein Ozean. »Geht’s dir gut? Bist du irgendwo verletzt?« Meine Stimme klang viel zu laut.
»Glaub nicht. Weiß nicht. Ich bin hierhergelaufen. Nach Hause konnte ich so nicht.«
Ich muss ihre Wunden säubern. Das ist jetzt das Wichtigste. »Komm mit.« Ich führte sie nach unten, in das Bad, das Mrs Boucher für sich und ihren Besuch reserviert hatte. Ellens Trägerkleid und die Kniestrümpfe waren mit getrocknetem Schlamm verkrustet. So sanft wie möglich drückte ich sie auf die weißen Bodenkacheln, damit sie sich mit dem Rücken an den Schrank unter dem Waschbecken lehnen konnte. Sie zitterte. In Mrs Bouchers Bad war alles weiß und mit Monogramm versehen.
»Warte kurz.«
Ich rannte zum Wäscheschrank, schnappte mir ein paar braune Handtücher und eilte zurück. Ellen sah aus wie ein Gespenst, wie sie da in Mrs Bouchers Bad saß, das Gesicht bläulich-weiß, heller als das Waschbecken und der Unterschrank in ihrem Rücken. Die Adern an den Schläfen und auf der Stirn zeichneten sich ab, und die Linien der dunklen Venen unter ihren Augen und seitlich an den Wangen wirkten schwärzlich, als wäre ihre Haut durchsichtig geworden. Ich legte die weiße Badematte in die Wanne und breitete ein Handtuch auf dem Boden aus.
»Rutsch rüber.«
Ellen stemmte sich hoch, ich schob das Handtuch unter sie und legte ihr ein weiteres um die Schultern. Dann drehte ich das Wasser auf, stellte es warm und hielt einen braunen Waschlappen darunter.
»Ich bin ganz vorsichtig, versprochen.« Ich wrang den Waschlappen aus und berührte damit ganz sanft Ellens Gesicht, unter dem Auge, wo die Wunde noch immer blutete. Ellen schrak zusammen, zuckte zurück und schlug sich den Kopf am Schrank an.
»Autsch!«
»Lass mich das nur kurz säubern.« Ich tupfte ihr die Schrammen im Gesicht ab, wischte ihr den Dreck vom Kinn. Meine Hand zitterte. Sie ist aus einem Auto gesprungen. Ich hob das Handtuch an und betrachtete noch einmal ihren rechten Arm und ihr rechtes Bein. Beide waren abgeschürft. Die Schrammen waren nicht tief, dafür aber lang und von Dreck und Rollsplitt schwarz gesprenkelt. Ich schaute in Mrs Bouchers Medizinschrank über dem Waschbecken und entdeckte ein Fläschchen mit Wasserstoffperoxid.
»Schau weg.« Ellen wandte das Gesicht ab, und ich goss den Drehverschluss voll und leerte ihn über ihren rechten Arm. »Wir müssen dir das Hemd ausziehen.«
Ich öffnete die Knöpfe an den Schultern ihres Trägerkleids und klappte es bis zur Taille herunter. Ellen zog sich das Hemd über den Kopf, zuckte kurz, als sie den rechten Arm hob. Dann drückte sie das Handtuch an die Brust, krümmte sich etwas zusammen. Sie sah so klein aus in ihrem weißen Bustier, mit dem wir sie aufzogen, weil sie es noch gar nicht gebraucht hätte. Der Rollsplitt zog sich über ihren ganzen Unterarm, bis zum Ellbogen und dann weiter hoch bis zur Schulter. Ich wurde den Gedanken nicht los, dass sie sich vielleicht den Kopf angeschlagen hatte und es nicht mehr wusste, oder dass sie innere Verletzungen haben könnte. Sie war so krankhaft bleich. Dann fing sie an zu erzählen.
»Nachdem ihr weggefahren wart, wollte ich erst nach Hause laufen, aber ich wusste, irgendwann stehe ich im Stockdustern, weil es ja schon dunkel war. Mir ist klar, wie blöd das war, aber ich wollte trampen.«
»Oh Scheiße, Ellen, nein!«
»Ich bin ein paar Meter gelaufen, dann habe ich mich einfach in Fahrtrichtung umgedreht und den Daumen rausgestreckt. Ich hatte Angst, aber ich dachte mir, Trampen ist besser als durch die Dunkelheit zu laufen. Ich hatte den Daumen noch keine halbe Minute draußen, da hielt ein Wagen an.«
Ich rutschte von ihr weg und richtete mich auf den Knien auf, um den Waschlappen in Mrs Bouchers Waschbecken auszuspülen. Mit dem Blut flossen schwarze Splittstückchen heraus.
»Es hat also ein Wagen gehalten. Und dann?«
»Er blieb direkt neben mir stehen. Schwarz, ziemlich tiefgelegt. Ich hab gar nicht geguckt, wer am Steuer sitzt. Hab einfach nur die Beifahrertür aufgemacht, bin eingestiegen und hab mir gedacht, was ich für ein Glück habe, so schnell eine Mitfahrgelegenheit zu finden.« Sie zupfte an ihren Haarspitzen herum. »Den Fahrer hab ich erst gesehen, als wir schon wieder fuhren. Ich hab mich zu ihm gedreht, um mich zu bedanken, da hab ich ihn gesehen. Und gewusst, dass ich einen Fehler gemacht hatte.« Ihr rechtes Bein fing an zu zittern. »Er sah total gruselig aus. Er hatte lange weißblonde Haare, so lang, dass er fast drauf saß.«
»O Gott!«
»Es waren Haare wie bei einer Barbie-Puppe, nur eben an einem Mann, und mehr so weißlich.«
»Wie alt war er?«
»Weiß ich nicht. Dreißig vielleicht? Oder älter? Er sah aus wie Gregg Allman, du weißt schon, von den Allman Brothers, nur in hässlich. Sogar seine Augenbrauen waren weiß.«
»Wie bei einem Albino?«
»Nein.« Ellen schüttelte den Kopf. »Nicht wie bei dem Jungen in Beas Klasse. Die Haare haben geglänzt, als wären sie nicht echt, wie bei einer Puppe. Er hat gefragt: ›Wo musst du hin?‹, und ich hab ihm, gesagt, zum Valley Forge Mountain und dass er mich an der überdachten Brücke rauslassen kann. ›Klar‹, hat er gemeint. Aber wir waren noch gar nicht weit gekommen, da legt er mir plötzlich die Hand aufs Bein, ungefähr am Knie, und hat es so leicht gerieben.«
Sie schwieg kurz.
»Ich wusste nicht, was ich machen soll. Ich hab nichts gesagt. Er ist einfach weitergefahren, mit der Hand auf meinem Bein, und dann hat er die Hand nach oben geschoben. Bis ganz nach oben am Bein. Ich konnte mich nicht bewegen, um seine Hand wegzustoßen, obwohl sie schon so weit oben war, wie’s überhaupt geht.«
Ellen holte tief Luft. Ihre Stimme war fest, sie schluchzte auch nicht, aber aus ihren Augen liefen Tränen.
»Als das Auto auf die überdachte Brücke zufuhr, hab ich gesagt: ›Sie können jetzt hier halten, dann steige ich aus‹, aber er hat nicht geantwortet. Er ist einfach weitergefahren. Da wusste ich, er wird mich nicht rauslassen. Und als wir an dieser schlimmen Kurve waren, kurz vor der Brücke, wo er wirklich bremsen musste, bin ich rausgesprungen. Ich hatte die Hand schon am Türgriff, dann hab ich sie einfach aufgestoßen und bin rausgesprungen, ein bisschen gestolpert und hingefallen und auf die Fahrbahn gerollt.«
Ich hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden, schwarze Punkte und silbrige Blitze tanzten am Rand meines Sichtfelds. Als ich wieder sprechen konnte, hörte sich meine Stimme an wie aus weiter Ferne.
»Waren noch andere Autos unterwegs?«
»Nein, aber er hat gleich vor mir gehalten. Ich konnte die roten Bremslichter sehen. Er ist ausgestiegen. Ich dachte, er will mich zurückholen, aber wahrscheinlich wollte er nur die Tür zumachen. Ich bin aufgesprungen und über die Straße in Richtung Bach gerannt. Die Uferböschung runter und direkt ins Wasser, kurz vor der Brücke. Es ging mir nur bis zur Taille, ich wollte darin weiterlaufen, aber da kam ich nur in Zeitlupe voran und bin immer wieder ausgerutscht. Die Steine waren total glitschig.« Sie sah auf ihr Kleid hinunter. Ich konnte den Rand erkennen, den das Wasser aus dem Bach darauf hinterlassen hatte, den Schlamm an ihren Kniestrümpfen. »Als ich am anderen Ufer war, bin ich durch den Wald gerannt, so schnell ich konnte, obwohl ich wusste, dass er mir gar nicht folgt.«
»Warum bist du nicht runter nach Yellow Springs und hast dort an einem Haus um Hilfe gebeten?«
Ellen schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Ich bin einfach nur in den Wald gerannt. Immer den Berg rauf, weil ich wusste, da findet er mich nie. Ich bin einfach immer weitergelaufen. Und dann hab ich endlich Lichter gesehen. Eins von den Häusern hinten am Hamilton Drive.«
»Da warst du schon fast zu Hause. Warum bist du nicht nach Hause gegangen?«
Ellen zuckte die Achseln. »Mir ist wieder eingefallen, dass du freitags immer hier bist. Mom bringt mich um, wenn sie hört, dass ich getrampt bin.« Sie wischte sich mit dem unverletzten Handrücken die Nase. »Und außerdem bin ich immer noch sauer.«