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"Die Russen kommen"
ОглавлениеDiesen Satz hörte ich gegen Ende des Krieges immer häufiger. Es wurden bestimmte Ortsnamen genannt, von denen es hieß, dass die Russen sie genommen hätten. Namen, die heute jeder kennt aus Film, Fernsehen und Geschichtsunterricht. Deshalb will ich mich über die militärgeschichtlichen Ereignisse nicht weiter verbreiten. Bevor ich berichten kann, was bei uns passierte, als Marschall Konews Truppen sich von Osten her der Reichshauptstadt näherten, um sie in einer Zangenbewegung zu nehmen, muss ich nachtragen, wie es meinem Vater erging, während meine Mutter mit mir zwischen "Gemütlichkeit" und Lindenberg hin und her pendelte.
Mein Vater baute bis zum Ende des Krieges an Flugzeugen in den Henschel-Werken in Schönefeld. Dort, wo heute der Flughafen liegt. Eigentlich baute er sie nicht, sondern kontrollierte Fremdarbeiter und Kriegsgefangene, die sie montieren mussten. Er musste aufpassen, dass sie nichts falsch machten, was manchmal vorkam. Dabei musste er genau sein, weil er auch kontrolliert wurde. Das bereitete ihm oft großen Kummer, worüber er mit meiner Mutter sprach. Besonders die russischen Kriegsgefangenen machten ihm Sorgen, weshalb er in dieser Zeit auch begann, ihre Sprache zu lernen. Das Wörterbuch und eine kleine Grammatik, die er dabei nutzte, sind 1943 bei Junckers in Berlin erschienen. Ich habe sie noch heute. Sehr weit hat es mein Vater mit seinen Russischkenntnissen nicht gebracht, aber für die damaligen Verhältnisse hat es wohl ausgereicht. Dafür, dass er von den Russen ihre Sprache lernte, sie ihm jedenfalls die Aussprache kontrollierten bei den wenigen Brocken, die er sich angeeignet hatte, gab mein Vater ihnen Brot. Denn er hatte die ganze Brotkarte für sich, während meine Mutter und ich in Lindenberg aßen. Meine Mutter wunderte sich mehrfach, dass mein Vater, der als Magenkranker niemals ein starker Esser war, unsere ganze Brotkarte verbraucht hatte. Das habe ich damals schon mitbekommen, natürlich, ohne es zu verstehen. In dieser Zeit hatten meine Eltern ziemlich viel Geheimnisse vor mir, was sonst nicht ihre Art war. Manchmal hatte mein Vater unsere Brotkarte auch eingetauscht für selbst gemachte Pantoffeln. Einmal tauchte ganz kurz ein Mann auf, den ich vorher nicht und auch niemals mehr danach gesehen habe. Wir trafen ihn auf der Brücke, meine Mutter und ich gingen in Richtung „Gemütlichkeit", mein Vater mit dem Unbekannten in die andere Richtung. Mein Vater schien sehr aufgeregt. Er ging mit meiner Mutter einige Schritte vor und flüsterte mit ihr. Mir war bange wegen ihres ungewöhnlichen Gehabes. Ich versuchte, den Mann anzuschauen, sah aber, dass er mir fremd war. Später erfuhr ich, dass dieser Mann, ein alter Freund meines Vaters, von einem Transport geflüchtet war und einige Tage in unserem Keller gelebt hatte. Das konnte ich mir schwer vorstellen, weil dieser Keller nur etwa 2 m² groß war und eine Höhe hatte, bei der gerade ich stehen konnte. Außerdem gab es an den Wänden, an denen Regale für Einweckgläser untergebracht waren, viele Kellerasseln, die ich - im Unterschied zu anderen Tieren - so gar nicht mochte. Dieses Bild vor Augen, leuchtete es mir ein, dass dieser Mann es dort nicht ausgehalten hatte, sondern immer in den Garten gegangen war. Das ginge nicht, meinte mein Vater, weshalb er ihn an diesem Abend zu seinem Freund Ernst Zentöfer brachte, der auch in einer Laube wohnte. Sie stand in Baumschulenweg an der Kiefholzstraße. Das erfuhr ich damals natürlich nicht, sondern erst lange Zeit später, als die geschiedene Frau von Ernst Zentöfer von meinem Vater diese Sache bescheinigt haben wollte, mit der sie allerdings gar nichts zu tun hatte. Es hieß, dass er mit einem falschen Pass geflohen sei, wohin, wussten meine Eltern nicht, und so haben sich seine Spuren für uns verloren.
Viel Zeit war inzwischen vergangen, als ich eines Junitages 2008 von Stolpersteinen in der Zeitung las, die für antifaschistische Widerstandskämpfer verlegt worden waren. Darunter der Name Paul Hirsch, der mich wie ein Blitz durchfuhr, denn es war der Name, der zwischen meinen Eltern fiel, wenn von dem für mich unbekannten Gast geredet wurde, um den es so viele Geheimnisse zu geben schien. Sofort suchte ich im Telefonbuch nach der Nummer von Helmut Hirsch, der als Sohn genannt, bei der Zeremonie anwesend war. Bei der ersten Friedrichsfelder Nummer schon hatte ich Glück, schnell kam eine Verabredung zustande.
Seitdem weiß ich, wie es mit dem Mann auf der Flucht weiterging und wie es endete, erfuhr etwas mehr von seinem tragischen Schicksal. Paul Hirsch wurde am 25.10.1907 in Berlin geboren, er war von Beruf Werkzeugmacher, gehörte zum Metallarbeiterverband, war seit 1927 in der KPD und gehörte zum Arbeitersportbund Fichte in Neukölln. Daher werden sie sich gekannt haben, mein Vater und er. Es erging dem Mann ähnlich wie meinem Vater, der auch erst durch die Rüstung Arbeit bekommen hatte. Seit 1934 arbeitete Paul Hirsch in den Askania-Werken in Mariendorf, wo sie hochpräzise Bordinstrumente für Flugzeuge herstellten. Wie mein Vater auch, der in den Henschel-Werken an Flugzeugen baute, war auch er uk gestellt, musste nicht an die Front.
Paul Hirsch wurde am 11. Juli 1944 festgenommen, im Rahmen einer Verhaftungswelle, mit der die Gestapo, vierzehn Tage vor dem Attentat auf Hitler, ein weitverzweigtes Netz von Widerstandsgruppen, die sich in Berliner Rüstungsbetrieben, in Mariendorf, Marienfelde, Weißensee und anderswo in Berlin gebildet hatten, zerschlug. Er galt als Rädelsführer und Hauptangeklagter, in der „Strafsache Hirsch" drohte ihm das Todesurteil. Nach schweren Misshandlungen versuchte er sich selbst zu töten. Bei der Überführung nach Potsdam, wo die Hauptverhandlung vor dem Volksgerichtshof stattfinden sollte, gelang es ihm, zu flüchten. Dass eine solche Flucht gelingen konnte, hatten sich meine Eltern damals so schwer vorzustellen vermocht, aber sie wussten auch nicht, dass man ihn dorthin im gesonderten S-Bahnabteil brachte. Da zur gleichen Zeit ein Vorortzug eintraf, gelang es ihm, im Gedränge des Bahnhofs seinen Bewachern zu entkommen. Das war am 28. und zwei Tage später, am 30. November 1944, fand die gerichtliche Hauptverhandlung statt, in der von den vierzehn Angeklagten vier zum Tode verurteilt wurden, andere zu hohen Zuchthausstrafen. Unter den zum Tode Verurteilten findet sich Karl Ladé, auch ein Freund meines Vaters, von dem offensichtlich auch er nicht wusste, welche Beziehungen es zwischen den beiden Freunden gab. Oder wusste er es doch? Aber er brachte das Todesurteil gegen Karl Ladé immer in Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler. In der Urteilsschrift, deren Kopie mir vorliegt, sehe ich, dass das Fehlen des französischen Akzents auf dem Namen Lade, wohl auf die Handhabung durch die Nazis zurückgeht. Sie veränderten seinen Namen und es ist scheußlich, dass sich diese Namensverstümmelung nun bis in die Ehrung des Mannes in der späteren Straßenbezeichnung erhalten hat. Bis heute hat er seinen richtigen Namen nicht zurück bekommen.
Paul Hirsch lebte drei Monate lang illegal bei verschiedenen Familien in Berlin, dann riss die Kette der Solidarität, weil viele Wohnungen durch Bombeneinwirkungen ausfielen. Der Sohn hat einige der Stationen rekonstruiert, nun gibt es zwei Adressen mehr, von denen er weiß.
Paul Hirsch konnte sich mit falschem Pass bis zur östlichen Frontlinie durchschlagen. Er geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, arbeitete in Oberschlesien und wurde nach Karangada transportiert. Geschwächt wie er war, kam er dort zwar in ein Krankenrevier, es gab aber keine Hilfe mehr für ihn. Im August 1945 ist er dort verstorben, Augenzeugen haben es bestätigt.
Aus dieser Zeit ist mir außerdem noch Weihnachten 1944 in Erinnerung geblieben. Nicht wegen der Bombenangriffe, die es gegeben haben soll, an jedem der Weihnachtstage, auch am Heiligen Abend, sondern weil mein Vater in dieser Zeit nicht bei uns war. Weihnachten tauchte er dann doch überraschend auf, obwohl meine Mutter vorher etwas anderes behauptet hatte. Ich sah daran, dass die Erwachsenen auch nicht immer alles genau wussten. Jedenfalls war er da. Er war aus Plauen mit dem Fahrrad gekommen, wohin man einige Monate zuvor die Henschelwerke verlagert hatte.
Er sprach über neue Kollegen, die er dort hatte und von denen er nur die wenigsten kannte. Auch von den russischen Arbeitern wusste er wenig. Einige von ihnen hätten sich zur Wlassowarmee gemeldet und warteten nun auf ihren Einsatz, berichtete mein Vater. In den Gesprächen meiner Eltern kam dieser Name häufig vor, und auch in Lindenberg führte man ihn öfter im Munde. Auf dem Nachbarhof gab es einen Russen, der kurz vor Ende des Krieges auftauchte und im Unterschied zu Stanislaus auch einige Zeit nach dem Krieg noch dort blieb. Ich merkte an der Art, wie darüber gesprochen wurde, dass es etwas Besonderes mit dieser Armee auf sich haben musste. In Plauen nun war mein Vater auch von seinen zwei deutschen Kollegen getrennt, mit denen er offen reden konnte. Ein Dritter, Karl Ladé, war bereits im Herbst 1944 vom Arbeitsplatz weg abgeholt und nach einem schnellen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Er sei einem Provokateur aufgesessen, meinte mein Vater. Die anderen Kollegen hatte man an andere Orte gebracht. "Man bereitet sich auf das Ende vor”, gab mein Vater meiner Mutter zu verstehen. Auch von den SS-Leuten, die meinen Vater kontrollierten, gab es nur noch solche, die mein Vater nicht kannte. Bei Henschel in Schönefeld hatte er durchaus Gespräche mit manchen geführt. Mit einem ließ es sich gut über philosophische Fragen reden, wie es mein Vater immer geliebt hatte. Auch über Fragen der Rassenhygiene haben sie gestritten. Mein Vater gab vor, nicht zu verstehen, weshalb die asiatischen Japaner uns näher stehen sollten als beispielsweise die Franzosen. Mein Vater hat diese Art des Diskurses auch später gepflegt und zu einer hohen Kultur entwickelt. Auf diese Art konnte er mit vielen Leuten reden. Je ferner sie ihm standen, desto besser ging das. Bei denen, die ihm näher standen, war es komplizierter. Hier fand er oftmals nicht die richtige Tonlage. Nach Weihnachten musste mein Vater gleich wieder weg, da hingen die Kugeln, Flöten und Glocken noch am Baum. Er kam einige Monate später wieder, im März 1945 vielleicht. Aber da hat meine Mutter ihn gleich wieder weggeschickt, obwohl er wieder mit dem Fahrrad gekommen war und mir sehr müde schien. Sie erzählte ihm flüsternd, dass einige Tage zuvor ein Mann nach ihm gefragt hätte, und wiederholte mehrmals: "Es ist zu früh und zu gefährlich! "
Mein Vater kam erst später endgültig zurück. Die Zeit, die wir ohne ihn waren, bevor die Russen kamen, war nicht mehr schön. Nach Lindenberg fuhren wir in dieser Zeit nicht mehr. Meine Mutter meinte, wir müssten bleiben, wo wir sind, damit uns Papa und mein Bruder wiederfinden, wenn sie kämen. Das leuchtete mir ein, obwohl die ständigen Alarme in dieser Zeit einen eigentümlichen Zustand bei mir erzeugt haben. Am Abend brauchte ich mir die Sachen nicht auszuziehen. Weil es nur für kurze Zeit, bis zum nächsten Alarm war, durfte ich auf dem Sofa in der Küche schlafen. Das Schlafdefizit bescherte mir einen traumwandelnden Zustand, eine vollkommene Gleichgültigkeit. Wenn meine Mutter bei mir war, ging es, sonst war es sofort um mein Gleichgewicht geschehen.
Meine Mutter sah das offensichtlich auch so, denn sie war, bis auf die wenigen Ausnahmen, von denen ich schon berichtet habe, stets bei mir. Sie ließ mich nicht einmal in die Schule gehen, in die ich meinem Alter entsprechend 1944 hätte eingeschult werden müssen. Diesbezügliche Aufforderungen ignorierte sie. Auch die Angebote zur Evakuierung aus Berlin schlug sie aus. "Wo wollen sie denn hin mit uns, kommt sowieso alles überall hin!", meinte sie, an meinen Vater gewandt, der ihr zustimmte. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass in der Schule in Baumschulenweg zu dieser Zeit nur noch Appelle abgehalten wurden. Das fand meine Mutter überflüssig, dafür schickte sie mich nicht hin.
Der Einmarsch der Russen nach Berlin ist in meiner Erinnerung mit der großen Wäsche meiner Mutter verbunden. Das kam so. Die Wäsche war bereits auf der Leine, die kreuz und quer in einem Teil des Gartens gespannt war. Das scheint mir, da ich es aufschreibe, ungewöhnlich, weil die sonst immer auf dem nahe gelegenen Spielplatz an den großen Ahornbäumen befestigt wurde. An diesem Tag war das anders. Das verrät, dass meine Mutter die Sache wohl ziemlich schnell und unbemerkt über die Leine bringen wollte. Aber sie hatte falsch kalkuliert, sie unterschätzte unseren Luftschutzwart Herrn Schmidt, der immer dafür zu sorgen hatte, dass alles gut verdunkelt war. Meine Eltern hatte er schon mehrmals verwarnen müssen, weil sie die Sache nicht ernst genug nahmen, obwohl auch sie überall vor den Fenstern schwarze Rollos angebracht hatten. Seit einigen Tagen schon hörten wir es in der Ferne grummeln. Mich beunruhigte das nicht sonderlich, weil es gleichmäßiger und leiser klang, als die Geräusche, die ich von den Bombenangriffen her kannte. Herr Schmidt kam unseren Weg entlang und rief meiner Mutter schon von Weitem zu: "Sind Sie verrückt geworden. Wir kriegen bald Feindberührung und sie hängen Wäsche auf die Leine?" Im Näherkommen belehrte er sie über die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen, über die Notwendigkeit, Tarnung zu wahren und sich überhaupt auf das bevorstehende Ereignis vorzubereiten. Und zwar anders, als meine Mutter es tat. Die begegnete ihm ziemlich gelassen, tippte sich an den Kopf und entgegnete: "Wieso denn Feindberührung? Das ist doch Übungsschießen in allen Bezirken. Herr Schneider, unser Nachbar, war dazu gekommen und unterstützte meine Mutter mit den Worten: "Ja, so steht es in der Zeitung."
Ob meine Mutter an diesem Tag ihre Wäsche noch trocknen konnte, weiß ich nicht. Überhaupt ist meine Erinnerung ziemlich lückenhaft und ich bin mir nicht sicher, ob ich es alles so erlebt oder aber aus den Erzählungen meiner Eltern übernommen habe. Aber authentisch ist es auf jeden Fall. Ungewiss ist nur, wofür oder für wen. Kurze Zeit später bezogen wir unseren Splittergraben für länger. Wir nahmen Spirituskocher, Kochgeschirre und Eingewecktes mit. Frau Schneider saß jetzt auch in unserem Splittergraben und ging nicht mehr in den Bunker zur Straße 6. Dafür muss man ihr wirklich weise Voraussicht bescheinigen, denn die Brücke, über die sie gehen musste, um dorthin zu gelangen, existierte kurze Zeit später nicht mehr. Wir hörten es mehrfach in diesen Tagen sehr nahe, sehr stark rumsen, woraufhin die Erwachsenen meinten: "Das sind unsere Brücken.” Sie hatten recht, wie sich kurze Zeit später herausstellte.
Unsere Brücken war schon einige Zeit vorher im Gespräch. Einmal waren Männer zu uns in die Laube gekommen, die Bretter und andere Baumaterialien suchten. Sie sprachen eine für mich ungewohnte Sprache, sie kämen aus Bayern, sagte mir meine Mutter. Auf ihre Frage: "Ihr wollt uns doch nicht etwa unsere Brücke kaputtmachen?”, sagte der eine Mann: "Wir nicht, wir legen nur die Sprengladungen und setzen uns dann ab." Über diese Gespräche berichtete meine Mutter am Abend meinem Vater, dem sie mitteilte, dass geplant sei, die Brücken zu sprengen. Es sprach sich wie ein Lauffeuer unter den Anwohnern herum und löste allgemeines Entsetzen aus. Das Interesse daran, dass die Brücken bleiben sollten, war allgemein. So fand Herr Schmidt es in der Ordnung, dass Volkssturmmänner die Linden und Ahornbäume, die damals auf der Britzer Allee standen, fällten, um Panzersperren vor die Brücke zu bauen. Sie sollten verhindern, dass der Russe über die Brücke kommen konnte.
Als wir nach einiger Zeit aus dem Splittergraben kamen, stellte sich heraus, dass nicht nur unsere nahe gelegenen Brücken über den Teltower Stichkanal zerstört waren, sondern auch die über den Teltowkanal, den wir überqueren mussten, wenn wir nach Britz oder Rudow wollten. Die Brücken zerstören, das war nun wirklich das letzte Mittel. Wir waren von Neukölln, Baumschulenweg und Britz abgeschnitten - nur der Weg nach Johannisthal und Schöneweide blieb offen. Dann erfuhren wir, dass nicht die Männer, die bei uns gewesen waren, die Brücken gesprengt hatten, sondern Hitlerjungen, halbe Kinder, wie es hieß. Sie wollten sich nach der Aktion im Bunker der Straße 6 in Sicherheit bringen, aber die Leute ließen sie nicht herein. Sie lagen dann alle in einem großen Grab nahe dem Bunker. Der Hügel blieb für meine damaligen Begriffe lange dort, und ich habe ihn mir immer angeschaut, als wir mit Holzfloß über den Kanal konnten. In meiner späteren Vorstellung flossen die Berichte über diese Hitlerjungen mit den Filmaufnahmen zusammen, die Hitler bei der Begrüßung des letzten Aufgebots zeigen. Er schüttelt dort einem vielleicht dreizehnjährigen Jungen die Hand, und ich denke dann daran, dass dieser Junge und alle anderen, die dort standen, nicht mehr leben, sondern längst in dem Massengrab in der Straße 6 verfault sind. Einige freilich hatten auch damals großes Glück.
Glück hatte auch ich. Ich kann es mir einfach nicht anders erklären, wenn ich darüber nachdenke, was hätte passieren können. Denn im Splittergraben saßen wir keineswegs sicher. Obwohl das Leben dort ganz leidlich verlief. Nur Frau Schneider wurde als Fremdkörper empfunden, weil sie eigentlich Bunkergängerin war und nicht zu uns gehörte. Sie schrie und schimpfte bei jeder Gelegenheit, war leicht aus der Fassung zu bringen. Die Kinder sollten wie gewohnt schlafen. Auf dem Spirituskocher wurde eine gemeinsame Mahlzeit gekocht, damit nicht jeder mit seinem eigenen Topf anfangen musste. Mit Frau Schneider gab es da immer Unstimmigkeiten. Die anderen einigten sich, dass es die gemeinsame Mahlzeit in zwei Durchgängen gab. Für je acht Leute etwa. So ging es leidlich.