Читать книгу Der Salamander - Urs Schaub - Страница 10
ОглавлениеSECHS
Tanner erwachte mit demselben Gefühl der Beunruhigung, mit dem er eingeschlafen war.
Im Schlaf verwandelte sich dieses Unbehagen in ein zähes, klebriges Gespinst, das ihn ganz und gar umwickelt hatte, und er konnte sich noch so viel herumwälzen, es hielt ihn die ganze Nacht fest in seinem Griff. Erst ganz früh am Morgen schien es sich wie ein Nebel aufzulösen, und er konnte immerhin noch eine Weile tief und fest schlafen.
Nachdem Lara Wille bis weit über Mitternacht ihren Fall (es war natürlich bereits ihr Fall) referiert hatte, und er ihr ein paar Ratschläge hatte geben können – nämlich wie man am gescheitesten an so was nicht herangehen sollte –, bequemte sie sich dann endlich, mit der angekündigten Information über Jean D’Arcy herauszurücken. Das war ja immerhin die eigentliche Begründung ihres Treffens gewesen.
Zuerst einmal hatte sie den Sachverhalt seiner Verhaftung vor über fünf Jahren geprüft und bestätigt erhalten. Jean D’Arcy sei tatsächlich an einem kleinen Grenzübergang zwischen Frankreich und Spanien von den spanischen Behörden wegen Besitzes und versuchten Schmuggels von Kokain im Wert von zweihundertfünfzigtausend Franken verhaftet worden. Er sei abseits der großen Grenzübergänge zu Fuß über die Grenze gegangen. Ein Grenzübergang in den Bergen, irgendwo in den Pyrenäen, wohlgemerkt! Auch dies sei doch merkwürdig und auffällig, meinte die frischgebackene Kriminalistin. Er sei dann ohne viel Federlesens zu sieben Jahren Haft verurteilt worden und wegen guter Führung nach fünf Jahren entlassen und abgeschoben worden. Nach Spanien dürfe er allerdings nicht so schnell wieder einreisen.
An dieser Stelle hatte sie kurz Atem holen müssen, was Tanner eine vorsichtige Anmerkung erlaubt hatte, im Sinne von … viel Anderes habe Jean D’Arcy ja auch nicht behauptet.
Ja, schon, hatte sie gekontert, aber er habe ja drauf bestanden, dass er unschuldig verhaftet worden sei. Man habe ihm die Drogen sozusagen heimlich ins Gepäck implantiert. Von wegen. Ihre Recherchen hätten ergeben, dass der ach so unschuldige Jean D’Arcy hierzulande ein behördlich bekannter Drogenabhängiger gewesen sei, mehrfach in Kliniken eingewiesen und vorbestraft – ebenfalls wegen Drogendelikten, und jetzt komme der Hammer, Tanner solle sich bitteschön festhalten: Er sei in ein Mordfall verwickelt gewesen! Also, Mord sei vielleicht etwas zu viel oder zu vorschnell behauptet, schränkte sie gleich etwas ein, aber: Er sei immerhin in eine dubiose Geschichte um eine verschwundene Frau verwickelt gewesen, deren Leiche man aber nie gefunden habe. Jean D’Arcy sei zeitweise verdächtigt worden, sie umgebracht zu haben. Dafür habe es Anschuldigungen durch Zeugen gegeben, aber mangels Beweisen und weil man eben die Leiche der Frau nie gefunden habe, sei der Fall als ungeklärt abgelegt und die Anklage gegen D’Arcy fallengelassen worden. Im Übrigen sei dieser Jean D’Arcy der Abkömmling einer der reichsten Familien in der welschen Schweiz, allerdings gehöre er nicht direkt zu dem reichen Zweig im Stammbaum, sondern zu dem verarmten – aber immerhin. Was sie mit ihrem auftrumpfenden immerhin meinte, ließ sich zur späten Stunde nicht eruieren. Tanner hatte auch bereits Mitleid mit Bodmer, der allein ihretwegen auf seinem Posten ausharren musste. Der Vater D’Arcys sei selbst schon früh irgendwie in Ungnade gefallen, wegen falscher Heirat oder so, und beide Eltern seien kurz nach der Geburt von Jean bei einem Unfall ums Leben gekommen und der Kleine bei einer Tante aufgewachsen.
Dies alles hatte sie praktisch ohne Atem zu holen berichtet, begleitet von einem Unter-, vielmehr einem Überton, den man nicht anders als triumphierend bezeichnen konnte. Warum dies bei ihr ein Gefühl des Triumphs ausgelöst hatte, wurde Tanner nicht klar.
Er hatte zu dem Zeitpunkt gedacht, dass sie vielleicht doch schon ein bisschen zu viel Wein getrunken habe, trotz ihrer mehrmaligen Versicherung, sie trinke nur ganz wenig. Spätestens zu diesem Zeitpunkt war ihm klar geworden, dass ihm nichts anderes übrig bleiben würde, als sie nach Hause zu fahren.
So war es denn auch geschehen, obwohl sie sich zuerst gesträubt hatte. Der Hinweis, dass es in ihrer Testphase kein gutes Bild abgäbe, käme sie in eine Polizeikontrolle, hatte dann den Ausschlag gegeben.
Sie wohnte in einem der besten Viertel der Hauptstadt, nämlich da, wo ausländische Botschaften stehen wie Pilze im Herbstwald. Tanner hatte es tunlichst vermieden, irgendetwas über ihr Privatleben zu erfragen, obwohl er sich natürlich wunderte, wie es sich eine Polizistin leisten konnte, hier zu wohnen.
Die Fahrt war schweigend verlaufen. Sie hatte die ganze Zeit die Augen geschlossen gehalten, und Tanner wusste nicht, ob sie eingeschlafen war. Exakt hundert Meter vor dem Ziel hatte sie plötzlich hellwach und ziemlich trocken bemerkt, sie hätte dann übrigens keinen Kaffee zuhause, nur im Falle eines Falles … also, sie wolle ihm nichts unterstellen, nur falls er an so etwas herumstudiere.
Tanner hatte über diese letzte Provokation nur müde lächeln können und stumm mit der Hand auf das Taxi gezeigt, das bereits vor ihrem Haus gestanden und darauf gewartet hatte, ihn wieder nach Hause zu bringen, denn sie waren ja mit ihrem Wagen gefahren.
Halten Sie direkt hinter dem Taxi. Ich kann das Auto selbst in die Parkgarage fahren. Sie ist gleich um die Ecke. Oder trauen Sie mir das nicht zu, Tanner?
Er hatte nur genickt und ein Gähnen unterdrückt.
Oh, Tanner ist müde.
Tanner lachte.
Ich habe immerhin auf meiner Reise zwei Nächte nicht geschlafen, das holt man nicht so schnell wieder auf.
Sie hatten sich eine Weile schweigend angeschaut. Sie hatte als Erste das Schweigen gebrochen.
Welche Abschiedszeremonie schlagen Sie vor, Tanner? Sie wis sen ja, statistisch gesehen, fangen die meisten Verführungen beim Sich-Verabschieden an.
Sie hatte gekichert.
Vielleicht besser gar keine, liebe Kollegin. Ich sage ganz schlicht Auf Wiedersehen und bedanke mich für den unterhaltsamen Abend.
Er hatte kurz die Hand gehoben, sich auf dem Absatz umgedreht und war ins Taxi gestiegen. Die Fahrerin war sofort losgefahren.
Tanner hatte sich gezwungen, sich nicht umzudrehen. Es hatte ihn einige Überwindung gekostet, denn gar zu gern hätte er Lara Willes Verblüffung gesehen. Danach hatte er es sich bequem gemacht und die Augen geschlossen.
Er hatte sie aber gleich wieder geöffnet, denn vor seinem inneren Auge tauchte sofort ihr Gesicht mit dem frechen Lachen auf, aber er wollte sich partout nicht mit ihr beschäftigen. Er wollte lieber darüber nachdenken, was sie ihm über den jungen Mann erzählt hatte.
Tanner seufzte und blickte in die dunkle Nacht.
Hatte er sich in Jean D’Arcy so getäuscht?
Kriminelle Energie konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Andererseits wusste er aus Erfahrung, wie sehr man sich von einem Menschen ein katastrophal falsches Bild machen konnte. Grundsätzlich hatte ihn die Erfahrung gelehrt, dass man sowieso nur das sah, was man sehen wollte. Bis einen die Tatsachen eines Besseren belehrten. Er bereute jetzt tatsächlich, dass er ihm auch den Schlüssel des Schrankes mitgegeben hatte. Wie gerne würde er den Koffer öffnen, in der Hoffnung, dass ihm vielleicht der Inhalt weiterhelfen könnte.
Vielleicht hatte Lara in ihrer Unerfahrenheit einige Fakten falsch interpretiert, wo immer sie Einsicht genommen hatte. Wahrscheinlich hatte sie sich längst die notwendigen Autorisierungen für die nationalen und internationalen Archive und Informationskanäle besorgt, die der Polizei zur Verfügung standen. Nachdem Tanner gefrühstückt hatte, wählte er kurz entschlossen die Nummer von Michels Büro.
Na, Tanner, brauchst du wieder einen Streifenwagen? Ach nein, du suchst sicher Lara.
Wer ist Lara?
So leicht wollte es Tanner ihm nicht machen.
Ha, ha. Guter Versuch.
Michel lachte seinen tiefen Bass ins Telefon.
Warst du gestern Abend nicht rein zufällig mit einer Kollegin namens Lara Wille zum Essen verabredet?
Ach so die! Die Kollegin Wille! Reden wir von deiner neuen Mitarbeiterin, die du einen fast dreißig Jahre alten Mordfall aufklären lässt?
Hat sie dir das erzählt?
Michel schnaubte ungehalten ins Telefon.
So viel also zum Thema Diskretion. Gut. Ich notiere fünf Minuspunkte für die Kandidatin. Nein, da sie es ausgerechnet dir erzählt hat, gibts gleich zehn Punkte Abzug.
Als Tanner nicht darauf reagierte, räusperte sich Michel ungehalten.
Es stimmt übrigens. Hast du was dagegen?
Nein, aber du könntest ihr ja auch direkt sagen, dass du sie nicht in dein Team aufnehmen möchtest.
Wie kommst du denn darauf?
Weil du die Lösung des Falles zur Bedingung für ihre Aufnahme gemacht hast.
Tja, das Leben ist hart und verfügt bekanntlich selten über ein Geländer.
Tanner wechselte das Thema.
Hast du ihr die Einsicht in die Akte D’Arcy verschafft?
Nein. Ich höre den Namen zum ersten Mal. Wer ist das, und was hat sie damit zu tun?
Sie hat damit gar nichts zu tun. Sie wollte mir wohl nur beweisen, dass ich naiv bin und dass sie mit ihrer Skepsis oder weiblichen Intuition – oder mit beidem – recht hatte.
Tanner erklärte in knappen Worten, wer Jean D’Arcy war. Den Koffer verschwieg er allerdings, ebenso D’Arcys rätselhafte Bemerkung, dass er wisse, wer ihm damals die Drogen untergejubelt habe.
Jetzt wurde Michel wütend.
Der werd ich aber den Kopf waschen! Was denkt sich diese Dame eigentlich! Wie kommt die dazu, einfach im Archiv zu wühlen. Eine offizielle Genehmigung hatte sie ganz sicher nicht. Auf jeden Fall nicht von mir. Ich werde sie mir gleich vorknöpfen. Danke, dass du es mir gesagt hast, Tanner. Das macht gleich noch einmal zehn Punkte Abzug.
Sei nicht so streng mit ihr. Sie nimmt ihre Arbeit sehr ernst.
Aha. Hat sie dich schon um den Finger gewickelt. Das hätte ich mir denken können. Ich muss ja zugeben, dass sie verflucht attraktiv ist, mit ihrem frechen Lachen. Und dann erst noch diese …
Hier unterbrach ihn Tanner, denn er hatte keine Lust auf Michels sprachlich delikaten Wortschatz, mit dem er über weibliche Körper zu schwärmen pflegte.
Ich würde die Akte übrigens auch gerne einsehen, lieber Michel.
Michel produzierte ein dramatisches Stöhnen.
Welche Akte?
Na ja, die von Jean D’Arcy.
Michel stöhnte dramatisch.
Oh je. Jetzt fängt das wieder an! Du kannst es einfach nicht lassen.
Dann schwieg er.
Tanner wartete geduldig.
Michel stöhnte.
Also gut. Unter zwei Bedingungen: Erstens gehen wir heute Abend bei Stocker essen, und zwar auf deine Rechnung. Und zweitens versprichst du mir, dass du der Wille nicht unter die Arme greifst, falls sie dich bittet, ihr bei dem Fall behilflich zu sein.
Gut, machen wir! Heute Abend um zwanzig Uhr.
Wie – machen wir? Versprichst du es?
Ja, ja! Ich verspreche es. Warum sollte ausgerechnet ich ihr bei dem Fall helfen?
Michel lachte.
Ach, Tanner … vielleicht, weil es dir Zugang verschaffen würde …
Zugang?
Tja … dahin und dorthin …
Blödmann.
Tanner hängte auf.