Читать книгу Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 10
ОглавлениеDie Stufen schienen unter ihren Füßen zu seufzen, als sie die breite Treppe hochging. Ellen Grue öffnete eine Tür nach der anderen, zu Maikens Zimmer, zum Gästezimmer, zur Abstellkammer. Dann betrat sie das große Elternschlafzimmer. Sie hatte eine Rolle Müllsäcke und einige kleinere Plastiktüten mitgebracht. Unten im Wohnzimmer durchsuchte Roger Høibakk das Bücherregal.
Man wusste nie, wonach man bei solchen Fällen suchte. Sie zog ihre Plastikhandschuhe an. Eine Frau war ermordet worden. Ein Wort auf einem Zettel, Kleinigkeiten und Details, nach allem musste sie Ausschau halten. Sie musste sich anstrengen, um ihr Bewusstsein vor diesen traurigen Dingen auszusperren. Die Stille in diesem großen Haus erinnerte sie an etwas aus ihrer eigenen Kindheit. Etwas, woran sie nicht denken wollte. Sie war eine, die im Nebel grub, die Fragmente fand und sie zu Spuren zusammensetzte.
In diesem Zimmer hatte die lebende Frau geschlafen und geliebt. Das Gefühl, dass sie etwas finden würde, war stark. Vermutlich war die Ermordete eine Station zu früh ausgestiegen. Warum war sie in Vinderen ausgestiegen und nicht in Gaustad, das nur wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt lag? Das war eines der Zeichen, das darauf hinweisen konnte, dass hier nicht zufällig ein Mörder zugeschlagen hatte.
Die großen Spiegelflächen der Türen am Schlafzimmerschrank ließen das Zimmer doppelt so groß aussehen. Neben den Schiebetüren stand ein schwarzes altes Klavier. Die Wände waren mit einer warmen geblümten, orangefarbenen Tapete bedeckt, und die Decke auf dem großen doppelten Bett aus Eichenholz wies dasselbe Muster auf wie die Tapete, nur waren die Farben auf der Decke vertauscht. Die schweren Vorhänge waren zurückgezogen, und im Erker stand ein tiefer Sessel mit grünem Seidenbezug.
Ellen Grue schaute in die Nachttischschubladen, öffnete den Schrank und sah eilig Kleider und Schuhe durch, dann fiel ihr Blick auf eine alte Kommode, auf der eine Lampe mit Spitzenschirm und weißem Lampenfuß stand, geformt wie eine Mutter mit Kind. Sie zog die Plastikhandschuhe besser zurecht. Drei CDs ohne Cover und einige Seidenrosen mit Klammern, um an Kleidern befestigt zu werden, lagen neben der Lampe.
Die Ermittlerin öffnete die oberste Kommodenschublade. Ein schwacher Großmuttergeruch quoll heraus. Die Schublade enthielt neue und alte Dinge, die ordentlich aufeinander gestapelt waren. Fotos eines blonden Kindes. Geblümte Mappen mit Briefpapier, alte Lippenstifte, Taschenbücher, Briefumschläge mit alten Zehnkronenscheinen und einige kleine Spitzenhandschuhe. Links, sorgfältig aufeinander gelegt, fand sie einen Stapel Papiere. Ellen Grue nahm sie vorsichtig heraus, ging zum Bett und verteilte die Blätter auf der glatten Bettdecke. Sie sah die Papiere durch. Es war ein Brief von Siv Ellens alter Mutter, der Ton war ein wenig vorwurfsvoll. Der Brief war im Oktober datiert und verriet, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nicht das Beste gewesen war. Hier sitze ich jetzt im Pflegeheim und denke an Euch. Es kann nicht immer nur die Sonne scheinen, liebes Kind. Der arme Axel ..., stand dort in schräger Damenschrift, Du kannst doch wenigstens versuchen, dich zusammenzunehmen. Jeder Mann macht im Laufe einer langen Ehe einmal einen Fehler. Vergib ihm. Vater lässt grüßen. Deine Mutter.
Ellen Grue legte den Brief beiseite und betrachtete die Besitzerurkunde für das Haus und einen Antrag auf Trennung, der nur von Axel Blad unterschrieben war.
Auf einem aus einem Kalender gerissenen Zettel stand in wütenden Filzstiftbuchstaben: Jetzt reicht es, Siv Ellen. Du musst aufhören, Maiken gegen mich aufzuhetzen. Du weißt selbst, dassdu mich nicht liebst. Ich gehe jetzt, alles andere klären wir dann später. Axel.
Dass es in den vergangenen Monaten in dieser Familie heftig zugegangen war, stand fest, dachte Ellen Grue und blätterte interessiert weiter in den Papieren.
Sie fand einen Brief, der offenbar von jemandem aus Siv Ellen Blads Orchester stammte. Obwohl es eigentlich nicht zu ihren Aufgaben als Technikerin gehörte, solche Briefe zu lesen, rechtfertigte sie das damit, dass es doch erlaubt sein müsse, Dinge auszusortieren, die für die Ermittlungen nicht von Interesse waren. Sie nahm den Brief, legte einen Müllsack auf den Sitz und setzte sich in den tiefen Sessel vor dem Fenster.
Liebe Ellen!
Es ist Dezember, liebe Ellen, der Weihnachtsmonat. Bei unserem letzten Abschied ist etwas mit mir passiert. Oder es war schon passiert. Es ist vielleicht passiert, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich weiß, du willst, dass wir nur Freunde sind. Du sagst, ich bin so jung und du fühlst dich so alt. Das kann ich verstehen, nach allem, was du durchgemacht hast. Trotzdem sehe ich jeden Abend, wenn ich schlafen gehe, deine Augen vor mir.
Aber ich will jetzt lieber über Musik sprechen. Unsere Ausgangsbasis, unsere gemeinsame Ausgangsbasis.
Denn wir haben doch recht, wenn wir sagen, dass die Musik Triebe in uns freisetzt, von deren Existenz wir gar nichts gewusst haben. Es ist so, als ob die Töne über unsere Körper marschieren, und vor allem war diese große Nähe da, als wir Chopin gespielt haben, nicht wahr – das Scherzo in B-Dur. Und dann habe ich viel darüber nachgedacht, was du über Geborgenheit gesagt hast. Dein Mann hat sie dir gegeben, aber dein musikalisches Universum hat er nicht gekannt. Er war für dich nur eine Art Vater, glaube ich. Oder irre ich mich da? Ich weiß doch nicht so viel über dein Leben mit ihm, über das Intime und solche Dinge. Aber kann ein Mann eine Frau wirklich lieben, wenn sie sich auf einem ganz anderen Planeten befindet?
Unser Raum ist der Orchestergraben. Wenn wir dort zwischen Bühne und Publikum sitzen, habe ich das Gefühl, dass du mir gehörst. Versteh das nicht falsch. Ich will dich niemals zu etwas zwingen. Aber für mich gehörst du mir.
Der Orchestergraben trennt Schauspieler und Publikum. Trennt das künstliche Leben vom wirklichen Leben. Ist ein dunkler Gürtel zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Ist ein Grab, in dem die Musik lebt.
Pavel
Ellen Grue erhob sich und steckte die Papiere in eine Plastiktüte. Jetzt reicht es, Ellen, hatte der Ehemann geschrieben. Solche schriftlichen Mitteilungen waren bei einer Ermittlung oft wertvoll. Auch der andere Brief, in dem stand, »ein Grab, in dem die Musik lebt«, war unheimlich, dachte sie und schickte Cato Isaksen eine SMS. »Hab vielleicht was gefunden«, schrieb sie und ging rasch und effektiv das restliche Schlafzimmer durch, ohne dass noch etwas von Interesse aufgetaucht wäre. Auf der Treppe kam ihr Roger Høibakk entgegen. »Ich hab einige ziemlich schwülstige Briefe gefunden«, sagte sie. »Vor allem zwei sind interessant. Von einem Musiker aus dem Orchester, unter anderem. Und du?«
Roger Høibakk schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er.