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ОглавлениеEine Tür fiel leise ins Schloss. Ich schreckte auf. Im Zimmer war es dunkel. Neben mir lag Ellen und schlief. Sie hatte fast den ganzen Tag geschlafen. Im Bett schräg gegenüber sah ich, wie sich Maries Körper mit ihren Atemzügen sanft hob und senkte. Wieder ein Geräusch auf dem Flur, das Knarren von Bodendielen. Ich beugte mich vor, lauschte angespannt. Ein leises Wimmern. Beatrice. Dann hörte ich die Stimme meiner Mutter: »Sch-sch-sch.« Sie trug Beatrice nach draußen, das machte sie manchmal, dann ging sie mitten in der Nacht mit ihr fort. Sie ließ den Wagen im Dunkeln bis zur Straße rollen, bevor sie den Motor startete. Es war schon schlimm genug, dass Marie heimlich aus dem Fenster kletterte und sich an der Außenmauer hinunterhangelte, aber wenn sich auch unsere Mutter nachts mit der halb schlafenden Beatrice aus dem Haus schlich, gab mir das ein Gefühl, als würde alles ins Rutschen geraten, als würde das Haus kippen und im Boden versinken. Alles entglitt mir, stürzte ab, ich konnte mich an nichts mehr festhalten. Mit weit offenen Augen legte ich mich wieder hin. Als der Wagen auf der Straße war, gingen die Scheinwerfer an, ihr Licht fiel auf die Bäume, Schatten wanderten über unsere Zimmerdecke und an der Wand entlang auf mich zu. Sie fuhren zu Bill.
Ich versuchte, wieder einzuschlafen, bewusst loszulassen, aber dann fuhr ich mit einem Ruck hoch, mitten im Fallen. Nie gelang es mir, einfach sanft zu versinken oder davonzuschweben. Immer fiel ich irgendwo herunter, vom Fahrrad, von einem Baum, vom Dach, und von diesem plötzlichen Sturz wurde ich schlagartig wach, noch vor dem Aufprall, und blieb mit dem Gefühl zurück, dass die Erschütterung dort unten weiter auf mich wartete. Ich versuchte es mit Schäfchenzählen, malte mir einen beruhigenden Ort aus, einen Wald, in dem ich durch das Blätterdach zum Himmel schaute. Aber jetzt nahm auf einmal der Barbie-Mann über mir Gestalt an, sein ausdrucksloses Gesicht, das glatte Haar. Keuchend und schweißgebadet saß ich im Bett. Wir hätten es unserer Mutter erzählen sollen. Sie hätte uns doch nie mitten in der Nacht allein gelassen, wenn sie gewusst hätte, was Ellen passiert war. Nicht mal für Bill.
Niemand von uns kannte Bill. Nur Beatrice. »Darum hat auch Beatrice die Kammer und nicht ich«, hatte Marie gesagt. »Damit Mom sich mit ihr aus dem Haus schleichen kann, ohne dass wir alle wach werden.«
»Aber Beatrice mag das doch gar nicht. Das hat sie mir tausend Mal erzählt.«
»Na und?«, gab Marie zurück. »Mom benutzt sie halt. Mit Beatrice setzt sie Bill schachmatt.«
Ich stellte mir Beatrice als Schachfigur vor, die von Erwachsenenhänden bewegt wurde: ihre wirren Locken, die Sommersprossen auf ihrer Nase, ihre runden rosigen Wangen und die Zahnlücke, wie sie immer versuchte, es allen recht zu machen, und in einem Spiel hin- und hergeschoben wurde, dessen Regeln sie nicht kannte.
Marie drückte sich manchmal sehr drastisch aus. Sie sagte, sie könne die Dinge aus nüchterner Distanz betrachten, weil sie aufgehört habe, unsere Mutter zu mögen.
»Jetzt schau nicht so entsetzt, Libby. Das heißt ja nicht, dass ich sie nicht mehr lieb habe. Aber dafür muss ich sie doch nicht auch noch mögen, scheiße noch mal.«
Ich weiß nicht mehr, wann ich das erste Mal von Bills Existenz erfahren habe. Erst gab es ihn nicht. Dann war er da. Er war das leise Atmen am anderen Ende der Leitung, ein Schweigen erst, dann eine mir unbekannte Stimme: »Ist deine Mutter zu sprechen?« Mom hatte nie bestritten, dass es ihn gab, und auch nicht, dass er vielleicht Beatrices Vater war. Wahrscheinlich hatten Marie und Thomas mir das alles erklärt. Das weiß ich nicht mehr. Ich wusste nur, dass ich mit niemandem darüber sprechen durfte, vor allem nicht mit Dad, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass irgendwer es mir verboten hätte.
Zu Hause machten wir uns vor unserer Mutter über Bill lustig. Wir schrieben ihm alle möglichen Berufe zu: LKWFahrer, Klempner, Milchmann, Vertreter für alles von der Bibel bis zum Steakmesser. Wir schnappten uns Thomas’ Walkie-Talkies und spielten »Bill«, wann immer unsere Mutter in Hörweite war.
»Breaker, Breaker 10-4, hier spricht Fettkloß Bill. Verstehen Sie meinen Codenamen? Ich bin so verdammt fett, ich schaffe es nicht mal mehr aus meinem Laster, um meine Tochter zu sehen.«
»Roger, Fettkloß Bill. Sie sind echt potthässlich. Und wie ich höre, auch als Vater eine Niete.«
Dafür benutzten wir einen echten Hinterwäldlerakzent. Beatrice sah uns zu und lachte mit, als würde sie gar nicht merken, dass wir uns über ihren Vater lustig machten. Wenn wir im Dunkeln an einem Laden mit blinkendem Neonschild vorbeifuhren, in dem der Name Bill vorkam, riefen wir alle: »Ist er das? Ist das Bill?« Egal, ob es sich um Bill’s Carpets, Uncle Bill’s Pancake House oder Whiskey Bill’s Bar and Grill handelte. Einmal sahen wir ein Plakat, das für einen Bill Bowie als künftigen Sheriff warb. Wir wollten von unserer Mutter wissen: »Ist er das? Will Bill jetzt Sheriff werden?« Sie gab keine Antwort, und wir deuteten ihr Schweigen als Zeichen. Daraufhin fingen wir an, für seinen Gegner zu trommeln, wir entwarfen Plakate und Slogans für ihn, marschierten vor ihrer Zimmertür auf und feuerten den anderen Mann an. Beatrice machte mit. Sie wusste nicht, ob der Bill, den sie kannte, als Sheriff kandidierte, wollte aber trotzdem nicht, dass er gewann.
Meistens schenkte Mom uns keine weitere Beachtung. Manchmal lachte sie über unsere Rateversuche, wenn wir wieder mit einem neuen Bill-Szenario ankamen, zum Beispiel, als Thomas spekulierte, Bill sei vielleicht der Mann, der bei McDonald’s unsere Bestellung entgegengenommen habe. Ihm war sein Namensschild aufgefallen: William.
Inzwischen spekulierten wir aber kaum noch über Bill, vor allem nicht vor unserer Mutter. Sie wirkte zu erschöpft dafür. Ich erwähnte Bills Namen so selten wie möglich, nicht einmal mehr vor den anderen, weil ich das Gefühl nicht loswurde, Dad zu hintergehen, wenn ich darüber nachdachte oder es als gegeben hinnahm. Er hatte gewusst, dass Beatrice nicht seine Tochter war, dass sie gar nicht seine Tochter sein konnte, trotzdem hatte er sich immer so verhalten, als könne sie nur von ihm sein. Mir war klar, dass er nie auf die Idee gekommen war, wir könnten Bescheid wissen. Es jetzt, wo er tot war, laut auszusprechen, grenzte an Verrat.
»Ich habe fünf Sprösslinge«, hatte er immer gesagt. »Vier starke Frauen und einen kleinen Mann.« Und wir wurden bei seinen stolzen Worten immer ein Stückchen größer, ob er sie nun vor einer Kellnerin im Diner äußerte, vor einem Kunden, dessen Rasen er mähte, oder vor einem anderen Gast, der in einem der irischen Pubs, in die er uns manchmal mitnahm, sein Bier trank.
Marie und Thomas meinten, schon lange bevor Bill auf der Bildfläche erschien, sei es zwischen Mom und Dad nicht mehr gut gelaufen, sie hätten sich längst getrennt und ich läge falsch, wenn ich das, was mit Dad passiert war, mit Bill in Verbindung brachte. Dad bewahrte einen Teil seiner Gerätschaften noch in unserer Garage auf, und es kam vor, dass er uns morgens abholte, um uns zur Schule zu fahren, aber er übernachtete nicht mehr bei uns. Manchmal wusch er sich in der Waschküche neben der Garage, vor allem, wenn Mom nicht zu Hause war. Hinter dem Fahrersitz seines Pickups lag immer ein Stück in Papier gewickelte Seife bereit. Er verwendete grundsätzlich die Marke Coast, sie war hellblau und roch wie er. Wir verwendeten parfümfreie Seife von Dove. Manchmal kam ich abends wieder ins Haus, nachdem ich mich irgendwo auf dem Berg herumgetrieben hatte, und in der Waschküche roch es nach seiner Seife.
Damals zog er viel herum, und ich weiß gar nicht, ob er eine feste Wohnung hatte oder einen Ort, an den er regelmäßig zurückkehrte. Er hatte sich ein Zeltdach für seinen Pickup besorgt, und wenn wir morgens auf die Ladefläche kletterten, um uns zur Schule fahren zu lassen, war die Schaumstoffmatratze noch ausgerollt. Er habe das Zelt gekauft, damit wir auf der offenen Ladefläche nicht nass und vom Wind zerzaust würden, sagte er. Inzwischen war ich mir da nicht mehr so sicher. Es fiel mir schwer, es auch nur auszusprechen, Marie oder Thomas zu fragen: »Glaubst du, er hat öfter im Pickup übernachtet?«
Unsere Mutter sorgte dafür, dass Beatrice immer in ihrer Nähe war und hielt sie so auch ein bisschen von uns fern. Beatrice war nie mitgekommen, wenn Dad uns auf die Ladefläche des Pickups packte und mit uns zu Burger King fuhr, wo es riesige Milkshakes gab, oder ins Diner, wo wir alle Kaffee tranken und ohne Aufpreis nachgeschenkt bekamen. Sie war auch noch zu klein gewesen, um ihm bei der Arbeit zu helfen. Das eine Mal, als wir nach New York gefahren waren, wo er ein neues Leben anfangen wollte, und bei ihm übernachtet hatten, hätte Beatrice eigentlich dabei sein sollen, aber uns war klar gewesen, dass unsere Mutter das nie zulassen würde.
Beatrice wurde anders behandelt, aber wir nahmen es ihr nicht übel. Wir beneideten sie nicht darum, mit unserer Mutter in einem Zimmer zu hocken oder aus dem Bett geholt zu werden, um zu einem Mann zu fahren, den wir anderen gar nicht kannten und den ich wider besseres Wissen für alles verantwortlich machte, was passiert war. Wenn Beatrice von den Besuchen bei Bill zurückkehrte, war sie immer sehr still. Sogar noch, wenn wir ihr ein Eis spendierten.
»Ich mag seine Hände nicht«, hatte sie mir eines Nachts ins Ohr geflüstert, als wir zusammen im Bett lagen.
»Wessen Hände?«
»Die von Bill.«
»Und warum nicht?« Ich fand es verstörend, dass sie das sagte. Sie war mitten in der Nacht zu mir ins Bett gekrochen, das machte sie hin und wieder, dann kletterte sie über Ellen hinweg, die auf der unteren Betthälfte schlief. Jetzt lag sie da, eingekuschelt und zu mir gedreht. Sie hatte die Angewohnheit, sich dicke Haarsträhnen um den Finger zu wickeln. Wir zogen sie immer damit auf, dass ihre Locken eigentlich daher kamen. Manchmal, wenn ich neben ihr lag, machte sie das unwillkürlich auch mit meinen Haaren. Marie meinte, an den Ticks, die Beatrice entwickelte, könne man sehen, wie belastet sie sei.
»An einer Hand fehlt ihm vorne an den Fingern ein Stück. Die sind einfach nur ganz dick und rund an den Knöcheln.«
»Oh.« Ich schwieg. Ich wollte nicht zu viel fragen, weil Beatrice sich immer gleich aufregte, wenn wir sie nach diesen Besuchen ausquetschten. Marie meinte, es sei doch das Letzte, dass Mom einem Kind ein solches Geheimnis aufbürdete, ihr verbot, mit ihren Geschwistern darüber zu reden, und sie mitten in der Nacht zu jemandem schleppte, den sie gar nicht sehen wollte. Nach Dads Tod hatte Mom sich ein gutes halbes Jahr nicht mehr mit Bill getroffen. Er rief nicht mehr bei uns an, und sie schlich sich auch nicht mehr davon. Aber gleichzeitig war es, als gäbe es sie gar nicht mehr. Marie und Thomas kochten für uns, und Mom lag entweder im Bett oder war bei ihrer Schicht im Krankenhaus, monatelang tat sie nichts anderes als schlafen, arbeiten und wieder schlafen. Ihre Augen waren rot verschwollen. Trauer ist anstrengend, hatte Gwen gesagt, die Therapeutin, zu der wir dann doch nicht gegangen waren. Ich hätte sie gern verbessert. Sie sah das falsch. Unsere Mutter hatte sich von unserem Vater scheiden lassen. Sie hatte sich für jemand anderen entschieden, den sie vor uns geheim hielt. Auch wenn es ihr inzwischen besser ging und Bill ganz offensichtlich wieder aktuell war, schien es doch, als könnte sie uns, ihren vier älteren Kindern, nicht mehr in die Augen sehen.
Ich überlegte, ob wir irgendwelche Männer kannten, denen Teile der Finger fehlten. Wir vermuteten, dass Bill nicht am Berg wohnte, weil Beatrice erzählt hatte, sie würden meistens denselben Weg fahren, den wir nahmen, wenn wir mit Thomas zum Schwimmen gingen: vorbei am Restaurant Guernsey Cow, am Clogs- und am Dekoladen und dann weiter auf dieser Straße, vorbei an den Leuten mit dem Pferdewagen, sprich: die Route 30 entlang, durch die Pennsylvania-Dutch-Region, Richtung Wilmington im Bundesstaat Delaware.
»Vielleicht gehört Bill ja zu den Amischen«, witzelte Thomas, und Marie musste so lachen, dass ihr die Milch, die sie gerade trank, aus der Nase lief. Ich hatte immer noch die Befürchtung, Bill könnte ein Bekannter von uns sein, womöglich war ich sogar einmal nett zu ihm gewesen, weil ich nicht wusste, wer er war. Marie meinte, der einzig denkbare Grund, warum unsere Mutter ihn immer noch geheim hielt, sei, dass er verheiratet sein müsse.
»Weißt du, was mit seinen Fingern passiert ist?«, fragte ich Beatrice. Ich dachte mir, zu wissen, wie er sie verloren hatte, könnte vielleicht ein Hinweis auf seinen Beruf sein. Sie lag neben mir im Dunkeln, drehte sich Löckchen in die Haare und sah zur Zimmerdecke hinauf.
Ich musste wohl doch eingeschlafen sein, denn ich hörte sie nicht nach Hause kommen. Am nächsten Morgen war Mom bereits mit Thomas zum Schwimmen gefahren. Die anderen waren unten – Ellen mit Beatrice auf dem Sofa, sie lang ausgestreckt, die Füße fast an Beatrice, die im Schneidersitz dasaß und ein Buch von Judy Blume las. Wir hatten Beatrice erzählt, Ellen sei auf ihrem Heimweg in der Dunkelheit hingefallen, weil sie durch den Wald gegangen sei, um schneller nach Hause zu kommen. Wir hatten ihr auch erklärt, dass Mom nichts davon erfahren dürfe, sie würde sonst sauer werden, weil Ellen durch den Wald gelaufen war. Beatrice hatte Stillschweigen gelobt. Thomas hatten wir dieselbe Geschichte erzählt. Ellen trug ein langärmeliges Tweety-Nachthemd, das die meisten ihrer Verletzungen verdeckte, bis auf die im Gesicht. Unsere Mutter hatte sie bisher noch nicht gesehen, aber falls sie nach den Schürfwunden fragen sollte, war unsere Geschichte hieb- und stichfest. Marie lag auf dem Sitzsack und las. Ellen triezte Beatrice.
»Wie war’s denn gestern? Wart ihr bei Bill?« Ihr Gesicht war kreidebleich, die Platzwunde unter dem Auge hatte sich schwarz verfärbt.
Beatrice las einfach weiter.
»Wie sieht er denn aus? So wie du?« Ellen wollte absichtlich gemein sein.
»Nein. Er ist groß und breit«, sagte Beatrice.
»Und was fährt er für ein Auto? Fahrt ihr manchmal mit seinem Auto irgendwohin?«
»Das habe ich dir schon hundert Mal erzählt. Er hat einen Pickup.«
»Trägt er einen Anzug, so wie Mr Walker, wenn er zur Arbeit geht, oder zieht er sich an wie der Klempner?«
»Er trägt Hemden mit ganz vielen Vierecken.«
»Kariert? So wie ein Cowboy?«, wollte Ellen wissen.
Beatrice zuckte die Achseln.
»Und wo wart ihr gestern Abend?«
»Du weißt doch, ich soll euch nicht erzählen, dass ich ihn gesehen habe. Wir haben in einem Lokal gesessen und was gegessen, und danach waren wir noch draußen auf dem Parkplatz.« Sie zog die Beine enger an den Körper.
»Herrgott, Ellen, lass sie in Ruhe«, sagte ich. »Solltest du dich nicht lieber ausruhen?« Ellen sah aus, als würde sie gleich losheulen.
Marie blickte von ihrem Buch auf. »Geh nach oben, Ellen. Nimm zwei von den Baby-Aspirin aus dem Medizinschrank. Aus dem Fläschchen mit dem rosa Deckel.«
Ellen stand auf und schleppte sich langsam die Treppe hoch; sie nahm immer nur eine Stufe auf einmal und hielt sich am Geländer fest.
Ich blieb im Wohnzimmer bei Beatrice und Marie sitzen, die beide in ihre Bücher vertieft waren. Die Bäume draußen spiegelten sich in dem cremeweißen Kachelboden, sodass es aussah, als wäre er ständig in Bewegung, die schaukelnden Zweige sorgten für einen raschen Wechsel von Licht und Schatten. Als das Telefon klingelte, zuckte ich zusammen.
»Ich geh schon«, sagte ich, obwohl sich sonst niemand gerührt hatte. Es war Sage.
»Charlotte fährt mich in ein paar Minuten zur Arbeit, aber vorher muss ich dir noch was erzählen.«
Ich ging mit dem Telefon in die Waschküche, damit die anderen mich nicht hören konnten. »Was denn?«
»Gestern Abend, oben am Turm, hat Abbey erzählt, Wilson wäre da gewesen, um ein paar Jungs zusammenzutrommeln – sie sollten ihm versprechen, irgendeinen Perversen mit ihm zu vermöbeln. Und dieser Typ, den sie sich vorknöpfen wollen, soll ein kleines Mädchen vom Berg angegriffen haben.«
Ich ließ mich auf den Stapel Schmutzwäsche sinken, der vor der Waschmaschine auf dem Boden lag.
»Großer Gott!«
»Du sagst es.«
»Hat er erzählt, dass wir es sind? Wusste Abbey, dass es um Ellen geht?«
»Ich glaube nicht. Das hätte sie mir gesagt.«
»Und haben sie’s gemacht?«
»Nein. Also, zumindest nicht gestern. Wilson meinte, er sei noch auf der Suche nach dem Typen. Aber er wollte schon mal wissen, ob sie ihm helfen. Dafür hat er ihnen ein paar Tütchen Gras gegeben und für danach einen Kasten Bier versprochen.«
»Warum macht er das?«
»Keine Ahnung. Aber er wird den Kerl sicher eh nicht finden.«
Mein Mund war so trocken, dass die Worte darin hängen blieben. »Wieso kann er uns nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Erzählt es eurer Mutter, Libby.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
Als ich mich hochrappelte, um den Hörer wieder aufzulegen, sah ich, dass ich auf Ellens schmutziger Schuluniform gesessen hatte, die voller Schlamm, Blut und Rollsplitt war. Sie hatte sie einfach dorthin geworfen. Die ganze Sache lief aus dem Ruder. Ich warf die Kleider in die Waschmaschine, stellte den Vollwaschgang ein und ging zurück ins Wohnzimmer. Dort lasen die anderen immer noch und ahnten nichts von dem Unheil, das uns drohte.
Ich nahm mir vor, Marie später davon zu erzählen, damit sie Wilson zurückpfiff und er uns endlich wieder in Ruhe ließ. Jetzt rollte ich mich neben Beatrice auf dem Sofa zusammen und zog die Knie an die Brust. Ich lag da, spürte den Drillichbezug an der Wange, betrachtete die Muster auf dem Fußboden. Versuchte, ruhiger zu atmen. Als Dad schon nicht mehr bei uns wohnte, hatte er einmal fast eine Woche auf diesem Sofa verbracht, weil er sehr krank war. Es ließ sich ausziehen, und wir hatten ihm mit Laken und Decken ein Bett zurechtgemacht. Mom hatte einen Arzt gerufen. In diesen Tagen fühlte sich alles plötzlich wieder richtig an, Mom, die auf dem Rand des Bettsofas saß, ihm das Fieberthermometer unter die Zunge schob und ihm kühle Kompressen auf die Stirn legte, wir alle, die wir uns um ihn kümmerten. Auch wenn ich wusste, dass es nur eine Illusion war.
Im Lauf der Woche, als es ihm wieder besser ging und er sich aufsetzen konnte, hatten wir uns alle um ihn herum gekuschelt, und er hatte uns vorgelesen. Selbst Thomas, der Dad gegenüber oft sehr befangen war, hatte sich an den Rand gelegt. Dad konnte ganze Passagen von Goldsmiths Gedicht »Das verödete Dorf« auswendig. Oft zitierte er diese Zeilen – »Wo Menschen sinken und wo Reichtum steigt!« –, wenn wir wieder einmal vom Reichsein redeten, vom großartigen Haus oder der großartigen Arbeitsstelle irgendeines anderen Vaters. In dieser Woche, als er krank war, las er uns »Das Lied des irrenden Aengus« vor, ein Gedicht von William Butler Yeats, das er liebte. Wir fünf lagen mit ihm auf dem Ausziehbett, als wäre es ein Boot, auf dem wir alle Schutz suchten, während das Meer um uns tobte. Bei der letzten Strophe klang seine Stimme ganz anders, als würden ihn die Verse immer wieder anrühren. Ich sah vor mir, was die Wörter beschrieben, das »hohe, gesprenkelte Gras«, das Silber und das Gold. Ich hatte mir die Strophe auf die erste Seite meines Baumbuchs geschrieben. Jedes Mal, wenn ich an die Zeilen dachte, sah ich Dad auf einer sonnengoldenen Wiese vor mir, wie er durch das hohe Gras ging, immer auf der Suche.
»Nicht mal eine Totenwache haben sie uns halten lassen«, hatte Tante Rosie geklagt, und der Schmerz darin zeigte mir, dass wir einen furchtbaren Fehler begangen hatten, einen, den wir nie wieder gutmachen konnten. Und wieder wünschte ich mir, wie schon so viele hundert Male vorher, ich hätte in dem Moment bei ihm sein können, als er starb, allein und weit weg von uns, und ihm etwas sagen können, um ihm klarzumachen, dass er geliebt wurde, auch wenn wir in unserer Familie nie über so etwas sprachen.
Eine Wolke wanderte über den Wohnzimmerboden, und der Raum verdunkelte sich. Ich sah auf. Marie las immer noch, Beatrice hatte sich mit dem Buch auf den Knien zurückgelehnt.
»Ist das gut?«, fragte ich sie.
Sie bewegte den Kopf langsam auf und ab, ohne die Augen von der Seite abzuwenden. Ich schaute zum Fenster. Der Wald sah nach Regen aus.