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Wilson McVay stand in meinem Zimmer. Er lehnte so entspannt an der Kommode vor dem Fenster, als wäre er hier ein ständiger Gast. Er trug schwere schwarze Stiefel, eine schwarze Jeans mit einem schwarzen Harley-Davidson-Gürtel und ein schwarzes T-Shirt. Sage und ich hockten auf dem unteren Teil des Ausziehbetts. Hinter uns lehnte Ellen von Kissen gestützt an der Wand. Sie war immer noch sehr blass, und um ihren Mund lag ein bläulich-schwarzer Schatten. Uns gegenüber saß Marie im Schneidersitz auf ihrem eigenen Bett, in schwarzem Rock und T-Shirt; von ihrem einen Ohr baumelte ein langer Strassohrring.

Abgesehen von Marie und dem Siouxsie and the Banshees-Poster hinter ihr an der Wand war das Zimmer hauptsächlich in Rosa gehalten. Wilson wirkte darin komplett fehl am Platz. Er war vielleicht neunzehn oder zwanzig, sah aber aus wie ein erwachsener Mann, jemand, der sich täglich rasieren musste. Seine Anwesenheit veränderte unser Zimmer, als hätte etwas Dunkles, Drohendes seinen Schatten mitten in unser Herz geworfen. Ich wollte ihn hier nicht haben.

Sie hörten eine Kassette, die Wilson Marie mitgebracht hatte, und mir wurde klar, dass ihre Verbindung in der Punkmusik lag. Wahrscheinlich hatten sie sich auf einem Konzert kennengelernt. Vielleicht waren sie sogar zusammen hingegangen. Begleitete Wilson sie zu so was? Er sah überhaupt nicht aus wie ein Punker, aber mir war klar, dass diese Musik ihn ansprechen musste, der Zorn darin. Am Berg hörten alle Rock oder Heavy Metal, und ob man Creedence Clearwater oder Black Sabbath lieber mochte, entschied darüber, wer man war und mit wem man seine Zeit verbrachte. Meine Schwester war meines Wissens die Einzige, die auf Punk stand. Bei den anderen Mädchen der Schule galt sie als Freak. Jetzt unterhielt sie sich mit Wilson über Bands, die sie beide kannten oder sogar schon live gesehen hatten und von denen Sage und ich keine Ahnung hatten: Flipper, Killing Joke, The Stickmen. Marie erzählte Wilson, dass sie beim Auftritt einer Band im Keller eines DJs in West Philly gewesen sei und auf die Waschmaschine habe klettern müssen, um überhaupt etwas zu sehen. Sie redeten auch darüber, wie es im Hot Club zuging.

»Kommt man da nicht erst ab einundzwanzig rein?«, fragte ich, aber Marie ignorierte mich. Seit Weihnachten fuhr sie oft in die Stadt, ging in Clubs und sah sich Bands an. Unserer Mutter erzählte sie, sie übernachte bei ihrer Freundin Nancy. Nach allem, was ich wusste, waren die zwei schon seit der Zehnten nicht mehr befreundet. In der Schulcafeteria verzog sich Marie immer ganz hinten ans Fenster, allein mit einem Buch. Nancy saß mit den anderen Mädchen zusammen, die genauso lange fettige Haare hatten wie sie und meistens entweder auf den Boden oder auf Lernkarten für die Uni-Zulassungsprüfung starrten. Soweit ich wusste, hatte Marie an der Schule überhaupt nur eine Freundin gehabt, Rae. Sie hatte letztes Jahr ihren Abschluss gemacht, studierte jetzt am Moore College for Art and Design und hatte ihre eigene Wohnung im Zentrum von Philadelphia.

Im Lauf dieses Jahres hatte Marie ihre Grateful Dead-Batikshirts und die hellen Jeans ausgemistet und sich stattdessen schwarze Second-Hand-Klamotten, Netzstrümpfe, Doc Martens und Strassschmuck zugelegt. Sie fuhr nach Philadelphia, um sich mit Rae zu treffen und mit ihr in der South Street, im Zipperhead und im Keller von Rage Records an der Third Street rumzuhängen, wo es die beste Auswahl an Punkmusik in der ganzen Stadt gab. In den letzten Wochen hatte sie immer wieder die Schule geschwänzt und war, nachdem unsere Mutter uns vor dem Schultor abgesetzt hatte, mit dem Bus nach Philly gefahren. Die Nonnen unternahmen nicht viel dagegen. Sister Benedict hatte sie irgendwann zu sich zitiert, aber ich glaube, sie wollten unsere Mutter einfach nicht noch mehr belasten und kamen ohnehin nicht gut mit ihr zurecht. Außerdem hatte Marie bei der Zulassungsprüfung als Klassenbeste abgeschnitten und bereits eine Zusage der Penn University in der Tasche, inklusive vollem Stipendium.

Gerade erzählte sie Wilson von einer britischen Band, X- Ray Spex, und deren Sängerin, Poly Styrene. Wilson meinte, von denen kenne er »Oh Bondage! Up Yours!«. Sage stieß mich leicht in die Seite. Marie meinte, Poly Styrene habe immer gegen den Materialismus angesungen, aber jetzt habe sie die Band verlassen. Wilson sagte, es sei ja nicht zu vermeiden gewesen, dass sie irgendwann desillusioniert sein würde, sogar vom Punk.

»Wow, ihr zwei seid ja ein munterer Haufen«, sagte Sage. Ich wusste, dass sie solche Gespräche affig fand, und obwohl sie Marie wirklich gernhatte, ließ sie sich von ihrer Punkerinnenpose längst nicht so beeindrucken wie ich. Als Marie sich die Haare schwarz gefärbt und auf einer Seite abrasiert hatte, fand ich sie cool und mutig, weil sie ablehnte, was andere für schön hielten. Sage meinte, das sei auch eine Uniform, nur eben eine andere.

Wilson zog einen Klarsichtbeutel mit Medikamenten aus seiner Hosentasche. Tabletten und Kapseln in allen möglichen Farben und Formen, zartrosa, zartblau und weiß. Auch ein paar kleine rote Pillen.

»Meine Mutter hat quasi ihre eigene Apotheke im Medizinschrank. Die vermisst sie garantiert nicht.« Er griff in die Tüte und fischte eine sehr kleine Tablette heraus, die er auf unsere rosa Kommode legte und mit der Spitze seines Taschenmessers zerteilte. Die eine Hälfte gab er Ellen. »Das ist Diazepam, das Gleiche wie Valium.«

»Bist du auch sicher, dass es die richtige ist? Die fliegen da doch alle durcheinander.« Ich überlegte, ob nicht Krümel von anderen Tabletten, Halluzinogenen vielleicht oder etwas richtig Gefährlichem, an der kleben konnten, die er Ellen gegeben hatte.

»Es ist Diazepam, glaub mir«, sagte er. »Diazepam ist der eigentliche Wirkstoff. Valium ist nur der Markenname.«

»Ach was. Bist du jetzt Experte für Arzneimittel?«, fragte Sage.

»Kann man so sagen«, antwortete er.

Während Ellen ihre halbe Tablette mit Wasser schluckte, schob sich Wilson die andere Hälfte in den Mund. Am liebsten hätte ich Marie angebrüllt, sie solle ihn verdammt noch mal hier rausschaffen, raus aus unserem Zimmer und raus aus unserem Leben. Aber sie sah sich nur das Cover der Kassette an, die er ihr aufgenommen hatte.

Sage beugte sich zu mir und summte leise die Melodie von »Mother’s Little Helper«. Ich überlegte, wie es wohl sein musste, eine Mutter zu haben, die Pillen schluckte. War Wilson deswegen so verkorkst? Oder warf sie die Pillen ein, weil sie diesen verkorksten Sohn hatte? So oder so, ich wollte ihn weghaben.

Marie erzählte Wilson von einem Job, den sie bei Rage Records an der Third Street haben könne. Er ging da auch immer hin.

»Sie zahlen nur den Mindestlohn. Meine Freundin Rae hat eine Wohnung in West Philly und meint, sie kann ein bisschen Hilfe mit der Miete brauchen. Ich wohne dann zwar mehr oder weniger auf dem Wohnzimmersofa, aber es ist ja nur bis August, wenn die Wohnheime aufmachen.«

»Wie?«, fragte ich. »Du ziehst aus?«

»Ja. Ich bleibe doch nicht hier in der Walachei. Ich brauche Arbeit.«

»Du könntest in der Mall arbeiten.«

»Bevor ich in der King of Prussia Plaza anfange, falle ich doch lieber tot um.« Marie warf Sage einen Blick zu. »Nichts für ungut, Sage, aber ich könnte echt nicht noch mal bei Chick-Fil-A jobben. Das wäre, als würde ich mich völlig aufgeben.«

»Glaub mir, es ist bestimmt schlimmer, als du’s in Erinnerung hast.«

»Und was ist mit uns?« Ich fühlte mich, als hätte sie mich geohrfeigt.

»Ich bin nicht eure Mutter, Libby. Ich hatte nie vor, den ganzen Sommer hier zu bleiben.« Marie wurde in drei Wochen achtzehn, und mir war plötzlich klar, dass kein Mensch auch nur versuchen würde, sie vom Weggehen abzuhalten.

»Und sehen wir dich dann noch?«, fragte Ellen.

»Es gibt Züge, Dummerchen«, sagte Marie und warf ein Kissen nach ihr. Ellen zuckte zusammen. »Ach, Scheiße. Entschuldigung. Alles klar?« Ellen nickte.

»Weiß Mom es schon?« Ich konnte nicht fassen, dass Marie uns das einfach so vor Wilson erzählte, als wäre nichts dabei, und ich war wütend auf ihn, weil er mich so verletzt und ungeschützt erlebte.

»Ja. Sie weiß es.« Sie nahm ihren Auszug so locker. Jetzt stand sie auf und setzte sich oben auf das Ausziehbett, neben Ellen. »Du musst jetzt schlafen, Ellen. Aber vorher möchte Wilson dir noch ein paar Fragen stellen.«

»Ich will nicht mehr drüber reden. Bitte.«

»Du musst auch nicht über das reden, was passiert ist. Es geht nur darum, den Typen zu identifizieren.«

»Das hab ich doch alles schon gesagt. Er hatte lange, fast weiße Haare, so lang, dass er drauf sitzen konnte. Blaue Augen. Ach ja, das hab ich noch vergessen. Für einen Mann hatte er richtig lange Fingernägel.« Das Bild, das sie von ihm entwarf, ließ mich unwillkürlich schaudern.

»An beiden? Hatte er an beiden Händen lange Fingernägel?«, fragte Wilson.

Ellen dachte kurz nach. »Nein. Nur an der rechten. An der Hand auf meinem Bein. Nicht an der auf dem Lenkrad. Und er musste sich beim Fahren ein bisschen vorbeugen, als wäre er eigentlich zu groß für den Wagen.« Sie hielt inne. »Mehr fällt mir nicht ein.«

»Und der Wagen?«, fragte Wilson.

»Keine Ahnung. Schwarz. Er sah aus wie der Wagen von Chicken De Martino, aber der hat eine andere Farbe.«

»Chicken fährt einen Camaro«, sagte Wilson. »War es ein Camaro?«

»Weiß ich nicht«, sagte Ellen. »Er war auch innen schwarz.«

»Wie waren die Sitze?«

»Tief, so, als säßen wir fast auf dem Boden.«

»Schalensitze?«, fragte Wilson.

Ellen zuckte die Achseln. Sie gähnte, und ihre Hand wanderte unwillkürlich zu der Verletzung unter ihrem Auge. »Sie hatten so Fellbezüge, wie auf dem Toilettendeckel bei Meredith Hunter zu Hause.«

»Der ist aus Plüsch«, sagte ich.

»Und eklig«, ergänzte Sage.

»Plüsch, ja«, sagte Ellen. »Aber irgendwie flauschiger und dunkel, so ein fast schwarzes Lila.«

»Du hast Libby erzählt, er hätte eine Kassette laufen lassen.« Wilson nahm den Klarsichtbeutel und schob ihn sich wieder in die Hosentasche. »Weißt du, was für eine?«

Ellen blickte einen Moment starr geradeaus. »Er hat die Kassette eingelegt, und als er sich vorgebeugt hat, ist er mit dem Kopf an eine Hasenpfote gestoßen, die am Rückspiegel hing. Die war gelb. In dem Lied ging es darum, wie es als Kind war.« Sie summte vor sich hin, schlug mit der Hand den Takt. »They had a fever

»›Comfortably Numb‹«, sagte Marie. »Pink Floyd. Hast du das auch schon mal bei mir gehört?«

Ellen nickte. »Sonst kann ich mich an nichts mehr erinnern.« Sie klang erschöpft. »Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen.«

»Die Kleine ist kaputt«, sagte Sage, »und ich muss nach Hause.« Sie rappelte sich hoch, zog ihre Jeans-Shorts zurecht, beugte sich über Ellen und gab ihr einen Kuss auf den Kopf. »Bis später, Mäuschen. Schlaf dich aus.«

Ellen kuschelte sich in die vielen Kissen. Wir anderen gingen zusammen nach unten und hinaus auf die Einfahrt.

»Ich ruf dich nachher an, Libby«, sagte Sage. Sie ging um unser Haus herum, um die Abkürzung durch den Wald zu nehmen. Wilson, Marie und ich blieben an der Straße stehen. Mr Walker saß mit einem Glas Limonade auf seinem Rasentraktor und schaute herüber. Alle kannten Wilson McVay und wussten, wie er aussah, und jetzt hatte Mr Walker mitgekriegt, wie er aus unserem Haus kam, während unsere Mutter nicht da war. Er sprach eigentlich nie mit unserer Mutter, aber was, wenn er doch auf die Idee kam, sie anzurufen? Ich starrte zurück, bis er den Blick abwandte.

»Warum wollt ihr das alles von ihr wissen?«, fragte ich. »Wollt ihr es der Polizei melden?«

»Nein«, sagte Marie. »Aber jemand muss sich den Kerl zur Brust nehmen. Wilson kennt viele Leute, und wenn er hier aus der Gegend ist, dürfte es nicht allzu schwer sein, einen blonden Riesen mit Haaren bis zum Hintern zu finden, der einen schwarzen Camaro fährt. Irgendwer muss ihn kennen.«

»Gitarre spielt er auch«, sagte Wilson.

»Was?«

»Die Fingernägel an der rechten Hand. Die lässt er lang, zum Zupfen.«

Ich starrte die beiden an. Marie benahm sich, als wäre das alles total normal.

»Haltet ihr euch jetzt für Privatdetektive oder was? Was wollt ihr denn machen, wenn ihr wisst, wer er ist?«

»Ihn bei lebendigem Leib häuten«, sagte Wilson mit unbewegter Stimme. Es fuhr mir wie ein Schock in den Magen. Ich starrte ihn an und musste an den Tag im Sun Bowl denken, als er vorbeigefahren war, während wir auf den Schaukeln saßen. Als er meine Miene sah, musste er lachen. »Entspann dich. Ich will einfach nur wissen, wer der Scheißkerl ist.«

Er ging die Einfahrt entlang und verschwand im Wald, in Richtung des Wegs, den Sage genommen hatte. Ein paar Sekunden später hörten wir, wie ein Motorrad angelassen wurde. Wilson musste durch den Wald gekommen sein und sein Motorrad dort abgestellt haben. Warum hatten Sage und ich ihn nicht gehört, als wir oben im Königreich saßen? Er war mir unangenehm. Alle hielten sich instinktiv von ihm fern. Manche Bäume – allelopathische Bäume, die Echte Walnuss beispielsweise – vergiften alles, was in ihrer Umgebung wächst. Über ihre Wurzeln, die abgefallenen Blätter und die Rinde geben sie eine chemische Substanz ab, die alles Leben ringsum auslöscht. So war für mich auch Wilson, seine Nähe zu uns bedeutete Gift und Gefahr. Wir hatten keine Ahnung, wo er gewesen war. In einem Jugendgefängnis, in der Geschlossenen, in einer Besserungsanstalt? Ich gab ihm immer noch die Schuld an Mr Franklins Tod. Aber konnte man mit einem Luftgewehr wirklich eine Katze töten? Ich war selbst schon häufig mit Luftgewehren beschossen worden. Früher hatten die De Martino-Jungs uns immer aufgelauert, wenn wir auf dem Weg zum Sun Bowl bei ihnen vorbeikamen, und auf uns geschossen. Ich war am Hintern getroffen worden und hatte blaue Flecke davongetragen, aber durch die Haut waren die runden Metallgeschosse nie gegangen. Vielleicht hatte Wilson eine andere Luftdruckwaffe verwendet, vielleicht aber auch eine echte. Marie besaß eine Luftpistole, mit der man Federbolzen abschießen konnte, eine Marksman, damit konnte man eindeutig ein Tier verletzen oder auch töten. Außer mir wusste niemand davon. Sie hatte Dad ewig damit in den Ohren gelegen. Manchmal gingen wir zum Schießen in den Wald, hielten die Marksman ansonsten aber im Schrank in unserem Zimmer versteckt.

»Marie, was ist, wenn Wilson Mr Franklin getötet hat? Warum hängst du mit dem rum?«

»Das ist doch alles nur Gerede. Wenn man ihn besser kennt, ist er gar nicht so schlimm. Er hatte eine beschissene Kindheit.«

»Und?«

»Libby, er hilft uns.«

Wir hörten Wilsons Motorrad wieder aufheulen, als er vom Waldweg auf den Forge Mountain Drive abbog. Er war nur noch ein schwarzer Fleck, als er mit Vollgas oben an der Straße vorbeischoss, das Vorderrad in der Luft.

»Gott, was für ein Arschloch«, brummte ich. »Bitte sag mir, dass du nicht mit ihm auf diesem Ding fährst.«

Marie antwortete nichts darauf, und wir blieben noch ein paar Minuten nebeneinander stehen und sahen zu, wie Mr Walker perfekte Kreise in seinen Rasen mähte.

Licht zwischen den Bäumen

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