Читать книгу Was als Spiel begann - Ein Norwegen-Krimi - Unni Lindell - Страница 9
ОглавлениеEin frei laufender Hund lief vor den Torpfosten über die Straße. Cato Isaksen, Randi Johansen, Roger Høibakk und die Technikerin Ellen Grue trafen um 15:25 Uhr in zwei Wagen ein. Das schöne Haus war dunkel, nur die Lampen an den Torpfosten und in den schmalen Kellerfenstern bildeten gelbe Unterbrechungen des Zwielichts. Das Licht der Fenster legte sich als goldene Vierecke über das verwelkte Gras.
Sie stellten ihre Autos direkt vor dem Tor ab. Neben der Garage stand ein kleiner grauer Ford Escort älteren Jahrgangs.
»Ist Besuch da?«, fragte Cato Isaksen. Randi zog ihre Jacke fester um sich zusammen, als sie aus dem Auto stieg. Der Wintertag und Maiken Blads Schicksal setzten ihr mächtig zu. Die Wahrscheinlichkeit, dass der Vater des Mädchens der Täter war, war groß, das wusste sie aus Erfahrung.
Cato Isaksen ging zum Ford Escort und schaute durch die Fenster. Auf der Rückbank lagen Kleidungsstücke und leere Colaflaschen. Aus diesem Chaos schaute ein Kindersitz hervor. Auf dem Vordersitz lagen eine Einkaufstüte von G-Sport, einige zusammengeknüllte Schokoladenpapiere und mehrere leere CD-Hüllen.
»Ich hole den Schlüssel bei der Mieterin. Wartet hier«, sagte Randi Johansen zu Roger Høibakk und Ellen Grue. Sie würden alle Zimmer im Haus durchsuchen. In Schubladen und Schränken nach Spuren fahnden. Die Wahrscheinlichkeit, dass Siv Ellen Blad von irgendeinem zufällig vorbeigekommenen Wahnsinnigen erstochen worden war, war ebenfalls groß, und deshalb war es wichtig, alle Möglichkeiten in Betracht zu ziehen, ehe irgendwer Zeit hatte, Dinge verschwinden zu lassen.
Eine Treppe führte hinunter zu einer blau angestrichenen Tür in der dicken Kellermauer. An der Tür hing ein großer Tannenkranz mit drei rosa Weihnachtswichteln. Randi Johansen betrachtete die rosa Wichtel und drückte auf die Klingel, die auf unangenehme Weise schepperte. Cato Isaksen stieg hinter Randi die kurze Treppe hinunter. Die Tür wurde von einer großen dünnen Frau mit einem dunkelhaarigen Baby auf der Hüfte geöffnet. Sie war jung, vielleicht um die fünfundzwanzig. Sie hatte große Brüste und schmale Hüften und trug T-Shirt und hellblaue Jeans. Auf dem Kopf hatte sie eine rote Schirmmütze, und ihre mittelblonden Haare waren zu einem langen Pferdeschwanz gebunden. »Jeanette Myren«, stellte sie sich vor, ohne die Hand auszustrecken. Sie wusste offenbar, wen sie vor sich hatte. »Kommen Sie rein«, sagte sie und fuchtelte hektisch mit der Hand. Ihre ganze Erscheinung hatte etwas Fieberhaftes. »Maiken ist hier«, fügte sie hinzu, ohne Atem zu holen. »Kommen Sie rein«, sagte sie dann noch einmal und verschwand aus der Türöffnung.
Die Ermittler betraten den kleinen Windfang. Das Kind hatte den Finger in den Mund gesteckt. Die Kleine trug ein rotes Kleid und hustete heiser. Ihr Gesicht war fieberheiß und die braunen Augen glasig. Aus der Nase strömte blanker Rotz, den sie mit der Faust auf ihrer Wange verteilte.
Randi Johansen betrat das kleine Wohnzimmer. Maiken Blad saß zusammengekrümmt in einem großen Korbsessel, unter einer Decke. Vor ihr stand ein halb leerer Teller mit einer hellen Suppe. Sie stand nicht auf, als Randi Johansen auf sie zuging und sich vor sie hockte.
Ein junger Mann mit halblangen braunen Haaren und einem schwarzen T-Shirt mit aufgedrucktem Totenkopf saß auf dem türkisen Schlafsofa und starrte einen riesigen Flachbildschirm hinten in der Ecke an. Er schien nicht grüßen zu wollen, sondern nuckelte einfach weiter an einer Zigarette.
Cato Isaksen war beeindruckt von Randi Johansens Fürsorge für Maiken Blad. Sie nahm ihre Hand, streichelte sie mehrere Male, wie um sie zu wärmen. Dann erzählte sie, dass der Großvater aus Porsgrunn unterwegs sei. Maiken war deutlich erleichtert darüber, dass er kommen wollte, im nächsten Moment aber riss sie ihre Hand zurück und erklärte wütend, dass sie allein zurechtkommen könnte. Randi richtete sich auf. »Du musst mir jedenfalls den Hausschlüssel geben«, sagte sie. »Da oben warten ein paar Kollegen darauf, dass sie reinkönnen.« Maiken Blad fischte brav den Schlüssel aus der Hosentasche und reichte ihn Randi Johansen. Danach ballte sie ihre Hände auf ihren Knien zu einer harten Faust.
In der kleinen Kellerwohnung herrschte eine behagliche Wärme. Die Steinwände waren weiß angestrichen. Ein gerahmtes rosa und gelbes Plakat hing an der einen Wand. Glücklich ist der, der war, ehe er wurde, stand oben in blauer Schrift. Das Bild zeigte ein Kind auf einem Hof, ein Kind, das auf dem Dach saß und zu den Sternen emporschaute.
Ein hoher Ölofen stand mitten im Zimmer, neben einem Laufställchen mit rosa Boden. Die Wohnung war ansonsten sparsam möbliert, auf dem Boden lagen immerhin bunte Flickenteppiche. Das türkise Schlafsofa war abgenutzt, und am einen Ende waren saubere Kleider aufgestapelt. Ein verkommener, ein Meter hoher Weihnachtsbaum stand auf einem Hocker. Vertrocknete Tannennadeln lagen auf dem Boden darunter verstreut. An der Wand über dem Sofa hing ein vergrößertes Foto eines weißen Hauses neben einer kleinen Scheune. Das Bild war mit einem breiten geschmacklosen Holzrahmen gerahmt. Ein brauner Couchtisch und ein Holzstuhl bildeten das restliche Mobiliar, neben dem Korbsessel, in dem Maiken saß.
Jeanette Myren bat den Jungen, die Kleider vom Sofa zu entfernen. »Dann können Sie sich setzen«, sagte sie. Die Kleine fing an zu schreien. »Roberta ist nicht ganz gesund«, sagte die junge Mutter verlegen.
Cato Isaksen nickte verständnisvoll, dann wandte er sich dem Jungen zu, der widerstrebend seine Zigarette im Aschenbecher ausdrückte, aufstand und ihm die Hand hinhielt. »Remy Steen«, sagte er düster. »Ich wohne nicht hier, wollte nur vorbeischauen.« Er bückte sich, hob die beiden Kleiderstapel hoch und ging auf die Tür zu, die ins Schlafzimmer führte. Jeanette Myren griff nach einem gehäkelten Pullover, der auf dem Sofa liegen geblieben war.
Randi Johansen kam zurück. Die Luft war schwer von grauem Zigarettenrauch, deshalb ließ sie die Wohnungstür offen stehen. Maiken Blad starrte noch immer apathisch ihre Hände an. Jeanette Myren schob Cato Isaksen den Holzstuhl hin, und er setzte sich an den Tisch. Das Kind jammerte noch immer. Die junge Mutter reichte es an Remy Steen weiter und bat ihn, in die Küche zu gehen und der Kleinen eine halbe Banane zu geben.
»Wie denken Sie über das, was geschehen ist?«, fing Cato Isaksen an und sah Jeanette Myren an. Er hörte sofort, wie idiotisch diese Frage klang.
»Wir stehen natürlich unter Schock«, sagte sie rasch. »Es ist einfach unfassbar, dass hier so etwas passieren kann. Ich meine, das hier ist Oslo West, das beste Westend. Ich habe gestern noch mit Siv Ellen gesprochen, ehe sie in die Oper gefahren ist. Da war alles in Ordnung. Ich lud gerade das Auto ein, ich wollte übers Wochenende zu meinen Eltern nach Hamar. Ist sie vergewaltigt worden?«
Die Frage blieb in der Luft hängen. Maiken schlug die Hände vor den Mund, und Jeanette Myren ging auf, was sie da gesagt hatte. »Tut mir leid«, sagte sie, »ich dachte nur ...«
»Wir können diese Fragen noch nicht beantworten«, sagte Randi Johansen ruhig. »Ganz einfach, weil wir das selber noch nicht wissen. Deshalb sind wir hier, um euch um Hilfe zu bitten. Vielleicht wisst ihr etwas. Einzelheiten, Dinge, die sie gesagt hat, und so weiter. Dinge, die ihr nicht so wichtig gefunden habt.«
Jeanette Myren sah Maiken Blad an, dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Wenn Sie am Wochenende zu Ihren Eltern wollten, warum sind Sie dann hier?«
Jeanette Myren schluckte, dann schüttelte sie den Kopf. »Meine Mutter und ich«, sagte sie rasch, »wir haben uns gestritten, und da bin ich zurückgekommen.«
»Aber es war doch sicher ein total zufälliger Mörder?« Maiken Blad räusperte sich. »Es ist doch bestimmt keiner, der vorhatte, Mama umzubringen. Ich meine ... wieso denn auch?«
Remy Steen kam aus der Küche zurück. Er setzte das rotgekleidete Kind auf den Schoß der Mutter. Dann schloss er die Wohnungstür.
Jeanette Myren rückte die Kleine besser auf ihren Knien zurecht.
»Aber ihre Tasche ist doch verschwunden. Danach habe ich einen Polizisten gefragt.« Maikens Stimme war kaum zu hören. »Es muss also jemand gewesen sein, der es auf ihr Geld und ihr Telefon abgesehen hatte.«
»Hatte sie viel Geld in ihrer Tasche, weißt du das?« Randi Johansen beugte sich ein wenig vor.
»Nein«, schluchzte Maiken Blad. »Mama hatte fast gar kein Geld.«
Jeanette Myren setzte sich auf dem Sofa gerade, und Remy Steen zündete sich mit selbstverständlicher Miene eine neue Zigarette an. Die Kleine zappelte auf dem Schoß der Mutter, und die junge Mutter hob sie eilig hoch und setzte sie auf ihr anderes Knie. Dann bewegte sie sich rhythmisch hin und her, um das Kind zu beruhigen. Zugleich zeigte sich in ihrer Haltung eine kleine Veränderung, als befänden die Ermittler sich plötzlich auf verbotenem Terrain. Gleich darauf wussten sie, warum.
»Sie musste diese Kellerwohnung an mich vermieten«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass sie große Lust hatte, Fremde ins Haus zu lassen. Aber wir haben uns dann trotzdem miteinander angefreundet. Ich glaube eigentlich, dass Siv Ellen ein bisschen einsam war. Wir haben oft Wein zusammen getrunken. Ich habe uns wirklich als Freundinnen betrachtet, obwohl sie viel älter war als ich.«
Es war deutlich, dass diese Behauptung Maiken Blad nicht gefiel.
»Es ist doch klar, dass sie nicht viel Geld hatte«, sagte Jeanette Myren jetzt. »Dieses Haus hier ist ja mit anderthalb Millionen beliehen.«
Cato Isaksen musterte sie interessiert. Es war deutlich, dass Jeanette Myren das Gefühl hatte, ein wenig zu viel gesagt zu haben. »Ja, nicht, dass mich das etwas anginge, aber für sie war das doch ein Problem.«
»Das war, weil Papa ausgezogen war und Mama das Haus behalten wollte«, sagte Maiken Blad mit monotoner Stimme. »Papa war wütend und meinte, Mama habe nie gelernt, wie man sich benimmt, sie sei verwöhnt und interessiere sich nur für Luxus und so. Aber das stimmt nicht. Sie wollte das Haus meinetwegen behalten.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, und sie schaute zur Decke hoch.
»Was ist das da für ein Haus?«, fragte Cato Isaksen und zeigte auf das Bild über dem Sofa.
»Zu Hause«, sagte Jeanette Myren kurz. »Unser kleiner Hof bei Hamar.«
»Ihre Eltern leben also noch immer dort?«
»Ja.«
»Betreiben die den Hof noch, meine ich.«
»Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Mein Vater war auch Feuerwehrmann«, sagte sie. »Aber jetzt ist er in Rente«, fügte sie hinzu und wirkte plötzlich unruhig. »Sie haben die Felder verkauft.«
»Wie viel bezahlen Sie hier an Miete?« Randi Johansen sah die junge Mutter an.
»Ich bezahle sechstausend pro Monat, und das, obwohl ich Mäuse in der Waschküche hatte«, sagte sie verdrossen.
»Das bezahlt Mama auch an Zinsen«, sagte Maiken Blad.
Seltsam, wie viel die plötzlich über die Finanzlage der Toten wissen, dachte Cato Isaksen und musterte Jeanette Myren. »Kannten Sie Siv Ellen Blad schon, ehe Sie hier eingezogen sind?« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe über meine Schwester von der Wohnung erfahren. Ich arbeite gleich hier um die Ecke, in der psychiatrischen Klinik, deswegen ist sie ideal gelegen. Ich brauche nur ein paar hundert Meter zu gehen. Ich putze nur«, fügte sie leicht verlegen hinzu. »Ich will eine Ausbildung machen, wenn Roberta größer ist.«
»Und Sie?« Cato Isaksen nickte Remy Steen zu.
»Im Moment nichts Besonderes«, sagte der kurz. Er schien sich zu wünschen, dass diese Vorstellung bald ein Ende nähme.
Cato Isaksen konnte sich nicht beherrschen. »Sie sind also nur eine Art Klette«, sagte er ironisch.
»An den Wochenenden hilft er mir mit dem Kind und so«, sagte Jeanette Myren rasch.
»Ach?«
»Ja, wir sind befreundet, er passt ab und zu auf sie auf. Und ich kann sein Auto leihen. Wie gestern, als ich nach Hamar gefahren bin.«
»Aber ich wechsele keine Windeln«, sagte Remy Steen.
»Und wo waren Sie am Wochenende?«, Cato Isaksen sah ihn an.
»Zu Hause. Ich wohne in der Arendalsgate.«
»Wie alt sind Sie?«
»Neunzehn«, sagte er rasch. Cato Isaksen sah Jeanette Myren an. »Ich bin dreiundzwanzig«, sagte sie und fügte hinzu: »Wir sind nur Freunde.«
Remy Steen zog wütend an seiner Zigarette und stieß die Luft aus. Cato Isaksen musterte ihn gereizt.
Randi Johansen, die selbst ein Kind von drei Jahren zu Hause hatte, bemerkte, Rauchen sei vielleicht nicht so ideal, wenn die Kleine danebensitze. Remy Steen schaute seine rechte Hand an, hob sie und machte noch einen Zug, dann drückte er mit harten Bewegungen die Zigarette in dem großen Aschenbecher aus.