Читать книгу Der Salamander - Urs Schaub - Страница 8
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Wenn er etwas hasste, dann waren es diese verfluchten Schießübungen. Schon zweimal war es ihm dieses Jahr gelungen, sich davor zu drücken, heute hatte er daran glauben müssen. Dass er in seinem Beruf schießen können musste, leuchtete ihm ein. Aber er hasste die Atmosphäre im Schießkeller. Die Art von Kameradschaft erinnerte ihn fatal an die Polizeirekrutenschule, die er längst als ein übles Kapitel in seinem Leben abgehakt hatte.
Seine Schießresultate waren denn auch alles andere als berauschend gewesen. Der Verantwortliche hatte die Stirn gerunzelt und ihm nur zögernd den Stempel aufs Formular gedrückt. Ein Punkt weniger, und er wäre reif gewesen, und zwar für den ganzen Rattenschwanz von medizinischen Untersuchungen, Augentests und so weiter und so fort. Wer all die Tests nicht besteht, wird in den Innendienst versetzt. So einfach war das. Und davor graute Michel.
Der Beamte hatte mit schiefem Maul gegrinst.
Gerade noch die Kurve gekriegt, mein Lieber. Wünsche viel Glück für den Ernstfall. Besser, du kommst in keinen!
Ja, ja, bla … bla … bla.
Michel winkte ab. Im sogenannten Ernstfall – die Kollegen liebten das Wort über alles – ist sowieso alles ganz anders. Außerdem hatte er sich längst zur Regel gemacht, so lange wie möglich zu verhandeln und dann die Einsatztruppe zu bestellen, wenns denn unumgänglich war.
Nach diesem verlorenen Morgen – und auch ein bisschen zur Belohnung – leistete er sich ein saftiges und kunstvoll arrangiertes Wildmenu beim Stocker auf der anderen Seite des Sees.
Das Restaurant war wie immer ziemlich voll, trotzdem fand der Chef Zeit, sich zu Michel an den Tisch zu setzen.
Ich habe gehört, dass Tanner wieder in der Gegend ist. Der hohe Norden soll ihm nicht so gut bekommen sein!
Michel grunzte.
Wer behauptet denn so was? Stimmt doch alles nicht. Wer erzählt denn so einen Bockmist?
Ach, die Spatzen, die Spatzen. Du weißt ja, wer alles bei mir isst. So was spricht sich schnell herum, zumal im Winter, wo sich die ganze Welt zu Tode langweilt. Weißt du denn, wie es unserer lieben Solveig geht?
Ich weiß nur, dass sie ihre kranke Mutter pflegt, den Rest musst du Tanner fragen. Früher oder später wird er hier ja wieder auftauchen.
Mein Gott, bist du schlecht gelaunt! Schmeckt dir mein Essen nicht?
Doch, doch, Stocker. Nimms nicht persönlich. Ich hatte heute mein persönliches Schießprogramm zu absolvieren. Ist nicht gerade mein Tag.
Aha. Ich verstehe. Wenn du beim Kaffee bist, komme ich noch einmal zu dir. Ich spendier dir, wenn du willst, auch gerne ein Dessert. Ich muss dich nämlich dringend etwas fragen.
Als Stocker wieder in seine Küche verschwunden war, stocherte Michel lustlos in seinem Teller. Musste dieser Scheißkerl auch noch Solveig erwähnen? Mein Gott, war er damals in sie verknallt gewesen! Und dann diese kalte Abfuhr. Es gab ihm immer noch ein Stich, und zwar an der Stelle, wo es empfindlich wehtat.
Das Ego – das unsichtbarste, aber zugleich empfindsamste Organ vor allem der Männer –, wie es die neue Polizeipsychologin nannte, die letzthin, auf Anordnung von ganz oben, einen ewig langen Vortrag vor der ganzen Mannschaft gehalten hatte.
Na, wenn schon, dann hats mich halt am Ego getroffen. Wen geht das etwas an! Ist ja schließlich mein Ego!
Irgendwie mochte er es Tanner gönnen, dass es offenbar nicht ganz so geklappt hatte mit ihr. Wenn es denn so war. Aber warum sonst wäre Tanner freiwillig zurückgekommen? Er wollte es ihm ja partout nicht erzählen. So eine Frau lässt man doch nicht allein. Keine Stunde. Schon gar keinen ganzen Tag. Na ja, wenn schon.
Gleichzeitig schämte er sich für diese kleinen hämischen Ge fühle. Ging es ihm denn besser? Um diese aufkommenden Gedanken zu verdrängen, trank er den Rest des Bieres in einem Zuge aus und bestellte sich per Handzeichen kurzerhand ein neues, obwohl er mit sich ausgemacht hatte, dass er am Mittag nur noch ein einziges Bier trinken wollte. Aber heute war sowieso ein Ausnahmetag – Schießtag eben –, und zudem wartete im Büro nichts Dringendes auf ihn. Im Gegenteil: seit ein paar Wochen dümpelte das Kommissariat vor sich hin, als habe sich auf einen Schlag die Menschheit gebessert – zumindest im Bereich seiner Abteilung Leib und Leben. Er konnte sich nicht erinnern, dass es während seiner ganzen Dienstzeit jemals über so lange Zeit so ruhig gewesen wäre. Sämtliche Schreibtische waren aufgeräumt wie nie. Die Aktenberge verschwunden. Die Bleistifte gespitzt. Er fragte sich allen Ernstes, ob es so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm gab? Er versuchte ein wenig zu ergründen, wie denn so ein Sturm aussehen könnte, kam aber auf keine besonders einfallsreiche Idee. Vielleicht finden demnächst schreckliche Terrorakte statt mit Dutzenden von Geiseldramen oder weiß der Teufel was.
Freudig nahm er das frisch gezapfte Bier entgegen, das die Bedienung ihm brachte, und er gönnte sich einen tiefen ersten Schluck. Er war der Meinung, dass er sich den redlich verdient hatte. Seine Laune hellte zunehmend auf.
Das einzige Geschäft, das er sich für heute Nachmittag vorgenommen hatte, war die Akte Wille. Sie war letzthin bei ihm vorstellig geworden, denn sie wollte partout weg von der Straße, aus der Uniform raus und in seine Abteilung. Sein Chef hatte ihm erstaunlicherweise freie Hand gelassen – auch so ein Wunder. Immerhin war seine Abteilung unterbesetzt, was in dieser ruhigen Zeit kein Schaden war, aber sobald die Abteilung wieder auf gewohnten Hochtouren laufen würde – und dieser Tag würde kommen –, fehlte mindestens ein Mitarbeiter oder eben eine Mitarbeiterin. Die Wille hatte genug Dienstzeit auf Streife und Innendienst und wohl auch sämtliche notwendigen Kurse absolviert – mit Bravour, wie man munkelte. In der Akte würde ja dann alles zu finden sein.
Ja! Und sie war ziemlich attraktiv. Nicht unbedingt schön, es war eher ihre Art sich zu bewegen. Und sie hatte dieses aufreizende Lachen.
Saufrech ist sie. So ist es.
Seine Miene verfinsterte sich.
Wenn er mit ihr sprach, hatte er immer das Gefühl, sie nehme ihn nicht besonders ernst. Er war irgendwie sauer auf sie, ohne genau zu wissen, warum.
Sie ist eine eingebildete Kuh.
Plötzlich erschien Stocker und setzte sich ihm schwungvoll gegenüber.
Wolltest du was bestellen oder führst du schon Selbstgespräche?
Michel winkte ab. Stocker ließ sich nicht beirren.
Na, Gott sei Dank. Ich sehe, die Laune hat sich mächtig gebessert. Kann wirklich mein Essen so etwas bewirken, oder denkst du gerade an etwas Schönes? An etwas, was man weniger essen als vielleicht abschlecken kann? Du hattest gerade so einen verzückten Glanz in deinen Augen …
Ach wo. Du bist und bleibst ein Spinner, Stocker. Aber dein Essen ist Spitze, das muss dir der Feind lassen.
Gut. Dann gebe ich dir noch meine neueste Kreation mit Feigen in Vanille und Schokolade zum Kosten.
Er machte ein Zeichen zu seiner Frau, die an der Theke stand und formulierte mit den Lippen lautlos seinen Wunsch. Sie nickte und verdrehte die Augen. Stocker schickte ihr einen Kuss per Flugpost.
Michel verzog seinen Mund zu einem Grinsen.
Schön zu sehen, wie auch ältere Ehepaar noch miteinander schnäbeln.
Ach Michel, du bist ja nur neidisch, gib es zu. Und was heißt hier älter? Ich bin sicher mindestens eine Generation jünger als du.
Ja, aber seit mindestens zwanzig Jahren verheiratet. Damit seid ihr ein älteres Ehepaar.
Michel lachte dröhnend. Er war ziemlich stolz auf seine Schlagfertigkeit.
Ja, lach nur. Wenn du wüsstest …
Wenn ich was wüsste?
Was unser Geheimnis ist. Na ja, wahrscheinlich jeder guten, langjährigen Beziehung.
Und was wäre das Geheimnis?
Kennt das die Polizei nicht? Das magische Dreieck!
Wie bitte.
Michel beugte sich vor. Sein Interesse war nicht geheuchelt.
Was ist denn das magische Dreieck?
Stocker lehnte sich zurück.
Ich verrate dir das Geheimnis, wenn du mir versprichst, dass du dir nachher in Ruhe meine Geschichte anhörst.
Michel hob indianermässig die Hand.
Versprochen! Was ist denn jetzt dieses Geheimnis?
Stocker beugte sich vor und dämpfte seine Stimme.
Es sind die berühmten drei Gs.
Michel runzelte die Stirn.
G wie Guter Sex. G wie Großzügigkeit. G wie gemeinsames Geschäft. Verstehst du? Die Reihenfolge ist wurscht. Aber alle drei müssen stimmen.
Michel konnte seine Enttäuschung nicht verhehlen.
Ist das alles?
Stocker lachte.
Ja, bist du noch bei Trost, Michel? Was hast du denn erwartet? Irgendwas mit Hokuspokus?
Stocker stippte mit seinem Finger in Richtung von Michels mächtiger Stirn, als ob er dort ein Loch bohren wollte.
Was ich dir beschreibe, ist die hohe Kunst, das sage ich dir. Geht das nicht in deinen Schädel?
Michel nickte.
Doch, doch.
Er schielte zur Frau vom Stocker, die sich gerade abwandte, sodass er ihr zugegebenermassen verlockendes Profil sehen konnte.
Stocker warf die Hände in die Luft.
Ich sprach von gutem Sex. Mein Gott, den kann man nicht sehen. Das kann man nur erleben. Bist du so, oder tust du gerade ein bisschen kompliziert? Das Aussehen zählt vielleicht am Anfang, wusstest du das nicht?
Ja, ist ja gut, Stocker. Reg dich ab. Wenn bei euch wirklich alles so gut läuft wie das Geschäft, dann ist ja alles gut. Das verstehe sogar ich, stell dir vor. Ist ja sicher auch schön für dein Ego. Falls du weißt, was das ist.
Ja, was meinst du, was du denn heute gegessen hast. Gebratenes Ego!
Sie lachten herzhaft.
Also, was ist das für eine Geschichte, die du mir unbedingt erzählen willst?
In diesem Augenblick brachte Frau Stocker persönlich das Dessert und den Kaffee für Michel.
Ich wünsche einen guten Appetit.
Sie ging betont Hüfte schwingend in Richtung Theke. Dann wandte sie sich lächelnd noch einmal um.
Stocker grinste übers ganze Gesicht und schaute Beifall heischend zu Michel.
Ja, ja, Stocker. Ich habe es begriffen. So. Jetzt aber zum Dessert.
Michel nahm einen Löffel voll und roch daran.
Oh, das riecht ja fantastisch.
Dann steckte er den Löffel in den Mund.
Stocker, du bist ein Genie.
Der Angesprochene lachte.
Sag ich doch. Also, hör mal. Bevor ich die Geschichte erzähle, eine wichtige Frage: Verjährt Mord?
Michel schluckte erst runter, dann wischte er sich bedächtig den Mund mit der Serviette.
Nein, Stocker. Mord verjährt nicht. Warum? Hast du jemanden ermordet? Ich habe ausnahmsweise keine Handschellen dabei.
Mach jetzt keine Witze, Michel. Mord verjährt also nie, sagst du?
Ja. Genau so ist es. Mord verjährt nie.
Michel blickte ihn an.
Kommt jetzt die Geschichte oder was?
Ich erzähle dir eine Geschichte von einer ziemlich ärmlichen Familie aus dem Seeland da unten. Das ist auf der anderen Seite vom Hügel. Etwa eine halbe Stunde Fahrzeit von hier. Sie waren zu Pacht auf einem kleinen Bauernhof. Der Vater hatte zu seinen besten Zeiten nie mehr als sieben Kühe. Sie pflanzten ein bisschen Gemüse, ein bisschen Kartoffeln und so weiter. Sie hatten drei Kinder, und alle hatten ständig Hunger. Die Mutter pflegte zu sagen: Wir sind zwar arm, aber anständig und zufrieden.
Michel nickte.
Ja, den Spruch kenne ich. Weiter.
Direkt in unmittelbarer Nachbarschaft lag noch ein Hof, der war sogar noch kleiner. Da lebte Karst, Heinrich Karst, und zwar ganz allein. Sie nannten ihn Onkel Karst, obwohl sie nicht miteinander verwandt waren. Also, alt war er eigentlich noch nicht gewesen. Für Kinder ist jemand über dreissig alt, zumal er körperlich leicht behindert war. Er hatte es mit dem Rücken und lief etwas gekrümmt. Er war wohl früher längere Zeit im Ausland gewesen, aber die Kinder wussten nichts Genaues. Er lebte also allein und hatte weit und breit keine Familie. In dem Sinne waren sie seine Familie. Sie durften bei ihm drüben spielen, und der Vater half ihm in allem aus, als wäre der Karst sein eigener Bruder oder so. Wenn es nötig war, half er ihm im Wald oder auf dem Feld und erledigte wohl vor allem Karsts ganzen Papierkram und stritt auch mal mit der Gemeinde, wenn der Karst das Gefühl hatte, dass man ihn bescheißen wollte. Die Mutter pflegte den Karst, wenn er krank war und besorgte ihm Arzneimittel und so weiter. Kannst du dir die Situation vorstellen, Michel?
Klar kann ich.
Michel schleckte gerade liebevoll seinen Dessertlöffel ab, den Teller hatte er schon minutiös gesäubert.
Mmh, mmh … diese Suppe hat aber ganz besonders gut geschmeckt … hätte meine Mutter gesagt. Sie lebt übrigens schon lange nicht mehr. Also Stocker, du kannst weitererzählen. Ich verstehe bis jetzt alles. Nur eines noch: muss ich mir die beiden Höfe in einem Dorf vorstellen, oder lagen die sozusagen alleine abseits? Vielleicht spielt es ja keine Rolle, aber ….
Doch, doch, du hast recht, das ist nicht ganz unwichtig: Die lagen ziemlich abseits. Bis ins nächste Dorf waren es sicher zwanzig Minuten zu Fuß.
Gut. Und wie geht es weiter? Du hast einen Mord angekündigt.
Der kommt, sei mal nicht so ungeduldig. Willst du noch einen Kaffee?
Michel nickte und Stocker gab seiner Frau ein Zeichen.
Also: Eines Tages im Hochsommer fand das älteste der drei Kinder, ein Mädchen, den Karst auf dem Boden seiner Küche. Zuerst dachte sie wohl, er würde schlafen. Ab und zu hatte er nämlich einen über seinen Durst getrunken, insofern war es für das Kind nichts besonderes, ihn irgendwo am Boden zu finden. Manchmal schlief er seinen Rausch im Stall oder auch schon mal auf dem Miststock aus. Also, das kannten sie. Damit konnte man sie nicht mehr sonderlich beeindrucken. Aber da war Blut – und zwar ziemlich viel Blut. Das Mädchen hatte einen Schock. Sie lief schreiend in das Haus und alarmierte Vater und Mutter. Es dauerte allerdings eine Weile, bis sie erklären konnte, was sie gesehen hatte. Der Vater ging sofort rüber und sah, dass der Karst tot war. Er lag offensichtlich in seinem eigenen Blut. Angefasst habe er ihn nicht, sagte der Vater atemlos, als er wieder kam, er habe vielmehr einen kleinen Spiegel über seinen offenen Mund gehalten und so gesehen, dass er tot wäre. Die Mutter wollte es gar nicht erst sehen und verbot den Kindern strikte, ins Haus rüber zu gehen. Der Vater musste sich erst einmal setzen, und die Mutter hat ihm sofort die Schnapsflasche hingestellt und die Kinder in ihre Kammer im ersten Stock gescheucht. Sie hatten also nicht mitbekommen, was ihre Eltern in der Küche gemacht oder besprochen haben, aber es ging relativ lange, bis sie durch das Fenster sahen, wie der Vater mit seinem Fahrrad ins Dorf gefahren ist. Sie hatten ja kein Telefon.
Stocker unterbrach sich einen Moment und holte tief Atem.
Michel stutzte.
Das ist deine Geschichte, Stocker, oder?
Stocker nickte.
Dieses Bild werde ich mein Leben lang nicht vergessen, nämlich wie mein Vater irgendwie geschwankt hat auf dem Fahrrad und sich sehr langsam vom Haus entfernt hat. Er fuhr über die holperige Feldstraße, die von unserem Haus ins Dorf führte, und es schien, als komme er nicht vom Fleck, obwohl er sich offensichtlich anstrengte. Wir haben unseren Vater dann wochenlang nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Michel stutzte.
Warum denn das? Ist er verhaftet worden?
Ja, genau. Aber nicht nur er, auch meine Mutter kam in Untersuchungshaft. Sie wurden beide verdächtigt, gemeinsam den Karst umgebracht zu haben. Das habe ich aber erst viele Jahre später begriffen.
Gab es denn Hinweise?
Wart mal, Michel. Ich erzähle der Reihe nach, sonst vergesse ich die Hälfte.
Als unser Vater also ins Dorf gefahren war, hat uns unsere Mutter gepackt und zu ihrer Schwester gebracht, die auf einem anderen Hof wohnte, nicht weit von uns. Sie fand es besser, dass wir die ganzen Umtriebe mit der Polizei und dem toten Karst irgendwie nicht mitkriegen würden.
Michel räusperte sich.
Ja, gut. Das kann ich quasi aus mütterlicher Sicht sogar verstehen. Es gab zum Beispiel bei uns zu Hause vor der Haustür eine Weile Verkehrsunfälle. Es war wie verhext: genau vor unserem Haus. Als erstes hat meine Mutter mich jeweils ins hinterste Zimmer verbannt, damit ich ja nichts mitbekam. Dafür hat sich dann alles in meiner Fantasie abgespielt. War auch nicht besonders lustig. Wahrscheinlich habe ich mir die Verletzten drastischer vorgestellt, als sie es in Wirklichkeit waren. Aber erzähl weiter.
Ja. Ich komme jetzt zu einigen Fakten. Der Karst hatte insge samt sieben Messerstiche. Zwei im Rücken und fünf in der Brust. Jeder der einzelnen Stiche wäre bereits lebensgefährlich gewesen. Zusammen aber waren sie tödlich. Er sei wohl ziemlich schnell verblutet. Der Tod musste mitten in der Nacht eingetreten sein oder am ganz frühen Morgen. Da gab es zwei verschiedene Gutachten. Meine Schwester hatte ihn ungefähr um acht Uhr morgens gefunden. Wir hatten ja Schulferien.
Michel schaute ihn fragend an.
He ja, sonst wären wir schon längst in der Schule gewesen.
Aha. Ich verstehe. Und weiter?
Die Polizei fand ein Testament. Karst hatte alles meinem Vater vermacht. Den Hof und das Land und ein bisschen Geld auf der Bank. Und Geld, das er schwarz auf dem Hof versteckt hatte. Dazu komme ich noch. Somit hatten meine Eltern ein Motiv. Zweitens hatten sie in den Papieren meines Vaters ein Dokument gefunden, das Blutspuren aufwies.
Ja und?
Die Polizei fand heraus, dass es Blut vom Karst war.
Aha. Und auf dem Motiv und dem Blut bauten sie die Anklage auf. Verstehe. Oder gab es noch andere Hinweise?
Meines Wissens nicht. Aber die beiden Dinge wogen schwer: das Testament und das Blut.
Michel wiegte den Kopf.
Hatte man die Tatwaffe gefunden?
Nein. Das war ja das Übel. Keine Tatwaffe und keine fremden Fingerabdrücke. Es gab im ganzen Haus nur Karsts eigene Spuren und natürlich die von uns. Die von uns allen waren ja klar zu erwarten, denn wir alle waren tagtäglich in seinem Haus zugange.
Michel nickte.
Ja. Ich verstehe. Karst hatte nach deinen Aussagen keine Familie. Das heißt, es gab überhaupt keine Verwandten mehr, potenzielle Erben oder so? Ist eigentlich außergewöhnlich.
Ja, aber es war offenbar genau so. Karst stand menschenseelenallein im Leben und hatte praktisch nur uns. Insofern war es ja auch logisch, dass er uns – quasi seiner Ersatzfamilie – alles vermachte.
Ja, ich verstehe. Sind deine Eltern denn rechtsgültig verurteilt worden?
Nein, nein. Sie sind dann nach langem Hin und Her mangels Beweisen wieder entlassen worden. Es gab keine Beweise. Es gab nur das Motiv und diese Blutspuren. Mein Vater erklärte die übrigens damit, dass sich Karst sehr oft beim Rasieren geschnitten hatte, was auch stimmte. Das sahen wir alle immer wieder.
Michel guckte skeptisch.
Doch, glaub mir. Du kennst doch das bei diesen alleinstehenden Männern auf dem Land. Sie rasieren sich alle zwei Wochen mehr recht als schlecht, haben kein gutes Messer, sind ungeschickt, verwenden vielleicht sogar nur kaltes Wasser und haben keinen guten Spiegel, von Rasierschaum ganz zu schweigen.
Also gut. Karst rasiert sich ungeschickt, schneidet sich, das Blut tropft auf ein Dokument. Das Dokument wird unter den Sachen deines Vaters gefunden. Ja, das ist leider sehr ungeschickt. Hatte man denn eine genaue Vorstellung von der Tatwaffe?
Stocker stutzte.
Ja, ich meine, aufgrund der Wunden. Hatte die Polizei eine Vorstellung, was für eine Art Messer es hätte sein müssen? Ich meine diese Tatwaffe, die man nicht gefunden hatte.
Ach ja, genau. Es hätte ein Messer mit einer ungewöhnlich breiten Klinge sein müssen. Und aufgrund der Wunden sogar zweischneidig. Bei meinem Vater fand man sicher das eine oder andere Messer, aber keines mit solch einer Klinge.
Aha. Ein zweischneidiger Dolch mit breiter Klinge. Sogar ungewöhnlicher breiter Klinge, sagst du? Das gehört sicher weder damals noch heute zur Standardausrüstung eines Bauernhofes, das glaube ich gerne. Lässt ja auch schon Rückschlüsse auf ein bestimmtes Täterprofil zu.
Den letzten Satz murmelte Michel mehr so vor sich hin.
Was meinst du, Michel?
Nichts. Nichts. Es ist eh zu früh für irgendwelche Rückschlüs se. Sag mal, Stocker, nichts für ungut, aber jetzt brauche ich noch mal ein Bier. Ich habe so einen Durst bekommen.
Ja, ja. Ich bestell dir eins.
Danke, Stocker. Sag mal, gab es denn überhaupt keine anderen Spuren oder Verdächtigungen in dem Fall?
Doch, doch. Zuerst konzentrierte sich die Polizei wohl ausschließlich auf meine Eltern. Wir Kinder kriegten dann auch mal Besuch von einer Art Polizeitante, die uns befragte, aber natürlich ohne Resultat.
Frau Stocker brachte das Bier für Michel. Und für ihren Mann eine Karaffe mit Wasser. Er schenkte sich ein.
Zum Wohl, Michel.
Sie hoben beide die Gläser.
Zum Wohl, Stocker.
Stocker räusperte sich.
Plötzlich kamen ganz verrückte Gerüchte auf. Ich habe keine Ahnung, woher die kamen.
Was für Gerüchte?
Um das zu verstehen, muss ich dir von einer äh … wie soll ich das sagen? Ja, von einer Eigenart Karsts erzählen.
Stocker nahm noch einmal einen großen Schluck Wasser.
Stell dir ein mageres Männlein vor. Fast ein bisschen das Klischee eines – oder noch besser: die Karikatur eines armen Bäuerleins. Krumme, magere Beine, zerfurchtes Gesicht, verstrubbeltes graues Haar, zwei listige, kleine Äuglein. Meckerstimme, wie bei einer Ziege. Er rauchte gerne Villigerstumpen. Seine spitzige Nase war ziemlich rot – und nicht von der Kälte …
Beide lachten.
Klingt nicht grad nach einem sympathischen Zeitgenossen.
Nein, nicht wirklich. Aber zu uns Kindern war er direkt – wie soll ich sagen – liebevoll. Ich glaube, er mochte uns. Wie auch immer – jetzt habe ich den Faden verloren …
Du wolltest von Gerüchten erzählen.
Ja, ja. Genau. Eben, er hatte eine Eigenart, von der jeder im ganzen Umkreis wusste. Er war neugierig.
Na ja, neugierig sind wir alle, oder?
Ja, aber bei ihm nahm es krankhafte Züge an. So weit wussten wir Kinder das natürlich nicht. Aber es muss wirklich massiv gewesen sein. Er war ja ganz allein. Weißt du, was er jahrelang als Lieblingsbeschäftigung an den langen Abenden in seiner Einsamkeit getrieben hat?
Nein. Aber du wirst es mir gleich verraten, nehme ich an.
Stocker grinste.
Er hat die ganze Umgebung ausspioniert. Und zwar systematisch und beharrlich. Er ist Abend für Abend rumgeschlichen, hat in die Fenster geguckt, hat gelauscht, hat sich die Ställe, die Scheunen angeschaut. Er wusste einfach immer alles. Er muss auch aus all dem Gesehenen und Gehörten oft die richtigen Schlüsse gezogen haben – die er dann am Tag darauf frisch fröhlich in der ganzen Gegend rumerzählt hat.
Ich sags ja: kein besonders sympathischer Zeitgenosse. Eine Art ländliche Sensationspresse, könnte man auch sagen.
Ja, stimmt. Das ist mir noch gar nie eingefallen. Bei einer gewissen Presse hätte er vielleicht mit dieser Eigenart eine Menge Kohle machen können.
Sie lachten beide.
Item, er hat mit diesem Rumerzählen viel Unfrieden in die Gegend gebracht. Mein Vater hat ihm oft ins Gewissen geredet. Behauptet wenigstens meine Mutter. Aber ich nehme an, es war für ihn wie eine Sucht und eine Art Ausweg aus seiner Einsamkeit. Vieles war ja auch harmlos. Er wusste zum Beispiel genau, wie viel Heu jeder in der Scheune hatte, wie viel Milch die Kühe gaben und so weiter, aber er war halt auch immer der Erste, der wusste, wann wer mit wem Streit hatte, welche Ehe kurz vor dem Abgrund stand. Er wusste wohl auch von heimlichen Liebschaften – alles eben, was die Leute lieber versteckt oder vertuscht haben wollten, hatte er halt irgendwie mitbekommen und es nicht etwa für sich behalten.
Michel hob sein leeres Glas in Richtung Theke und bat um Nachschub.
Das heißt, er hatte jede Menge Feinde im Dorf.
Stocker hob die Hände.
Genau. Vielleicht hatte er sogar gewisse Leute erpresst.
Vorsicht, Stocker. Das klingt mir jetzt aber zu sehr nach Spekulation. Um nicht zu sagen: nach Fantasie.
Stocker wehrte ab.
Nein, wart mal ab, Michel. Ich habe dir gesagt, dass mein Vater alles erbte, auch das Bargeld, das zu einem kleineren Teil auf der Bank lag und – jetzt kommts – zum größeren Teil im Haus in einer Stahlkassette verwahrt war. Verstehst du, worauf ich hinaus will? Woher sollte ein armes Bäuerchen denn Bargeld haben? Die Herkunft dieses Geldes konnte nämlich auch durch die Polizei nie geklärt werden. Offenbar wusste der Mörder nichts von dieser Kassette, oder es hat ihn eben nicht interessiert.
Michel nahm dankbar sein nächstes Bier entgegen.
Aha. Was hätte ihn denn sonst interessieren sollen, Stocker?
Eben. Entweder wollte der Mörder nicht mehr erpresst werden. Oder er wollte, dass der Alte kein Geheimnis verraten konnte. Oder – an diese Möglichkeit muss man auch denken: Rache.
Rache?
Stocker verdrehte die Augen.
Ja, eben für ein ausgeplaudertes Geheimnis.
Stocker stöhnte ziemlich dramatisch.
Findest du denn das alles so abwegig?
Michel winkte gelassen ab.
Lieber Stocker, möglich ist natürlich alles. Aber interessant sind natürlich in erster Linie die Fakten. Wobei ich dir mit der Rache recht geben muss, denn sieben Stiche mit einem breiten, zweischneidigen Dolch – mein lieber Schwan –, das könnte uns von einer großen Wut erzählen, die bekanntlich rot sieht. Spontan kann es aber auch nicht gewesen sein, denn wer trägt schon zufälligerweise so ein Messer mit sich rum? Aber genau dies sollen wir vielleicht denken. Damit wir nämlich in die Irre geführt werden.
Michel grinste und leerte sein Bier.
Und so weiter und so weiter. Du siehst, lieber Stocker, Spekulationen geben sich meist die Hände und gehen im Kreis herum. Am Ende sind wir so klug als wie zuvor.
Gut. Du hast recht. Ja, ja, sicher. Du hast ganz bestimmt recht.
Also, Stocker. Wie ist es? Kommt jetzt noch die Pointe, oder wars das?
Nein, nein, das wars. Eine Pointe gibt es nicht, außer dass man den Fall nie aufgeklärt, also den wahren Mörder nie gefunden hat und mein Vater an dem mangels Beweisen freigelassen zerbrochen ist.
Das tut mir leid, Stocker. Das ist wirklich eine schlimme Sache. Aber … warum erzählst du mir das jetzt? Ich meine, erst jetzt? Wir kennen uns doch schon …
Stocker verzog sein Gesicht zu einer wahren Leidensmiene und beugte sich flüsternd zu Michel.
Ich musste diese Tage meine Mutter ins Pflegeheim bringen. Das war eine schlimme Sache, wie du dir denken kannst. Zu meiner Überraschung war sie nur dazu bereit, wenn ich ihr versprechen würde, den Fall noch einmal untersuchen zu lassen.
Michel blickte ihn fassungslos an.
Ist das dein Ernst?
Stocker nickte.
Du hast es ihr versprochen?
Stocker nickte wieder.
Bist du denn wahnsinnig? Ein Fall wird praktisch nie wieder aufgenommen, außer wenn erhebliche neue … außerdem … mein Gott, wie lange ist denn das jetzt her?
Nicht ganz dreißig Jahre, äh …, ziemlich genau siebenundzwanzig Jahre.
Michel ließ sich erschöpft sinken.
Sag mal, wenn ich heute nicht zu dir ins Restaurant gekommen wäre …
Stocker unterbrach ihn.
Dann wäre ich morgen früh in deinem Büro gestanden. Als du heute Mittag gekommen bist, hatte ich gedacht, schau an: Der Himmel schickt ihn, ja – und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, heißt es doch irgendwo, oder? Und eine Hand wäscht die andere. Denn eines verspreche ich dir, wenn es dir gelingen sollte, denn Fall wieder aufzunehmen …
Michel richtete sich auf.
Moment mal! Sagtest du, äh … Wille?
Stocker war ganz verdattert.
Ich sagte, wo ein Wille ist …
Gut. Gut. Ich glaube, äh … ich sehe da vielleicht einen Weg. Bring mir bitte die Rechnung. Ich muss schleunigst ins Büro.
Nein, nein, das geht selbstverständlich alles aufs Haus, das versteht sich doch von selbst.
Er winkte seiner Frau. Die brachte ihm sofort ein großes, gelbes Kuvert.
Hier, Michel. Ich habe dir alles, was ich dir erzählt habe, aufgeschrieben, inklusive sämtlicher Namen aller Beteiligten und so weiter. Für Fragen stehe ich selbstverständlich jederzeit zur Verfügung. Und meine Mutter auch.
Michel verschwand bereits durch die Tür.
Stocker rief ihm noch hinterher, dass er selbstverständlich auf Lebzeiten sein persönlicher Gast im Restaurant sei, aber dies konnte Michel längst nicht mehr hören.
Michel konnte sehr flink sein, wenn es sein musste.