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DREI

Es war wie verhext. Am anderen Morgen erwachte Tanner wieder kurz vor sechs. Diesmal ohne Telefonanruf. Auf jeden Fall durch keinen realen. Er hatte noch unter der Dusche das vage Gefühl, dass er geträumt habe, Bodmer habe schon wieder angerufen und er deswegen um die gleiche Uhrzeit aufgewacht sei. Aber nach der Dusche war alles in seiner Erinnerung verblasst, und er wusste nicht mehr, ob er sich das bloß eingebildet hatte oder ob es wirklich ein Traum gewesen war.

Draußen herrschte noch tiefschwarze Nacht. Kein Mond und keine Sterne. Fröstelnd stand Tanner für einen Augenblick am offenen Fenster und zog die nasskalte Luft durch die Nase tief in seine Lunge. Immerhin klärte sich dadurch sein Kopf ein wenig. Plötzlich hatte er das Gefühl, er müsse irgendetwas tun, und sei es auch nur, die monatelang verwaiste Wohnung zu putzen. Er holte tief Atem und entschloss sich zu einer ausführlichen Putzaktion seiner nun monatelang verwaisten Wohnung. Gegen Mittag durchschritt er stolz und zufrieden sein auf Hochglanz poliertes Reich, und dachte, dass er jetzt wirklich angekommen sei. Das Reinigungsritual hatte ihn irgendwie erneut mit diesem Ort geerdet. Wie auf Verabredung klingelte in diesem Augenblick die Hausglocke.

Beschwingt trabte er hinunter, nahm zwei Stufen aufs Mal, und schloss die schwere Haustür auf.

Draußen stand, bibbernd vor Kälte, Jean D’Arcy. Immer noch bloß mit diesem dünnen grauen Anzug bekleidet. Den Koffer hielt er in der Hand.

Er hob linkisch die freie Hand zum Gruß und lächelte.

Guten Tag, Herr Tanner. Entschuldigen Sie bitte vielmals, äh … die Stör…

Tanner fasste ihn kurzerhand am Arm und unterbrach ihn.

Wissen Sie was? Sie kommen jetzt erst mal rein an die Wärme. Entschuldigen können Sie sich immer noch.

D’Arcy nickte und trat bereitwillig ins Haus. Tanner schloss die Tür und ging die Treppe hoch.

Kommen Sie. Ich gehe vor.

Setzen Sie sich einfach ins Wohnzimmer, ich mache uns einen Kaffee.

Als Tanner ins Wohnzimmer kam, saß D’Arcy am Tisch. Den Koffer hatte er am Boden zwischen die Beine gestellt.

Hier. Bitte bedienen Sie sich.

D’Arcy nahm Zucker und Milch. Seine Hand zitterte leicht. Dann atmete er mit geschlossenen Augen den Duft des Kaffees ein. Trank aber nicht.

Ja, äh … was ich sagen … ich meine, ähm … was ich Sie fragen wollte … es ist eine, äh … große Bitte.

D’Arcy blickte kurz zum Fenster und fuhr sich fahrig durch die blonden Haare.

Also, äh … vielleicht ist es schwer zu verstehen, aber …

Lieber Herr D’Arcy, sagen Sie mir einfach, was ich für Sie tun kann. Wenn es in meiner Macht steht, werde ich es tun.

D’Arcy blickte ihn mit großen Augen an.

Sie sind sehr liebenswürdig. Es tut mir leid, dass ich Sie störe, Sie haben sicher viel zu tun und äh …

Tanner fuhr mit der Hand durch die Luft.

Machen Sie sich keine Sorgen. Also, was kann ich für Sie tun?

D’Arcy griff unter den Tisch und brachte den Koffer zum Vorschein.

Darf ich Sie bitten, diesen, äh … Koffer für mich aufzubewahren? Es ist nur für ein paar Tage. Natürlich nur, ähm … wenn es Ihnen nichts ausmacht.

Tanner stand auf und wollte nach dem Koffer greifen. D’Arcy hielt ihn aber noch zurück.

Ich will Ihnen noch sagen, äh … dass in dem Koffer nichts ist, was äh … irgendwie illegal ist, verstehen Sie. Das schwöre ich bei meinem Leben. Und ich hoffe, Sie können mir glauben. Es ist etwas, was mir persönlich sehr wertvoll ist, aber ohne, ähm … materiellen Wert.

Dann überreichte er den Koffer. Tanner nahm ihn. Er war überraschend leicht.

Gut, ich glaube Ihnen. Wissen Sie was, D’Arcy? Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo ich ihn aufbewahre. Nur für alle Fälle.

Tanner ging in eines der praktisch leeren Zimmer seiner großen Wohnung. Es war ein relativ schmaler Raum mit nur einem Fenster zur Straße hin. Auf der einen Längsseite bestand das Zimmer aus lauter eingebauten Wandschränken mit massiven Türen. Er öffnete einen der Schränke, stellte den Koffer hinein und schloss den Schrank. Den Schlüssel nahm er ab und bot ihn D’Arcy an.

Schauen Sie, D’Arcy. All diese Schränke sind leer. Ich brauche den Schrank nicht. Nehmen Sie den Schlüssel mit. Wenn Sie den Koffer holen, müssen Sie allerdings den Schlüssel wieder mitbringen.

D’Arcy nahm den Schlüssel mit beiden Händen entgegen, als empfange er eine heilige Reliquie.

Das ist sehr großzügig von Ihnen, Herr Tanner. Sie können sich nicht vorstellen, ähm … wie froh ich bin, ja, wie erleichtert und froh.

Sie setzten sich beide wieder an den Tisch, und D’Arcy rührte erneut in seinem Kaffee, trank aber nicht. Er sah dabei gedankenverloren zum Fenster hinaus.

Tanner räusperte sich.

Haben Sie Familie, Herr D’Arcy? Ich meine, haben Sie jemanden, zu dem Sie gehen können?

Er lächelte.

Ja, wissen Sie, an Familie herrscht an sich kein Mangel. Im Gegenteil.

Jetzt lachte er gequält.

Die gibts sogar im Überfluss, aber äh …, die haben mich schon länger abgeschrieben, wissen Sie.

Weil Sie im Gefängnis waren?

Nein, nein, das hat andere Gründe.

Er nahm den Kaffeelöffel in den Mund. Dann hielt er ihn wie einen kleinen Spiegel in Augenhöhe, als wolle er sein Gesicht darin beobachten.

Das hängt eher mit meiner, ähm … Lebenseinstellung zusammen. Zudem ist meine, äh … ganze Familie sehr katholisch, und ich – ich habe mich seit einiger Zeit davon losgesagt.

Tanner nickte.

Aha, ich verstehe.

D’Arcy hob jetzt die Tasse mit beiden Händen an seine Lippen und trank sie in einem Zug leer. Tanner blickte auf seine Uhr.

Herr D’Arcy, darf ich Sie zu einer kleinen Spazierfahrt einladen? Ich war seit über einem Jahr weg und hätte große Lust, ein bisschen übers Land zu fahren. Zudem will ich wissen, ob mein Auto überhaupt noch fährt.

D’Arcy lächelte und machte wieder diese Andeutung einer Verbeugung.

Ja, gut. Ich komme gerne mit. Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen. An dem Ort, von dem ich komme, habe ich oft davon geträumt, einfach übers Land zu fahren ohne Ziel und ohne Zeitdruck.

Tanner nickte ernst.

Diese Sehnsucht kann ich gut verstehen. Übrigens habe ich da noch einen sehr guten Mantel. Den können Sie sich gerne ausleihen, nicht dass Sie noch erfrieren.

Tanner wartete gar keine Antwort ab, sondern ging den grauen Fischgratmantel aus einem Schrank im hintersten Zimmer seiner weitläufigen Wohnung holen.

Als Tanner zurückkam, stand D’Arcy bereits unter der Wohnungstür. Tanner warf ihm den Mantel zu.

Er müsste Ihnen eigentlich perfekt passen. Als ich ihn gekauft habe, war ich noch etwas schlanker. Kommen Sie, D’Arcy, kommen Sie.

Tanner nahm zwei Treppen aufs Mal. Unten angekommen, ging er direkt zur Garage und öffnete die schweren Flügeltüren. Dann blickte er zum Haus.

Kommen Sie, D’Arcy.

D’Arcy stand im Mantel unschlüssig unter der Tür. Der Mantel war ihm zwar etwas zu groß, aber immerhin musste er jetzt nicht mehr frieren.

Sie müssen die Tür nur hinter sich zuziehen.

Tanner setzte sich in den Wagen und war gespannt, ob der Motor nach so langer Ruhezeit überhaupt anspringen würde. Er tat es ohne Probleme. Er fuhr den Wagen aus der Garage und bedeutete D’Arcy einzusteigen.

Wir fahren durchs flache Land zwischen den Seen, wenns recht ist.

D’Arcy lachte.

Ob es recht ist, fragen Sie mich? Oh ja. Sehr sogar. Sie sind sehr großzügig zu mir, Herr Tanner.

Dann wiederholte er dieses schöne, altmodische Dankeswort, das seine Großmutter bisweilen zu sagen pflegte.

Schon waren sie aus dem Dorf heraus, am Schloss vorbei, das man zu dieser Jahreszeit sehr gut von der Straße aus sehen konnte, da all die alten Bäume kahl waren. Kurz darauf entschied sich Tanner für die Umfahrungsstraße um das Bezirksstädtchen.

Sie schwiegen beide. Erst als sie die pfeilgerade Straße erreichten, die sie tief ins fruchtbare flache Land bringen würde, räusperte sich D’Arcy.

Äh … das ist ein sehr schöner und bequemer Wagen, Herr Tanner. Einer meiner Onkel hatte auch so einen, vielleicht ein etwas älteres Modell. Aber auch mit diesen weichen Ledersitzen. Ich habe mir nie etwas aus Autos gemacht, müssen Sie wissen. Ich bin immer sehr gerne Fahrrad gefahren. Alles andere war mir irgendwie zu schnell. Wissen Sie, ich komme mit meinen Augen gar nicht mit.

Tanner schaute ihn fragend an. D’Arcy lächelte.

Ja, verstehen Sie, ich kann gar nicht so schnell schauen, wie man es beim Autofahren braucht. Oder vielleicht liegt es daran, dass ich nicht so schnell, äh … denken kann. Das war auch früher beim, äh … Sport so. Ich konnte die Bälle einfach nicht sehen. Meine Schulkameraden haben nie verstanden, äh … warum ich keine Bälle fangen konnte, dabei habe ich sie gar nicht gesehen, wenn sie geflogen kamen. So einfach war das. Ich habe sie nicht gesehen. Können Sie sich das, ähm vorstellen?

Tanner nickte, sagte aber nichts. Er konnte es sich sogar sehr gut vorstellen. Vor allem den Spott, dem D’Arcy sicher ausgesetzt gewesen war. Kinder waren in der Hinsicht gnadenlos.

Plötzlich kicherte D’Arcy.

Beim Militär war es dann natürlich ein Glück. Nach drei Tagen hat man mich als unbrauchbar wieder nach Hause geschickt.

Er korrigierte sich.

Nein, nein. Das Wort war nicht unbrauchbar! Untauglich wurde das damals genannt. Genau: untauglich. Und meine Familie, äh … schämte sich. Sie müssen wissen, in meiner Familie ist man einfach nicht untauglich. In meiner Familie wimmelt es nur so von, ähm … Eichenlaub und goldenen Spaghetti um die, äh … Hüte.

Er ließ seinen Finger um seinen Kopf kreisen.

Dafür war ich gut in allem, was äh … Geduld erforderte. Laut meiner Mutter konnte ich schon mit vier Jahren Puzzles mit Hunderten von Teilen zusammensetzen.

Tanner nickte bewundernd.

Was haben Sie denn für einen Beruf gelernt, Herr D’Arcy?

Uhrmacher. Ich habe Uhrmacher gelernt. Bei einem genialen, alten Meister …

Seine Miene verdunkelte sich.

… der leider nicht mehr lebt.

Tanner wartete eine Weile. Aber D’Arcy schwieg.

Erzählen Sie mir von Ihrem Meister?

Er nickte, begann zögernd zu erzählen und kam dann immer mehr in Schwung.

Als ich Aziz Haddad, so hieß er, kennenlernte, war er bereits ein älterer Mann, schlaksig bis hager, aber bei bester Gesundheit. Alle Welt nannte ihn Monsieur Adda. Er betonte immer, dass er sein Lebtag nie krank gewesen sei und dass er immer noch alle seine Zähne besitze und niemals ein Loch gehabt habe. Sein Vater sei Ringer gewesen, und auch er habe es in seiner Jugend ein wenig ausprobiert. Er führte gerne seinen starken Bizeps vor, der bei so einem schmächtigen Körper überraschte. Wenn er auf jemand eine Wut hatte oder sonst irgendwie schlecht gelaunt war, ging er in den Hof der Werkstatt und spaltete in kurzer Zeit einen riesigen Berg Holz. Ansonsten war er die Gutmütigkeit in Person, fast wie eine gütige Person oder eine Fee aus einem Märchen, wissen Sie.

Tanner nickte.

Am liebsten unterhielt er sich über das Uhrmacherwesen. Viele Leute hielten ihn für einen großen Gelehrten, dabei hatte er kaum eine Schulbildung. Er sagte immer: Es waren die Uhren, die mich alles gelehrt haben. Er war sicher einer der besten Uhrmacher weit und breit.

Jean D’Arcy lächelte.

Uhren waren für ihn Persönlichkeiten. Wie soll ich sagen? Ja, er behandelte Uhren, als ob sie lebendige Wesen wären. Er behandelte sie mit Ehrfurcht und Liebe. Brachte man ihm eine Uhr, die wirklich rettungslos defekt war, wurden seine Gesichtszüge ganz weich: Das Herz schlägt nicht mehr. Das Gehirn ist beschädigt, sagte er zum Beispiel, oder: Wie soll sie denn gehen, die arme, wenn beide Füße gebrochen sind.

Unterdessen hatten sie das flache Land durchquert. Die Anhöhen des sanften Hügels, der den See säumte, waren zum Greifen nahe. Tanner entschied sich für die Route am See entlang.

Tanner blickte kurz auf D’Arcys Gesicht. Er schien tief in Gedanken versunken. Er fragte sich einmal mehr, ob die Traurigkeit in den Augen D’Arcys vom Gefängnisaufenthalt kam oder ob es andere Gründe gab? Hatte er keine Frau, die auf ihn wartete? Was hatte er vor? Warum ist er ausgerechnet in dem kleinen Dorf am See ausgestiegen?

Unvermittelt schaute D’Arcy auf.

Darf ich Sie etwas fragen, Herr Tanner? Ja, sicher. Fragen Sie.

Ich meine, äh … etwas, äh … Persönliches, verstehen Sie?

Ja, fragen Sie halt. Wir sehen ja dann, ob ich in der Lage bin zu antworten.

Gut.

Glauben Sie an Gott?

Tanner lächelte und lehnte sich zurück.

Nein, ich glaube nicht an einen Gott.

D’Arcy fuhr sich nervös durch die Haare.

Wenn Sie nicht an, äh … Gott glauben: An wen wenden Sie sich denn, wenn Sie, äh … allein sind und oder ähm … verzweifelt?

Lieber D’Arcy, seien Sie mir nicht böse, aber ich glaube, das ließe sich bei einem kleinen Kaffee besser besprechen. Meinen Sie nicht auch?

D’Arcy nickte.

Sie haben recht.

Im nächsten Weindorf hielten sie bei einem Restaurant mit einer kleinen Seeterrasse an. Sie setzten sich in die leere Gaststube, und Tanner bestellte zwei Kaffee.

Als der Kaffee vor ihnen stand, räusperte sich der junge Mann umständlich.

Wenn Sie also nicht an Gott glauben, dann glauben Sie auch nicht, dass er seinen, äh … Sohn, äh … auf die Erde geschickt hat, um uns zu erlösen.

Das vermuten Sie ganz richtig, D’Arcy. Das glaube ich auch nicht. Abgesehen davon sehe ich weit und breit keine Erlösung. Sie etwa?

Und was ist mit den Zehn Geboten?

Was soll damit sein? Meines Wissens haben wir unsere ganze Ethik den Griechen zu verdanken. Das sind Grundbedingungen für ein menschenwürdiges Zusammenleben. Ganz zuoberst steht: Die Würde jedes einzelnen Menschen ist unantastbar. Dazu braucht es meiner Meinung nach keinen Gott.

Tanner trank seinen Kaffee.

An wen wenden Sie sich denn, wenn Sie verzweifelt sind, D’Arcy?

Er zeigte lächelnd nach oben.

Ich bete. Und dann bin ich noch einer lieben Gemeinschaft verbunden, die nicht weit von hier ihr Zentrum hat.

Er zeigte vage in eine Richtung.

Eine religiöse Gemeinschaft?

Ja, ja. So was Ähnliches.

D’Arcy wiegte den Kopf. Offenbar wollte er nicht weiter darüber sprechen. Er rührte unentwegt in seinem Kaffee.

Wissen Sie, warum ich in dieses Dorf gekommen bin?

Nein. Wieso?

Mein alter Meister, äh … also mein Uhrmachermeister, Monsieur Adda, liegt hier begraben. Gott hab ihn selig. Er ist leider verstorben, während ich in, äh … in Spanien war. Ich konnte also nicht an seine Beerdigung.

Ach. War er denn von hier?

Nein, nein. Er ist in Algerien geboren. Aber seine Frau ist hier aufgewachsen, und somit liegen beide hier begraben.

Tanner stutzte.

Sagen Sie mal, D’Arcy, warum hätte Bodmer Sie eigentlich gestern so früh wecken sollen?

D’Arcy errötete und blickte auf seine Fingerspitzen.

Ja, wissen Sie, mein Meister liebte die frühen Morgenstunden. Und so wollte ich ihm äh … die äh … Ehre erweisen und ganz, ganz früh am Morgen zu seinem Grab gehen und sagen: Meister, hier bin ich endlich – und ähm … Sie sehen, ich bin früh aufgestanden.

Tanner lachte.

Aha, ich verstehe.

Wissen Sie, ganz früh am Morgen, wenn jeweils alles noch geschlafen hatte, liebte es mein Meister, seinen Uhren zu lauschen. Und ich, als sein Schüler, musste es ihm gleichtun. Da saßen wir dann beide und lauschten. Bei Armbanduhren hatten wir Stethoskope, so wie die Ärzte sie verwenden. Bei großen Uhren lauschten wir mit dem Ohr am Gehäuse. Auf der einen Seite mein Meister, auf der anderen ich. Zuerst habe ich wochenlang, ja monatelang nichts anderes gehört als tic-tac-tic-tac. Er sagte immer, man müsse so zuhören, dass man alles andere vergessen, sich ganz in die Uhr hinein versetzen könne. Man müsse quasi zur Uhr selber werden, dann könne man herausfinden, was dem Mechanismus fehlte, dann würde man die Seele der Uhr verstehen.

D’Arcy sprach jetzt ohne Stocken, seine Augen leuchteten.

Wie gesagt, zuerst hören Sie nur das Ticken einer Uhr, aber dann – plötzlich öffnet sich ein neues akustisches Universum. Plötzlich können Sie die Geräusche so zerlegen, dass Sie die Reibung jedes einzelnen Zahnrädchens hören, jedes Schleifgeräusch eines Lagers orten, das sich nicht ganz im Gleichgewicht befindet. Bei mir dauerte es allerdings über drei Jahre, bis ich alles hörte.

Drei Jahre lang? Sind Sie da zwischendurch nicht verzweifelt?

Doch, natürlich. Mein Meister verbot mir zudem, die Uhren zu öffnen, bevor ich hören konnte, was mit ihr los war. Ich habe natürlich gelernt, Uhren zu bauen. Aber die wertvollen Uhren, die mein Meister zur Revision oder zur Reparatur erhalten hatte, durfte ich erst öffnen, wenn ich ihm vorher genau beschreiben konnte, was drinnen los war.

Das ist ja interessant.

Sie schwiegen beide.

Konnten Sie im Gefängnis wenigstens etwas lernen oder von Ihren Fertigkeiten Gebrauch machen?

Ja, als der Direktor merkte, dass ich etwas von Uhren verstehe, belieferte er mich dann und wann mit Uhren, die ich reparieren musste –, und er strich das Geld ein.

Er lachte.

Die Werkzeuge musste ich natürlich immer wieder vollständig abgeben, denn damit hätte man auch allerhand anderes herstellen können.

Ja, ich verstehe.

Tanner überlegte, was er alles damit hätte herstellen können.

Hat man Ihnen, als man Sie gefasst hatte, eigentlich keinen Handel vorgeschlagen?

D’Arcy schaute ihn erschrocken an.

Handel?

Strafmilderung gegen Informationen. Zum Beispiel, woher Sie die Drogen hatten oder für wen Sie die geschmuggelt hatten?

Aber … äh … ich habe Ihnen doch … äh … man hat sie mir ja heimlich in die Tasche gesteckt!

Ja, das schon, aber Sie haben doch gesagt, dass Sie wüssten, wer Ihnen das eingebrockt hat.

D’Arcy wurde noch blasser und wandte sich schnell ab.

Ja, aber das ist etwas anderes. Das sind schließlich keine … äh … ja, wie gesagt, das ist etwas anderes.

Er räusperte sich.

Herr Tanner, seien Sie mir nicht böse, aber könnten wir langsam umkehren, ich hätte heute Nachmittag noch etwas zu erledigen.

Tanner nickte und verkniff sich die Frage, um was es sich denn handelte. Sonnenklar aber war, dass Jean D’Arcy über das Thema nicht reden wollte. Tanner blieb nichts anderes, als es zu akzeptieren. Er bezahlte den Kaffee. Beim Rausgehen zückte er sein Telefon, blickte nach der Uhrzeit und sah, dass er eine Sprachmitteilung hatte.

Nachtessen bei Bodmer. Habe interessante Informationen. Wenn Sie nicht kommen, bitte melden. Sonst 20.00 Uhr. Wille.

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