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SIEBEN

Michel saß allein in seinem Büro und wartete.

Auf was er wartete, war ihm selbst nicht klar. Abgesehen davon, dass er die Wille in sein Büro bestellt hatte und sie – laut Sommer, der die Telefonzentrale hütete – nicht auffindbar war. Aber er wartete natürlich nicht wirklich auf sie. Er wartete auf etwas anderes. Aber worauf?

Seit Wochen gab es im Grunde nichts zu tun, und das war ihm in seiner ganzen Karriere als Polizist noch nie passiert. Nach dem Telefonat mit Tanner hatte er einen halben Morgen lang über dieses Phänomen nachgedacht, war aber zu keiner befriedigenden Antwort gekommen. Seine Gedanken kreisten zwanghaft um die Idee, dass es sich um so etwas wie die Ruhe vor einem Sturm handelte. Aber um welchen Sturm denn, um Gottes willen? Woher wird er kommen? Und wird er ihm gewachsen sein?

In der Nacht hatte er schon wiederholt von seinem eigenen Tod geträumt. Diese Träume, deren Bilder jeweils spätestens beim Duschen verblassten – als wären es Figuren am Sandstrand, und ein, zwei Wellen genügten, um sie zum Verschwinden zu bringen –, hatten trotz allem ihre Wirkung auf seine Tage. Er ertappte sich immer häufiger dabei, unbeweglich dazusitzen, ein Loch in die Luft zu starren und nachzudenken.

Jetzt hatte er aus schierer Verzweiflung begonnen, über sich selbst nachzudenken, und da das gänzlich ungewohnt für ihn war, denn er hatte keinerlei Übung in diesem Geschäft, quälte er sich langsam wie eine Schnecke auf ihrem Schleim von einem Gedanken zum nächsten.

Gegen Mittag kam er zum Schluss, dass er doch im Grunde ein durch und durch gutmütiger Mensch sei. Jawohl: durch und durch gutmütig.

Er lächelte mitfühlend bei diesem Gedanken, als rühre ihn die Person, über die er gerade so angestrengt nachdachte. Auch die Formulierung gefiel ihm, sie erfüllte ihn mit einem seligen Glücksgefühl.

Durch und durch gutmütig!

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.

Er konnte zwar fuchsteufelswild werden, ja sogar toben, fluchen wie ein Bürstenbinder und wüten, dass der Boden zitterte, auf dem er stand, aber meist hatten diese Zustände eine sehr kurze Halbwertszeit. Seine zornigen und aufbrausenden Gemütszustände waren wie Gewitter: heftig und mächtig, theatralisch und laut, aber zeitlich begrenzt. Sie entwickelten sich selten zu Dauerregen und langen Schlechtwetterperioden.

An dieser Stelle seiner Analyse nickte er beifällig mit seinem mächtigen Haupt. Dann ergänzte eine Stimme in ihm: Und wenn er zornig wäre, hätte das sowieso immer einen triftigen Grund. Jawohl.

Er legte seine Stirn in Falten.

Was ihm allerdings in letzter Zeit immer häufiger passierte: Er hatte schlechte Laune. Und zwar eine alles durchdringende grimmig griesgrämige, bodenlos schlechte Laune. Dieser Zustand stellte sich schon ein, wenn er sich am Morgen schwer ächzend aus dem Bett hievte. Dieses Gefühl legte sich, so schien es ihm, wie eine zweite Haut um sein ganzes Wesen. Es umschloss ihn gar mit einem Panzer, der zäh, zerfurcht und wie aus hartem Leder schien.

Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er zugebenermassen schlechte Laune quasi als Mimikry benutzt. Als ein Kostüm sozusagen, das er immer griffbereit zur Hand hatte. Gegen alle möglichen Ansinnen und Situationen konnte er sich beliebig hinter der Maske der schlechten Laune verkriechen, auch wenn er innerlich fröhlich und aufgestellt war. Was die Leute dann von ihm hielten, war ihm egal.

Aber jetzt war die miese Laune nicht gespielt. Sie hatte ihn fest im Griff. Es war ihm beinahe unheimlich, und er fühlte sich unfähig, diesen Zustand zu ändern. War das jetzt die Strafe für sein frevelhaftes Spiel? Hatte ihn seine Mutter nicht oft genug davor gewarnt, dass ihm seine Grimassen eines Tages bleiben würden, wenn er sie zu oft schneiden würde.

Michel stutzte.

Vielleicht könnte er jetzt ja den umgekehrten Weg gehen? Nämlich so tun, als hätte er gute Laune.

Er versuchte zu lächeln, aber er spürte, dass sich sein Gesicht nur zu einer weiteren Variante des Grimms verzerrte. Er versuchte, sich an etwas Lustiges zu erinnern, aber es war wie verhext, es wollte ihm nicht einmal ein Witz in den Sinn kommen. Er schlug verärgert mit der flachen Hand auf den Bürotisch, sodass die Bleistifte fröhlich ins Hüpfen kamen.

Heißt das, dass ich eintreten darf, Chef?

Zwischen Tür und Angel stand ein Wesen, das übers ganze Gesicht strahlte. Michel schaute verständnislos.

Sie hob die Hand und winkte, als wollte sie eine Nebelwolke wegwinken, die sich im Büro gebildet hatte.

Hallo, ich bins, Ihre neue Mitarbeiterin, Lara Wille.

Jetzt erst erkannte Michel sie.

Er glotzte sie weiter an. Dann schüttelte er seinen Kopf, als wolle er dadurch seine Starre lösen.

Was ist denn mit dir passiert? Bist du in Trauer?

Sie schüttelte fröhlich ihren Kopf.

Nicht dass ich wüsste. Wie kommst du denn darauf?

Ich dachte immer, Frauen schneiden sich nur die Haare freiwillig so kurz, wenn entweder jemand gestorben ist oder sie verlassen wurden.

Nein, ganz im Gegenteil.

Sie schüttelte unwillig den Kopf.

Das ist ja eine merkwürdige Theorie, muss ich sagen.

Er machte eine unwirsche Bewegung mit derselben Hand, mit der er gerade noch auf den Tisch gehauen hatte.

Es geht mich sowieso nichts an.

Ja. Das stimmt.

Sie lachte.

Darf ich mich setzen?

Michel konnte gerade noch verhindern, dass aus seinem Mund eine unfreundliche Bemerkung entschlüpfte.

Sie wartete nicht auf seine Erlaubnis. Sie setzte sich einfach.

Was kann ich denn für Sie, also äh … ich meine für dich tun, neue Mitarbeiterin Wille?

Im Grunde bereute er jetzt, dass er ihr so schnell das kollegiale Du angeboten hatte, obwohl es natürlich üblich war. Aber er hätte ja auch warten können, bis die Probezeit um war. Sie aber lachte ihn entwaffnend an.

Du hast mich doch bestellt. Wenigstens hat es Kollege Sommer mir so ausgerichtet.

Sie machte Anstalten, sich zu erheben.

Aber ich kann auch wieder …

Michel winkte ungeduldig ab.

Ja, ja, stimmt. Ich habe dich tatsächlich suchen lassen. Wo warst du übrigens?

Sie legte ihren Kopf schräg.

Erinnerst du dich, dass du geruht hast, mir einen Fall zu übergeben? Übrigens …

Sie betonte das Wort ziemlich frech.

Wusstest du, dass zu besagtem Fall keinerlei Akten mehr existieren, Michel?

Er guckte sie irritiert an.

Wie? Keine Akten? Das kann doch nicht …

Doch, doch. Es ist so. Der Fall ist zwar nie gelöst worden, aber nach fünfundzwanzig Jahren spätestens werden Papierakten entsorgt. Damals gab es ja noch keine elektronische Datenverarbeitung.

Das Letzte sagte sie achselzuckend mehr zu sich selbst.

Er verlagerte sein Gewicht in Richtung Stuhllehne, genussvoll, wie es schien, und – siehe da: jetzt konnte er plötzlich lächeln.

Tja, das macht deine Aufgabe natürlich nicht einfacher. Ich nehme an, du willst mir den Fall zurückgeben, Wille?

Sie beantwortete sein Lächeln und fing an, mit dem Stuhl zu kippeln.

Nein, nein, so einfach ist das nicht mit mir. Ich kann ziemlich hartnäckig sein. Ich habe nämlich auch schon etwas gefunden.

Aha. Und was hast du gefunden?

Genauer gesagt: Ich habe eine Person gefunden. Nämlich einen pensionierten Beamten, der damals an den Untersuchungen beteiligt gewesen ist. Und zwar in leitender Position.

Michel schnäuzte sich in eine seiner Windeln. Es klang wie bei der Morgentoilette im Elefantenhaus.

Ich gratuliere. Und wie hast du den aufgestöbert?

Sie ließ sich mit dem Stuhl wieder nach vorne kippen und nestelte in ihrer Tasche.

Ich habe in den Personalakten geguckt, wer denn damals in der Abteilung Leib und Leben so gearbeitet hatte. Und wer wann pensioniert wurde und wer wann gestorben ist.

Michel runzelte seine Stirn.

Wie bist du denn an die Personalakten gekommen?

Sie seufzte und verdrehte die Augen.

Keine Angst, Chef, alles nach Dienstvorschrift. Ich habe ganz brav in der Personalabteilung nachgefragt. Das ist ja nicht verboten, oder?

Michel wiegte zwar bedeutungsvoll den Kopf, aber leider hatte sie recht, und er konnte nichts einwenden.

Und weiter?

Ich werde Albin Blumenstengel gleich nachher in seiner Wohnung besuchen.

Blumenstengel? Ist das wirklich sein Name? Michel konnte ein Grinsen nicht verkneifen.

Ja, so heißt er. Du kannst ja seine Personalakte anschauen, bitte.

Nein, nein. Ich glaube dir ja. Das war wohl vor meiner Zeit. Wie lange ist er denn schon pensioniert?

Sie blätterte in ihrem Notizbuch.

Seit vierundzwanzig Jahren.

Na, dann drücke ich die Daumen. Der ist ja dann … äh …

Ja, Herr Blumenstengel ist siebenundachtzig Jahre alt. Er hat sich zwei Jahre früher pensionieren lassen. Er klang am Telefon aber, äh … wie soll ich sagen … ganz klar und vernünftig. Er hat sich auch sofort an den Fall erinnern können.

Hat er? Was du nicht sagst, Wille! Na, dann kann ja alles noch gut werden.

Michel beugte sich vor und schwebte plötzlich in einer Wolke guter Laune.

Aber was erwartest du denn von ihm? Offensichtlich konnte der Fall ja nicht gelöst werden, oder?

Lara Wille erhob sich.

Ich weiß ja nicht, wie es zu deiner Zeit war, aber ich habe in meiner Ausbildung gelernt, dass Erwartungen und vorgefasste Meinungen der Todfeind jeder Ermittlung sind.

Sie blickte ihn herausfordernd an.

Kann ich jetzt gehen, Chef?

Ja, klar, geh nur, geh nur. Wie heisst es so schön: wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, ha, ha, ha.

Er lachte unbändig. Sie verdrehte die Augen. Michel kappte sein Lachen.

Okay, tut mir leid. Den Spruch hast du sicher schon tausendmal gehört, stimmts?

Sie antwortete nicht.

Also, geh nur. Aber, äh … bring mir bitte noch die Akte D’Arcy vorbei. Du hast sie ja, nehme ich an, noch auf deinem Schreibtisch liegen. Selbstverständlich nur, wenn es dir nichts ausmacht, äh … wollte ich sagen.

Sie drehte sich noch einmal um, als wollte sie etwas erwidern. Sie hob aber nur die Hand, nickte und verließ dann betont langsam das Büro.

Der Salamander

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