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Stadt- und Landausflüge
ОглавлениеDa wir es auch nach Meinung meiner Eltern auf "Gemütlichkeit” nicht schlecht hatten, blieben wir meistens dort. Stadtgänge unterblieben weitgehend. Ich akzeptierte das, hatte ich mich doch von ihrem schlimmen Ausgang überzeugen können. In die richtige City kam ich überhaupt nur einmal. Ich hatte diesen Gang unserer Nachbarin Frau Schneider zu danken, die mir das Schloss zeigen wollte. Der Bau war damals schon beschädigt und glich für mich daher der allgemeinen Ruinenlandschaft. Jedenfalls hinterließ der Ausflug nur sehr vage Erinnerungen. Frau Schneider hielt derlei Bildungsgänge für nötig, fand, dass ich nicht nur unsere Laubenkolonie kennen sollte, sondern mit meinen sechs Jahren auf die große Welt vorbereitet gehörte. Meine Mutter fügte sich zu meinem heutigen Erstaunen diesem Wunsch und ließ mich gehen. Wir hatten wohl zu diesem Zeitpunkt unsere Erfahrungen mit Frau Schneider noch vor uns. Regelmäßige Gänge machte ich mit meiner Mutter nach Baumschulenweg zum Einkaufen auf den dortigen Markt. Er lag damals in der Kiefholzstraße, dort stehen heute Neubauten. Es gab viele Holzstände, die aber meist leer waren. Nur an einigen wurde etwas verkauft. Er wäre nur noch ein Abglanz verblichener Pracht, sagte meine Mutter. Für mich herrschte dort ein reges Treiben. Es gab Marktfrauen, die ihre Ware lauthals anpriesen, und ich beobachtete Elendsgestalten, die in Lumpen mit Holzschuhen an den Füßen herumliefen. Während meine Mutter mit ihren Lebensmittelkarten irgendwo anstand, beobachtete ich diese verlumpten Gestalten, sah, wie sie in den Müllkübeln nach Essbarem suchten. Es war zu der Zeit, als überall an öffentlichen Wänden Plakate auftauchten mit einer schwarzen, schattenhaften Figur, die sich den Finger auf den Mund hielt. Meine Mutter las mir vor: "Pst ... Feind hört mit"! Ich fragte, was es zu bedeuten hätte.
Irgendwie brachte ich dieses Bild mit den Elendsgestalten in Zusammenhang, die ich beobachtet hatte. Meine Mutter reagierte kurz und unwirsch, als ich ihr das sagte. Sie gab mir die knappe Auskunft, dass diese Menschen so elend sind, weil man ihnen einfach nichts zu essen gibt. Sie sind hier nicht zu Hause, sondern wurden hierher gebracht, obwohl sie auch lieber zu Haus wären, erläuterte sie mir. Das konnte ich mir vorstellen, es leuchtete mir ein.
Denn etwas Ähnliches war mir schon in Lindenberg begegnet. Dort fuhren wir jetzt wegen der Bomben öfter hin. Auf dem Hof der Jänickes arbeitete seit einiger Zeit Stanislaus. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt, sprach polnisch, und musste jetzt hier mit den Pferden zurechtkommen, obwohl er eigentlich studieren wollte. Er durfte nicht bei den Jänickes schlafen, sondern musste am Abend immer in die Schnitterkaserne gehen, die am Rande des Dorfes lag. Dort waren noch mehr Männer aus Polen, auch aus Frankreich und Russland, die auf anderen Höfen arbeiten mussten. Stanislaus saß allein am Tisch, aß später als wir anderen. Er saß allein auf der Holzbank in der Küche, er schien mir traurig. Gern hätte ich ihn angesprochen, aber ich verstand seine Sprache nicht. Auch wagte ich es nicht, weil es mir von den Jänickes nicht gern gesehen schien. Meine Mutter meinte, dass er auch Grund hätte, traurig zu sein, obwohl es ihm hier noch gut ginge.
In Lindenberg hatte sich ein Generationswechsel vollzogen. Von den alten Jänickes, von denen meine Mutter mit achtzehn Jahren Abschied genommen hatte, lebte nur noch der alte Bauer. Er saß in der Stube und sprach vor sich hin. Er war mir immer ein wenig unheimlich. Die Wirtschaft führte jetzt der älteste Sohn, Martin, mit dem zusammen meine Mutter das letzte Schuljahr in der zweiklassigen Dorfschule die Bank gedrückt hatte. Er hatte Luise geheiratet, Lieschen genannt, von der Wirtschaft gegenüber, und zwei Kinder mit ihr bekommen. Gerhard, ebenso alt wie ich und Elfriede, wenige Jahre älter. Die Brüder von Martin waren ausgezahlt worden, wie das hieß. Paul hatte im benachbarten Buckow in eine Wirtschaft eingeheiratet und hat dort bis zu seinem Tode gelebt. Er ist dort erst vor wenigen Jahren hochbetagt gestorben. Ernst, der dritte der Brüder, mit denen zusammen meine Mutter das Arbeiten auf Hof und Feld gelernt hatte, lebte in Fürstenwalde, der nahe gelegenen Kreisstadt und arbeitete als Tischler. Als Einziger von den Brüdern interessierte er sich für Politik, war schon am Beginn der zwanziger Jahre Mitglied der SPD geworden. An die seltenen Male, bei denen mein Vater ihm in Lindenberg begegnete, denn er mochte diese ganze Bauernsippschaft nicht sonderlich, kann ich mich deshalb erinnern, weil sie immer sehr intensiv miteinander gesprochen haben. Sie schienen sich zu verstehen. Deshalb konnte ich die Bestürzung meines Vaters begreifen, als Ernst aus Fürstenwalde 1947 über Nacht abgeholt wurde und zwei Jahre später in Bautzen starb, wie uns Minna, seine Frau, berichtete. Das war zwischen meinen Eltern ein viel besprochenes Vorkommnis. Ich bekam später mit, dass er in seiner Partei bleiben wollte. Die Gestalt dieses Mannes ist für mich ganz schemenhaft. Anders als die von seinem Bruder Martin, der die Wirtschaft führte. Er war ein untersetzter und freundlicher Mann, der allerdings auch wütend werden konnte, wie mein Vater. Sein Zorn hat sich niemals gegen mich gerichtet, und ich habe ihn daher mit seinem schönen, offenen Lachen in Erinnerung behalten. Dazu mag auch das Hochzeitsbild beigetragen haben, auf dem er mit seiner Luise abkonterfeit war. Es hing auch in späteren Jahren an einem Platz in der Stube. Ich konnte es von dem großen Bauernbett aus sehen, in dem ich schlief. Aber das gehört schon in meine Nachkriegserinnerungen, in die Zeit, als er nicht mehr auf dem Hof war.
Zu der Zeit, von der ich jetzt erzähle, stand er der Wirtschaft vor. Er arbeitete mit Pferd, Pflug und Wagen auf dem Feld, fütterte die Pferde, auf die er seinen Sohn und mich öfter setzte, und kam immer etwas später als wir an den Mittagstisch, worauf Lieschen ärgerlich reagierte.
Darüber hinaus sind mir nur zwei Ereignisse im Gedächtnis geblieben, weil sie mir einen Schrecken bereiteten. Die eine Geschichte hängt mit dem Hofhund zusammen, dem Pfiffi, wie er hieß, die andere mit Stanislaus. Wir Kinder haben an diesem Hund, der an der Kette vor seiner Hütte lag, ziemlich herumgezerrt. Er blieb geduldig und wedelte mit dem Schwanz, wenn wir uns näherten. Eines Tages muss es ihm zu viel gewesen sein, und er biss in meinen Oberschenkel. Dafür wurde er von Martin mit der Peitsche geschlagen. Obwohl ich einen Schreck bekommen hatte, fand ich die Strafe für den Hund ungerecht. Er tat mir leid. Als ich das dem Lieschen sagte, schüttelte sie nur verständnislos den Kopf. Sie begriff mich nicht.
Diese Reaktion hielt mich davon ab, mich bei der zweiten Auspeitschung zu einer Reaktion hinreißen zu lassen. Die Bestrafung galt Stanislaus und dauerte länger als die des Hundes. Ich sah ihr vom Küchenfenster aus zu und blieb stumm. Obwohl ich danach immer wieder versuchte, etwas über die Gründe zu erfahren, blieb ich ohne befriedigende Auskunft. Meine Mutter, an die ich mich wandte, zuckte nur die Achseln, sprachlos. Es gibt in meiner Erinnerung kaum Eindrücke von Stanislaus dem Geschlagenen. Nur seine hin und her flatternden Arme stehen mir vor Augen, die bald oben am Kopf, bald unten waren und die Körperteile bedecken wollten, auf die die Schläge niedergingen. Aber die Hiebe konnte er nicht berechnen, weil Martin nicht systematisch schlug, sondern in ungleichem Tempo, langsam erlahmend. Dabei blitzten seine Augen böse und auch die großen, weißen Zähne, die ich so gern anschaute, wenn er lachte, waren zu sehen. Sie verstärkten den Schrecken, den ich in diesem Moment empfand.
Eine Zeit lang wollte ich damals nicht mehr nach Lindenberg. Aber meine Eltern fanden es wegen der immer häufigeren Fliegerangriffe angebracht, dort hinzufahren. Später begann ich einiges zu ahnen, aber das war schon nach dem Krieg, als wir nicht mehr wegen der Bomben, sondern wegen Mehl, Kartoffeln und Leinsamen nach Lindenberg fuhren. Martin war da schon weg. Er war von der sowjetischen Militärpolizei abgeholt worden. Mit ihm alle Männer des Dorfes. Es kam niemand von ihnen zurück. Auch erfuhr keiner, wann, wo und wie sie umkamen. In Polen, munkelte man. Das Dorf war nach dem Krieg völlig ohne Männer, bis einige von den Flüchtlingen als Umsiedler dort blieben. Eine Zeit lang vermutete ich, dass zwischen beiden Ereignissen ein Zusammenhang bestehen müsse. Meine Mutter verneinte das und erklärte mir, dass im letzten Kriegsjahr die Bauern von Lindenberg alle im Volkssturm erfasst worden waren. Diese Listen waren in die Hände der Russen gefallen.
Als wir nach dem Krieg wieder nach Lindenberg kamen, empfing uns Lieschen mit den Worten: "Ich bin jetzt genau so arm wie du als Prolet". Diesen Satz richtete sie an meinen Vater, der ihn später oft zitierte, weshalb er mir wohl im Gedächtnis geblieben ist. Sie wollte uns sagen, dass der Mann abgeholt, große Teile des Viehs weggetrieben und abgeschlachtet waren. Stanislaus war natürlich auch nicht mehr dort. Ansonsten war alles unversehrt. Die Kinder, der Hof, das Haus, Ställe und Scheune. Aber schlimm war für sie, dass sie nun alles abliefern mussten. "Für die Berliner", wie mein kleiner Freund Gerhard mir damals erklärte. Kurze Zeit später, und so blieb es eine ganze Weile lang, kamen die Städter ans Hoftor, das in dieser Zeit im Unterschied zu früher und auch später immer verschlossen war. Sie riefen laut. Wenn einer ausdauernd genug war, wurde er hineingelassen. Die Bäuerin, die ich sonst nur beschäftigt kannte, ließ sich dann viel Zeit, um die Bettbezüge, Teppiche oder das Geschirr, das die Leute mitbrachten, in Friedensmark umzurechnen. Niemals, auch später nicht, habe ich begriffen, was diese Friedensmark bedeutete. Danach entschied sie dann, welche Menge an Kartoffeln oder Mehl, wie viel Eier oder Speck sie den Leuten gab. Meine Mutter nannte das "Schacherei" und war froh, dass wir derlei mit dem Lieschen nicht durchstehen mussten. Die Sachen, die die Leute mitgebracht hatten, legte sie in die drei Truhen auf dem Hausboden, die ihre Aussteuer enthielten. Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendetwas davon je benutzt worden wäre. Denn die leinenen Bettbezüge, in denen geschlafen wurde, waren unten im Wäscheschrank.
Zu uns war das Lieschen immer sehr gut, und ich mochte sie sehr. In späteren Jahren sah ich, wie sie sich quälte, um die Wirtschaft durchzubringen. Nur sie und die beiden Kinder auf dem Hof. Nur selten hatte sie einen Kutscher. An einzelne Männer kann ich mich nur schwach erinnern, weil sie zu schnell immer wieder weg waren. Denn alle wollten sie ihr ein Eheglück bescheren und kündigten deshalb schnell wieder das Arbeitsverhältnis auf, wenn sie merkten, dass ihre Erwartungen sich nicht erfüllten. Derlei spielte in Gesprächen zwischen ihr und meiner Mutter häufig eine Rolle. Die Unterhaltungen endeten stets mit dem Satz: "Ich warte auf Martin". Die Frage meiner Mutter: "Und wenn er nicht kommt”, überging sie mit Achselzucken.
Ich erlebte, wie sie von früh bis spät auf dem Feld und in den Ställen schuftete. Beim Abendbrot schlief sie mit der Stulle in der Hand ein, worüber wir Kinder natürlich lachten. Meine Mutter weckte sie dann mit den Worten: "Du musst doch noch die Schweine abfüttern." Sie nannte ihren Kurzschlaf "abnicken” und war erst danach wieder bereit oder wohl besser in der Lage, ihr Tagwerk zu vollenden. Im Sommer war sie seit vier Uhr, im Winter seit sechs auf den Beinen.
Meine Mutter war dort immer sehr willkommen. Es gab dann jemanden, der in Küche, Schleuderküche und Futterküche Ordnung schaffte und auch in den Stuben mal sauber machte. Auch das Kochen unterstand ihr, während Lieschen auf dem Feld war. Sonntags ging sie in die Kirche. Sie saß dann in ihrem blau-weiß geblümten Kirchenstaat am Mittagstisch. Meine Mutter daneben in der Arbeitsschürze, was ich immer ein bisschen ungerecht fand. Aber eigentlich gönnte ich Lieschen ihren sonntäglichen Gang. Es entzückte mich, wenn sie sich vorher das Haar kämmte. Sie löste dann ihren Zopf, der aus langen, kastanienbraunen Haaren bestand, die ihr bis zu den Waden reichten. An den Wochentagen blieb dieses Haar unter dem Kopftuch verborgen, den langen Zopf steckte sie zu einem Dutt auf, aus dem vor dem Zubettgehen die Haarnadeln gezogen wurden. Eine noch größere Aufmerksamkeit, als das sonntägliche Kämmen erregte bei mir, wenn sie die Haare wusch. Es passierte immer, wenn wir dort waren, wahrscheinlich kam sie ohne Hilfe nicht zurecht mit dieser Waschschüssel voll Haar, über das meine Mutter Wasser gießen musste. Wenn sie aus der Kirche kam, schien sie mir immer besonders heiter und zufrieden. Ich hätte damals gern etwas über die Gründe erfahren, aber die besprach sie nicht mit uns. Irgendwie verstand ich, dass es sie in diese Kirche zog, die inmitten des Friedhofes für mich ein geheimnisumwitterter Ort blieb, der Schauplatz vieler Erzählungen über Gespenster, die beide Frauen manchmal zum Besten gaben.
Lieschen hat tatsächlich bis zum Ende ihres Lebens auf Martin gewartet. Ich flechte das jetzt hier schon ein und greife damit vor, weil ich diese Erzählungen über den Krieg, der mit seinem Ende noch lange nicht vorüber war, endlich hinter mich bringen will. Weil ich sozusagen einer lichteren Zukunft entgegenschreibe. - Also Martin ist niemals mehr aufgetaucht, aber er starb auch nicht wie sein Bruder Ernst aus Fürstenwalde. Von dem gab es wenigstens ein Ende zu berichten. Deshalb ist Martin natürlich immer wieder aufgetaucht, weil es einen solchen Schlusspunkt mit ihm nicht gab. Über eine solche geheimnisvolle Wiederkunft will ich berichten, weil sie mich damals ganz wirr gemacht hat. Es kann 1950 gewesen sein. Elfriede, Martins Tochter, war vielleicht sechzehn Jahre alt. Sie hatte den ersten Freund, was ich aber damals nicht wusste. Er arbeitete bei Jänickes für einige Zeit auf dem Hof. Aus meiner heutigen Perspektive würde ich annehmen, dass er so ein Mann um die dreißig Jahre war. Vielleicht hatte er, von der Mutter abgewiesen, sich um die Tochter gekümmert. Ich weiß es nicht. So könnte es gewesen sein. Elfriede kam jedenfalls eines schönen Sonntags aufgeregt und verheult zu ihrer Mutter. Sie war mit diesem Mann bei einem Spaziergang aufs Feld hinaus auf ihren Vater gestoßen. Der kam dort plötzlich hinter der Feldscheune hervor, stürzte sich auf den Mann an ihrer Seite und streckte den mit kräftigen Faustschlägen zu Boden. Der war zu überrascht, um sich zu wehren. Er rannte fort, so schnell er konnte, Elfriede hinter ihm her. So berichtete sie es atemlos der Mutter, die in der Küche hantierte. Ich saß am Tisch und hörte es. Kurze Zeit später kam auch er, schlich herein, er hatte ein zerschlagenes Gesicht. Die Lippen bluteten, ein Auge war verquollen. Er rechnete offensichtlich nicht mit Mitleid und schaute niemanden an. Wortlos ging er in seine Kammer, die unmittelbar neben der Küche lag. Kurze Zeit später kam er mit einem geschnürten Bündel heraus. Mit einem knappen Kopfnicken ging er durch die Küchentür hinaus über den Hof. Nach einer Weile hörten wir das Hoftor klappen. Wir sahen ihn nicht wieder.
Dieses Ereignis wurde in späterer Zeit leider nicht so oft besprochen, wie ich gewünscht hätte. Ich wäre am liebsten bei jedem Besuch in Lindenberg darauf zurückgekommen, aber ich sah den Unwillen der anderen, darüber zu reden. Nur Elfriede konnte ich darauf ansprechen. Aber auch dabei kam nichts heraus. Sie versicherte nur wieder und wieder, dass es ihr Vati gewesen sei, der den anderen geschlagen hatte. Warum, wollte sie nicht wissen. Auch hatte sie für den Mann, mit dem sie über die Felder gegangen war, kein Bedauern. Es schien sie gar nicht zu interessieren, wo er abgeblieben war. Kein Wort über ihn, nur Vati, Vati. Noch unverständlicher blieb mir ihre Mutter. Sie, die immerfort von Martin sprach, manchmal, wie die Kinder, ihn auch Vati nannte, überging dieses Ereignis mit Schweigen. Es schien sie nicht zu interessieren, dass er aufgetaucht war. Nur der Mann, mit dem Elfriede gegangen war, dem schimpfe sie hinterher. Ich begriff alles nicht. Wo sie doch wartete und wartete auf ihren Martin.
Bei diesem Warten muss ihr der nun wirklich liebe Gott geholfen haben, mit dem sie täglich umging. Denn nicht nur sonntags, sondern auch vor jedem Essen sprach sie mit ihm. Uns, meine Mutter und mich, hat sie dazu niemals ermuntert. Auch die Mahnungen an die eigenen Kinder, es ihr gleichzutun, blieben ohne Nachdruck, bis sie sie schließlich ganz aufgab. Als wir sie vor ein paar Jahren zu Grabe trugen auf dem Lindenberger Dorffriedhof, wurde mir bewusst, dass sich ihr Bild für mich immer mit dieser freundlichen, gelassenen Heiterkeit verbinden wird, die sie mir als Kind so angenehm machte. Und dass ich sie an ihr geliebt habe, diese ruhige Ausgeglichenheit. Niemals hat sie mit mir geschimpft, kein böses Wort gab es. Selten nur hat sie mich flüchtig an sich gedrückt. Sie war mir nah, wie man nur als Kind wohl Nähe spüren kann. Unter den Trauergästen in Lindenberg fühlte ich mich fremd. Obwohl auch Elfriede und Gerhard unter ihnen waren und einige Leute, die ich kannte. Alle weinten heftig, besonders Elfriedes Schmerz begriff ich gut. Dennoch blieb ich ohne Tränen. Alles war für mich schon lange versunken.