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Frühe Eindrücke

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Nun kann ich wohl endlich mit mir selbst beginnen. Meine Geburt, die Kleinkinderzeit waren in keiner Weise irgendwie besonders. Ein unauffälliges, normales Kind, so wuchs ich auf. Nur die Zeit war unverwechselbar, unwiederbringlich wie jede Zeit.

Entbunden wurde meine Mutter von mir in der Geburtsklinik Karlshorst in Berlin. Sie erlitt dabei einen Dammriss, die Hebamme hatte ihr eine Wehenspritze gegeben, damit sie schneller niederkommen sollte. Das war damals noch ziemlich unüblich, und die Hebamme fürchtete den Arzt. Sie bat meine Mutter, ihm nichts von der Spritze zu sagen.

Meine Eltern waren etwas enttäuscht über diese Art der Entbindung von meiner Winzigkeit. Denn eigentlich hielten sie viel vom Fortschritt der Wissenschaft und der Medizin. Sie sprachen immer mit einer gewissen Ehrfurcht von Dingen, von denen sie wenig wussten. Meine Mutter stillte mich ein Jahr lang und wickelte, fütterte, badete mich nach den neuesten Einsichten und Regeln der damaligen Säuglingspflege. Sie widmete sich mir voll und ganz. Seit meiner Geburt war sie nicht mehr berufstätig. Ihre letzte Stelle war im Staatstheater am Gendarmenmarkt, wo sie in der Theaterwerkstatt an Bühnendekorationen nähte. Bei Gustav Gründgens sozusagen. Aber sie hat das Theater kein einziges Mal während einer Vorstellung besucht.

Meine älteste Erinnerung an mich selber kann ich nicht genau datieren. Immer, wenn ich es versuche, stoße ich auf Überliefertes. So fällt mir die erste Erinnerung an mich mit den Fotos zusammen, die von mir als Kleinkind existieren. Man berichtete mir, dass ich mit einem Jahr laufen konnte, niemals krank und immer in Bewegung war. An meinen Bruder hab ich die Erinnerung, dass er mich festhalten und umarmen wollte, während ich wegstrebte. So jedenfalls dokumentiert es ein Foto. Auch den Zärtlichkeiten von Tanten und Onkeln versuchte ich zu entgehen. Vor ihren Küssen verspürte ich einen leichten Ekel. Ich glaube, das geht vielen Kindern so. Sie wagen es nur nicht einzugestehen, weil sie bemerken, dass das den Erwachsenen nicht gefällt. Mir war das egal. Die Erinnerungen an meinen Bruder aus früher Zeit sind außerordentlich spärlich. Ich kann mich entsinnen, dass er Mensch-ärgere-dich-nicht mit mir spielte. Auch wenn er keine Lust hatte. Denn ich erwartete ihn so dringlich, wenn er von der Arbeit kam, dass er es nicht fertigbrachte, mir diesen Wunsch abzuschlagen. Er lernte damals Schriftsetzer bei M&K (Max Krause) in der Alexandrinenstraße. Ich erinnere mich, dass mein Bruder häufig den Werbespruch der Firma im Munde führte: „Schreibst du ihr, schreibst du mir, schreibst du auf M&K-Papier." Diese Druckerei sank bei einem Großangriff im Februar 1945 in Schutt und Asche, wie das ganze Presseviertel.

Mein Bruder las mir aus seinen Lesebüchern vor. Es waren immer die gleichen Balladen. "Nis Randers”, ”Das Riesenspielzeug", "Herr von Ribbeck im Havelland” kann ich noch heute auswendig hersagen. 1932 hatte man meinen Bruder in eine weltliche Schule geschickt, aber schon 1933 musste er in eine Volksschule umgeschult werden, weil Hitler die weltlichen Schulen verbot. Insgesamt muss die Schule für ihn eine ziemliche Drangsal gewesen sein. Die Kinder hänselten meinen Bruder wegen seiner abstehenden Ohren, und er war unfähig, sich zu wehren. Das hat er auch später nicht gelernt. Damals, als er mit mir Mensch-ärgere-dich-nicht spielte, habe ich von seinen Kümmernissen nichts geahnt. Wahrscheinlich habe auch ich, als seine kleine Schwester, ihn ausgenutzt. Denn er tat, was ich wollte. Wenn er zum Spielen keine Lust hatte, bohrte ich hartnäckig, bis er nachgab.

Genau erinnere ich mich an den Tag, an dem er in den Krieg musste. Das war im Frühsommer 1943, er war gerade siebzehn Jahre alt. Meine Mutter und ich waren auf dem Lindenberger Hof. Unerwartet stand mein Bruder vor der Küchentür. Er hielt ein beschriebenes Blatt in der Hand und zeigte es meiner Mutter, die schnell zu ihm hingetreten war. Sie schaute erschreckt auf das Papier und nahm dann meinen Bruder beim Kopf. Dabei flossen ihr die Tränen über das Gesicht. Dann saß mein Bruder am großen Bauerntisch in Jänickes Küche und aß. Wir saßen um ihn herum und sahen zu, wie er kaute. Mein Bruder blieb nur kurz. Gleich nach dem Essen stand er auf, wollte gehen. Meine Mutter bat ihn, zu warten. Sie machte ihm ein Paket Stullen zurecht. Die nahm er und ging. Zuvor hatte er auch mich kurz umarmt. Er schüttelte meine Mutter ab, die ihn begleiten wollte. Der Abschied kann nicht länger als zwanzig Minuten gedauert haben. Auf meine Frage antwortete meine Mutter eher beiläufig, dass es nun soweit sei, auch Heinz müsse in den Krieg. Ich war nicht überrascht, hatte oft angehört, wenn die Eltern ihre Befürchtungen austauschten. Daher war mir geläufig, was jetzt eingetroffen war. Ich fragte nicht weiter.

Er hatte drei- oder viermal Urlaub. Immer nach einer Verwundung, die dann gerade erst notdürftig ausgeheilt war. Granatsplitter trafen ihn am Kinn, an der Schläfe, am Oberarm und in die Hand. Jede dieser Verwundungen kommentierten meine Eltern mit der Bemerkung, dass er Glück gehabt habe. Darüber wunderte ich mich, begriff aber bald, dass sich diese Bemerkung auf schlimmere Möglichkeiten bezog. Bevor er wieder einrücken musste, erwogen unsere Eltern mit ihm, wie er den Urlaub verlängern könnte, welche List anzuwenden war, um ein paar Tage herauszuholen. Mein Bruder schüttelte den Kopf bei solchen Erwägungen, er wollte davon nichts wissen, sondern meldete sich pünktlich wieder zur Stelle. Auch die Ermunterungen meines Vaters, beim Fronteinsatz in Gefangenschaft zu gehen, überzulaufen, quittierte er mit ratlosem Achselzucken. ''Wie du dir das vorstellst'', entgegnete er schüchtern. Ich bin im Zweifel darüber, ob ich mich wirklich an die Gespräche selbst erinnere. Oder ob die Quelle meiner Erinnerung ihre wiederholte Besprechung in späteren Jahren ist. Denn als mein Bruder fünf Jahre später aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrte, wurden diese Dinge wieder und wieder erörtert. Einzelne Bilder sind mir aber wirklich geblieben, die mich an seine Urlaube erinnern. Immer stand er ganz plötzlich in der Tür unserer Laube. Traurig, abgerissen und zerschunden. Auch an seine Verwundungen, an die durchtränkten Verbände und die noch nässenden Wunden kann ich mich erinnern. Ich ekelte mich und vermied es, ihm nahe zu kommen. Einmal ist meine Mutter mit mir nach Merane gefahren, um ihn dort im Lazarett zu besuchen. Eindrücke hinterließen das neblige, kalte Klima der Stadt und das ungeheizte Zimmer, in dem wir schliefen. Auch die Menschen auf überfüllten Bahnhöfen während einer nicht enden wollenden Bahnfahrt mit vielen Zwischenaufenthalten. An den Besuch bei ihm im Lazarett kann ich mich dagegen nicht erinnern. Es ging ihm schlecht damals.

An einen anderen Gefährten meiner Kindheit habe ich genaue Erinnerungen. Das ist mein Cousin Klaus. Gleichaltrig verbrachten wir viel Spielzeit zusammen. Er war der Ältere meiner Tante Lucie, der Schwester meiner Mutter, drei Jahre später kam noch Karin dazu. Sie haben wir meistens nur geärgert. Das nimmt sie uns heute nicht mehr übel. Tante Lucie trug damals Zeitungen aus, und deshalb brachte sie ihr Kind zur älteren Schwester. Mit Klaus war ich gern zusammen. Er war gemütvoll und wollte, was ich wollte. Am liebsten fasste ich immer seine Ohren an, weil die so klein und fleischig waren. Aber das mochte er nicht und wehrte mich ab. Ein Foto, aufgenommen im Buddelkasten unseres Gartens verrät mir, dass mir nicht jede zärtliche Annäherung lästig war. Hier umarme ich meinen Klaus ganz innig, der ein eher gequältes Gesicht dazu macht. Ich denke nicht, dass man mir das angetragen hatte für das Foto. So etwas war bei uns nicht üblich. Ein anderes Foto zeigt uns beide inmitten einer Gruppe von Schafen, die wohl damals noch auf den Feldern an der Straße 6 gehütet wurden. Dort, wo jetzt ein großer Müllplatz entstanden ist. Ich bin in meiner typischen Haltung von damals festgehalten. Auf zwei Fingern nuckelnd, vergrabe ich die andere Hand in der dichten Wolle eines Schafrückens. Dazu soll ich dann ”Schäfchen ei” gesagt haben, wie man mir später glaubhaft versicherte. Mein Cousin Klaus sieht auf allen diesen Bildern recht rund aus. Er aß sehr gern und wurde mir deshalb immer als Vorbild hingestellt. Manchmal strich er sich über seinen kleinen Bauch und sagte: „wie Göring“. Das löste ein beachtliches Gelächter aus, worüber wir beide erschraken, aber schließlich mitlachten. Aufgrund dieses Erfolges wiederholte er das. Er hatte das wohl von seiner Mutter aufgeschnappt, die voller Witz war.

Dass man auf "Gemütlichkeit" 1941, so etwa muss das gewesen sein, darüber so einfach lachen konnte, besagt schon viel. Allerdings nicht alles.

Von den in der SPD organisierten Vereinskollegen, wie man sich hier nannte, blieben die meisten, was sie waren. Allerdings ermunterten, 1940/4l in der Zeit der deutschen Siege, einige ihre Söhne, zur Luftwaffe zu gehen. Man versprach sich davon einen Vorzugsplatz in der Schlachtordnung. Die jungen Männer, Altersgenossen meines Bruders zumeist, kehrten fast alle nicht zurück. Ich kann mich allein an sechs von ihnen erinnern. Zwar weniger an die jungen Männer selbst, als vielmehr an ihre Namen und die Tragödien in der Nachbarschaft, die sich um sie drehten. Einige von den Indifferenten, wie sie mein Vater nannte, wurden Nazis. Zwei gingen zur SA, und Herr Peküh wurde Blockwart. Er sammelte für den Eintopf und die Winterhilfe. Aber mein Vater gab nichts oder nur Pfennige. Dennoch kam er immer wieder. Denunziert hat er wohl niemanden. Dafür wollte er später von meinem Vater einen Schein für die Entnazifizierung, einen Persilschein, wie das dann hieß. Er bekam ihn nicht, obwohl er sich beim Betteln regelrecht erniedrigte. Nachsicht und Vergeben waren nicht die Stärken meines Vaters. Dann gab es noch den Luftschutzwart Herrn Schmidt, mit dem mein Vater manchen Strauß ausfocht, weil der immer unsere Verdunklungsvorrichtungen beanstandete. Der eine SA-Mann war vorher im Roten Frontkämpferbund, und mein Vater kannte ihn sehr genau. ”Der drückt sich jetzt hier nur so vorbei”, sagte mein Vater. Da er mit seiner Familie schon vor dem Ende des Krieges von ''Gemütlichkeit" wegzog, kann ich mich an ihn nur ganz vage erinnern. Niemand wusste, wo er abgeblieben ist. An den zweiten SA-Mann kann ich mich dagegen erinnern, ich kannte ihn, wie man als Kind jemanden kennt. Ich spielte mit seiner Tochter Eva. Aber das sollte ich nicht und bezog deshalb die erste und einzige Tracht Prügel von meinem Vater. Später, nach dem Krieg lockerte sich das Spielverbot, aber ich hatte nun keine Lust mehr, mit der Eva zu spielen. Sie war ohnehin älter, und ich mochte sie nicht, weil sie mich nicht für voll nahm.

Meine ältesten Erinnerungen an Nachbarn haben sich durch Erstaunen eingeprägt. Verwundern war mein vorherrschendes Empfinden, so sagt mir mein Gefühlsgedächtnis. Ich fand, dass alle unsere Nachbarn nette Leute waren. Die eine Nachbarin schenkte mir Kekse, sie hieß Frau Knospe, sie hat sich später das Leben genommen. Die andere ließ mich zu ihren Kaninchen, damals hatten wir selbst noch keine. Sie hieß für mich die Mucki-Tante. Eine andere, Frau Straube, führte lange Gespräche mit mir, und Frau Schneider brachte mir das Beten bei. Aber das behielt ich damals für mich. Mit den Männern stand ich auf weniger vertrautem Fuß. Sie schienen mir unnahbar und waren auch meistens auf Arbeit. Ich machte auch hier die Erfahrung, dass sie nicht so furchtbar waren, wie ich gedacht hatte. Mein erleichtertes Erstaunen über die netten Leute muss daher gerührt haben, dass ich vieles von den Gesprächen meiner Eltern aufgeschnappt habe, die mir die Nachbarn in keinem allzu günstigen Licht erscheinen ließen. Es gab da Gesprächsfetzen, die etwa so gingen: "Der freut sich auch über jede versenkte Bruttoregistertonne und denkt nicht daran, dass wir das alles einmal bezahlen müssen" oder: „Die kriegt ihren Arm auch nicht hoch genug." Im Unterschied zu den Männern erwarteten einige Frauen etwas vom Führer, sie waren der NS-Frauenschaft beigetreten und sorgten dafür, dass bei bestimmten Anlässen die Fahne auf dem Vereinsplatz gehisst wurde.

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