Читать книгу Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 5
ОглавлениеEr öffnete die Tür und betrat den Gang des Pflegeheims. In der Hand hielt er das blutige Glasherz. Es war Samstag, der 8. Januar. Es war 14:55 Uhr. Seine abgenutzten Turnschuhe schlurften über das Linoleum. Ein ekelerregender Geruch nach grüner Seife mischte sich mit dem fettigen Essensgestank. Ein schmales Fenster ließ einen Streifen kalten Lichtes durch sein buckliges Glas sickern. Draußen konnte er die Umrisse eines großen, blattlosen Baumes sehen.
Er würde sich niemals von dem Bild der toten Frau auf dem gefrorenen Boden befreien können. Diesen Anblick würde er auf ewig mit sich herumtragen müssen. Das Bild schob sich wie ein Foto vor seine Netzhaut: Die offenen Augen, das strömende Blut, der rosa Mantel und die schwarzen Stiefel. Nachdem er sie getötet hatte, war er neben ihr in die Hocke gegangen und hatte ihr den Schmuck abgenommen.
Er ging an drei Türen vorbei, dann blieb er vor der vierten stehen. Er drückte auf die Klinke und ging ins Zimmer.
Die alte Frau im Sessel am Fenster strahlte. »Ach, mein Lieber«, sagte sie und klatschte leise in die dünnen Hände, »du kommst?«
Er lächelte und ging zum Waschbecken. Die Tür fiel hinter ihm zu, dann war die Stille wieder da. Er drehte den Wasserhahn auf und spülte Blut von dem blauen Glasherz. Dann trocknete er es mit dem Handtuch ab, ging zu ihr, blieb stehen und legte für einen Moment die Ellbogen auf die Sesselkante. Die alte Frau drehte sich um, um zu sehen, was er da machte. Er schaute auf sie hinab, sah die nackte Kopfhaut zwischen den dünnen grauen Haarsträhnen. Er beugte sich vor, legte ihr den Schmuck um den dünnen runzligen Hals und ließ das kleine Silberschloss zuschnappen.
»Aber du Lieber«, sagte sie mit zitternder Stimme, hob die Hände und betastete den Schmuck.
»Für mich? Aber Weihnachten ist doch schon vorbei!«
»Ja«, sagte er. »Weihnachten ist schon vorbei. Aber du hast doch bald Geburtstag.« Er hätte mehr sagen können, aber er wusste, dass er nicht so viel zu sagen brauchte. Er hätte sagen können, das Glasherz sei für sie von ihm, weil sie ihm Flügel herbeigeträumt hatte, als er noch klein gewesen war. Und so hatte sie ihn gerettet, wenn die Angst kam, wenn es schwer war, ein Mensch zu sein. Oft dachte er, es wäre leichter, kein Mensch zu sein. Er könnte doch wegfliegen, denn sie hatte ihm die Flügel gegeben. Für immer.
Es war die Verletzung in ihm, die ihn böse gemacht hatte. Aber die alte Frau im Sessel hatte ihn wiederum daran gehindert, noch böser zu werden. Jetzt hob sie die Hand, und er beugte sich vor und fasste ihre zitternden Finger. Plötzlich merkte er, wie sein innerer Druck verflog, der heftige schmerzliche Druck, den er die ganze Nacht mit sich herumgeschleppt hatte. Jetzt gab es nur noch Leere, die ihn von innen her bedrängte. Er hob den Blick und starrte das kalte Sonnenlicht an, das durch das Fenster fiel und sich als dicker Streifen über den Boden zog. Bald würde auch dieser Tag in Dunkelheit übergehen.
Er hörte seine Herzschläge, ein leeres dumpfes Geräusch in seinem Brustkasten. Nichts würde wie früher sein, von nun an würde das Leben ihn mit einem boshaften Lächeln begrüßen und ihn mit einem Rachen voller spitzer Zähne anlachen. Er hatte das Gefühl, allein hier im Zimmer zu stehen und zu verschwinden. Er würde so weiß wie die Wände werden, so grau wie der Boden und so viereckig wie der abgenutzte Nachttisch neben dem Eisenbett. Er befand sich in einer Dunkelheit, die nur in eine andere Dunkelheit übergehen würde. Das einzige Wort, das ihm im Moment einfiel, war gewaltig. Gewaltig einsam. Gewaltig dunkel.