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Tages- und Nachtangriffe
ОглавлениеIn dieser Zeit gab es längst schon die Fliegerangriffe auf die Reichshauptstadt, die wir auf "Gemütlichkeit” im Splittergraben abwarten mussten. Diese Splittergräben waren auf dem Gelände einer nahe gelegenen Gärtnerei gebaut worden. Sie bestanden aus Betonplatten und Erde. Ich kann mich an ihren Bau erinnern, weil wir zuvor auf dem gelagerten Material herumgeturnt hatten, was uns natürlich verboten war. Allerdings gingen nicht alle Bewohner in diesen Splittergraben. In der Straße 6 gab es einen Bunker, dort konnte man Zimmer für, wie es dann später nötig wurde, jede Nacht reservieren. Die Leute machten sich diese Zimmer mit Matratzen, Decken und Stühlen wohnlich. Ein solches Zimmer stand meinen Eltern nicht zu. Andere standen auf dem Gang, auf dem es mit der Zeit immer enger wurde. Da mochten meine Eltern auch nicht stehen, weil sie bei einem Einschlag Panik befürchteten. Wir waren ein einziges Mal in diesem Bunker, weil uns ein Tagesangriff auf dem Weg von Neukölln nach Hause überrascht hatte. Ich konnte mich davon überzeugen, dass meine Eltern recht hatten. Es war eng in dem Gang, in dem wir nahe dem Eingang standen. Die Luft war dick, besonders bei mir da unten, bis mich mein Vater hochnahm, da wurde es etwas erträglicher. Außerdem heulten und schrien die Menschen durcheinander. Das gab es in unserem Splittergraben nicht. Dort ging alles ruhig zu. Man sorgte dafür, dass wir Kinder schlafen konnten.
Heute weiß ich natürlich, dass die Bombenangriffe ab 1943 zunächst mehrmals in der Woche kamen und dann gegen Ende des Krieges immer häufiger, auch tagsüber. In meiner Erinnerung gehören die Luftangriffe zum alltäglichen Leben von damals. Auch ich war auf den durchdringenden Sirenenton geeicht, der zuerst Vorwarnung, dann Warnung, nach den Bombenabwürfen Entwarnung bedeutete. Im Rundfunk erkannte ich sofort die Erkennungsmelodie, mit der uns die Sondermeldung verkündet wurde, dass in Kürze das Sirenengeheul zu erwarten war. Dieser Ton ging mir auch später, bei den mittwöchentlichen Sirenenproben tief in die Seele. Wenn der Radiosprecher verkündete, dass sich die Flugzeuge im Anflug über Hannover/Braunschweig befanden, war in wenigen Minuten mit der Sirenenwarnung zu rechnen. Wenn es hieß, dass sie nach Westen abdrehten, etwa in Richtung auf Köln oder Frankfurt a. Main, dann konnten wir aufatmen. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass es dort auch Kinder gab. Nur einmal, es muss schon gegen Ende des Krieges gewesen sein, hat mir mein Vater gesagt, dass vor uns schon englische Städte bombardiert worden waren und wir das jetzt zurückbekamen. Das leuchtete mir damals ein.
Ein Luftangriff löste in unserer Familie immer die gleichen Reflexe aus. Mein Vater musste zuerst auf die Toilette, die nur über einen kleinen Hof zu erreichen war. Er blockierte sie ziemlich lange, sodass ich warten musste. Er wollte auch gar nicht in den Splittergraben, es wäre ohnehin alles egal, sagte er. Meine Mutter dagegen drängte zur Eile und steckte noch einige Sachen in den Koffer, der stets in unserer Veranda bereitstand, um mit in den Splittergraben genommen zu werden. Mein Vater hielt auch das für überflüssig, schickte sich aber in die Anordnungen meiner Mutter. Nur dass ich meine Puppe mitnahm, dagegen hatte er nichts. Es leuchtete ihm offenbar ein, dass ich die brauchte. Ich kann mich erinnern, dass ich schlaftrunken war, wenn wir die 300 Meter zurücklegten, bis wir in unseren Splittergraben kamen. Manchmal wurde ich vorgeschickt auf diesem kurzen Weg, oft nahm mich irgendjemand bei der Hand. Manchmal aber auch nicht, und ich ging allein. Da war mir bange, besonders wenn die Weihnachtsbäume am Himmel standen und es schon irgendwo krachte. Denn die Zeiten zwischen Vorwarnung und Warnung waren so kurz, dass sich niemand in Sicherheit bringen konnte. Aber die gab es ja ohnehin nicht. Ich wusste, dass diese Art Weihnachtsbäume zu fürchten waren, wusste von meinen Eltern, dass sie markierten, wo Bomben abgeworfen werden sollten und fürchtete vor allem die, die direkt über mir standen. Einer meiner wiederkehrenden Albträume hängt mit diesen Weihnachtsbäumen zusammen. Ich sollte mit meiner Mutter eine mir noch nicht bekannte Familie besuchen, auf die ich neugierig war. Der Besuch war aus irgendeinem Grunde ausgefallen, und ich hatte die Spannung darauf mit in den kurzen Schlaf der folgenden Nacht genommen, die wieder unterbrochen wurde. Allein vorausgeschickt ging ich einen falschen Weg und stiftete damit ein großes Durcheinander. Meine Eltern mussten mich während des Alarms suchen. Befragt, wo ich denn hin gewollt hatte, gab ich den Namen der Familie an, die wir besuchen wollten. Die Suche nach irgendetwas und die Weihnachtsbäume über mir kehren oft in meinen Träumen wieder.
Im Ganzen muss ich sagen, hatten wir auf "Gemütlichkeit" am Rande Berlins großes Glück. Bomben haben nur wenige Lauben zerstört. Sie wurden durch Luftminen getroffen. Die konnte ich schon am Luftdruck und am Explosionsgeräusch erkennen, konnte sie von Brandbomben, die von den Erwachsenen für weniger gefährlich erklärt wurden, unterscheiden. Auch Sprengbomben gehörten zu den gewöhnlichen Dingen meiner kindlichen Welt. Die Luftminenwirkung hat mich erschüttert. Fassungslos stand ich vor der geschwärzten Brandstelle, die am Vortag noch eine Laube gewesen war, in der Leute gewohnt hatten. Es ragten nur noch ein paar verkohlte Balken hoch und einige gemauerte Steine, die von Küche und Herd übrig geblieben waren. Aber auch mit den Brandbomben war nicht zu spaßen. Ich merkte daran, dass den Erwachsenen auch nicht immer zu trauen war. Mein Bruder hatte Urlaub und musste mit uns in den Splittergraben. Eine Brandbombe durchschlug die Decke des Splittergrabens, ging dicht neben seinen Füßen in den Boden. Mein Vater, beherzt in Augenblicken, in denen es darauf ankam, nahm sie und trug sie vor die Tür, wo sie kurz darauf explodierte. Wieder einmal hatten wir Glück gehabt. Wir verloren auch sonst nichts. Mein Vater betonte zwar immer, dass wir sowieso nichts zu verlieren hätten, aber mir will das von heute her durchaus anders erscheinen. Da hatte er, glaube ich, nicht recht.
An einen Tagesalarm erinnere ich mich lebhaft, das hing mit der Nachbarin zusammen, die mir das Beten beigebracht hatte. Sie war mir bis dahin lieb und vertraut. Seit einigen Jahren wohnte sie neben uns, ich hatte miterlebt, wie Frau Schneider in die Laube von Herrn Schneider einzog. Wir konnten den Schneiders vom Wohnzimmerfenster aus in den Kaninchenhof gucken, von dem her es ziemlich unangenehm roch. Der Mann hatte seine erste Frau an einen anderen verloren, sie hatte ihm nur den Sohn hinterlassen. Der war ein Schulkamerad meines Bruders, er wurde von der Großmutter aufgezogen. Er fiel gleich im ersten Kriegsjahr. Die alte Frau wurde darüber ganz stumm. Ich habe sie als verhärmte Alte in Erinnerung. Sie zog weg, nachdem die zweite Frau Schneider gekommen war. Die neue Frau Schneider wohnte vorher in Stettin und hatte dort bessere Tage gesehen. Davon erzählte sie mir. Sie hatte dort mit einer weißen Spitzenschürze hinter dem Ladentisch eines Milchgeschäftes gestanden, und es war ihr gut gegangen, bis ihr Mann starb. Von einer solchen Laube, wie sie sie jetzt bewohnte, hatte sie dort nicht geträumt. Mir erschien die Schneidersche Behausung komfortabler als unsere eigene. Herr Schneider hatte einen Wintergarten an das Wohnzimmer gebaut und baute noch immer weiter. Aber ihr schien das alles nicht recht zu gefallen, sie trauerte Stettin nach, wo sie damals noch für einige Zeit hätte bleiben können. Sie lernte Herrn Schneider per Anzeige kennen und war gleich zu ihm gezogen. In Stettin hatte sie einen Papagei, ein schönes Tier, das sprechen konnte und das sie mit Schokolade fütterte. Ich staunte darüber, weil ich Schokolade mehr vom Hörensagen kannte, und wunderte mich, wie man eine solche Kostbarkeit an einen Vogel verfüttern konnte. Selbst wenn er ein bunter Papagei war. Noch mehr wunderte ich mich, dass das Tier die Schokolade von ihrer Zunge abnehmen musste. Dass er ihr eines Tages ein Stück aus der Zunge herausgehackt hatte, erschien mir dagegen verständlich. Ein bisschen tat es mir zwar leid, wenn sie mir ihre genähte Zunge vorwies und die leichte Sprechhemmung erklärte, die sie davongetragen hatte. Frau Schneider brachte mir zwei Gebete bei. Sie bedauerte mich, dass ich derlei bei meinen Eltern niemals erfahren würde. Da hatte sie recht. Meine Eltern waren seit Langem aus der Kirche ausgetreten, schrieben in die amtliche Rubrik, in der nach der Religionszugehörigkeit gefragt wurde: „ohne." Es waren kindliche Verse, die sie mir beibrachte, und ich konnte die Aufregung meiner Eltern nicht verstehen, als ich ihnen das frisch Gelernte vorsprach. Aber da hatte ich mit Frau Schneider schon Erfahrungen gemacht, die dazu führten, dass ich die Besuche bei ihr einschränkte und schließlich ganz aufgab. Ich sollte die Sprüche, die sie mir beigebracht hatte, immer dann sprechen, wenn es ihr gefiel. Nachdem ich an ihre Tür klopfte, erklang nicht das Übliche: "Herein", sondern die Aufforderung: ”Bete!”, und ich sprach dann das Eingelernte: "Ich bin klein, mein Herz ist rein ..." usw. Das machte ich natürlich nicht allzu oft.
Eines sonnigen Sommermorgens war meine Mutter früh schon nach Baumschulenweg gefahren, weil wir am Vortag, von Lindenberg kommend, unsere Koffer wegen eines Luftangriffes in der Schule in der Kiefholzstraße untergestellt hatten. Die war zu diesem Zeitpunkt schon erheblich beschädigt, dennoch war in einem Flügel des erhaltenen Teils ein Krankenhaus untergebracht. Ich lag noch im Bett und stellte gewohnheitsgemäß das Radio an, als die Erkennungsmelodie und die Durchsage kam, dass sich schwere Kampfflugverbände im Anflug über Hannover/Braunschweig der Reichshauptstadt näherten. Ich war sofort hellwach, rannte zu Frau Schneider, die noch ahnungslos war. Wenige Minuten später ertönte die Sirene. Frau Schneider sprang auf ihr Fahrrad, sagte ”Komm mit” und fuhr los. Ich rannte hinter dem Rad her, hielt mich am Gepäckständer fest, auf dem sie einen Koffer befestigt hatte. Sie fuhr nicht zu unserem Splittergraben, sondern in den Bunker in der Straße 6. Das waren ungefähr drei Kilometer, man musste über eine Brücke. Auf der Hälfte der Strecke versagte meine Kraft. Ich ließ das Fahrrad los und stand allein. Ich war schon nicht mehr auf unserer Kolonie, wo die Leute mich kannten, sondern in einer benachbarten Anlage. Ich wusste mir nicht anders zu helfen, als loszuheulen. Das machte eine fremde Frau aufmerksam, sie nahm mich bei der Hand und rannte mit mir in einen nahe gelegenen Splittergraben.
Man kann sich die Angst meiner Mutter ausmalen, als sie in rasender Eile zu Hause mit ihrem Koffer ankam und das Nest leer war. ”Ja, das ist eben Frau Schneider", sagte sie, als wir auf das Erlebnis zurückkamen.
Je weiter der Krieg ging, desto häufiger begegneten mir bei Stadtgängen diese zerstörten Häuser, in denen verkohlte Mauerreste hochragten, wo oftmals noch Teile der Habseligkeiten von Leuten zu sehen waren, die dort gewohnt hatten. Diese Ruinen gaben in den ersten Nachkriegsfilmen, die ich zu sehen bekam, dann billige Kulissen ab. ”Irgendwo in Berlin" und "Die Kuckucks” sind mir als Titel in Erinnerung geblieben, die Handlungen warnten uns Kinder eindringlich vor dem Spielen in diesen Ruinen. Für mich waren diese Warnungen nicht nötig, denn ich hätte diese Mauerreste auf keinen Fall betreten. Ich spielte auf "Gemütlichkeit", und da gab es die Ruinen in dieser Form nicht. Auch in dieser Beziehung hatten wir dort unverschämtes Glück. In Baumschulenweg, durch das wir gehen mussten, wenn wir zum Bahnhof wollten, gab es einzelne Lücken in den Häuserreihen und einige Ecken, die einfach fehlten. In Neukölln, wo meine Tante Lucie mit Klaus und Karin in der Niemetzstraße wohnte, war mehr zerstört. Dort war ziemlich viel Schutt, und meine Tante, die in dieser Zeit immer allein war, mein Onkel war im Krieg, äußerte sich erleichtert, dass es bei den großen Angriffen die Neuköllner Gasanstalt verschont hatte. Ihre Erleichterung galt dem Inferno, dem sie ausgesetzt gewesen wären, wenn es die Gaswerke erwischt hätte. Jedenfalls erklärte es mir so meine Mutter, warum meiner Tante so an den Gaswerken lag. Noch mehr Ruinen gab es bei meiner Tante Hilde in Kreuzberg, in der Reichenberger Straße in der Nähe des Cottbusser Tors. Dort stand zuletzt fast nur noch das Haus, in dem meine Tante mit meinem Cousin Peter wohnte. Jedenfalls schien es mir damals so.
Damals besuchten wir nur selten unsere Verwandten. Die regelmäßigen Treffen zu den anstehenden Geburtstagen wurden erst nach dem Krieg wieder aufgenommen. An einen Ausflug nach Neukölln kann ich mich deutlich erinnern, weil er ein schlimmes Ende nahm. Auf der Rückfahrt überraschte uns ein Fliegeralarm. Die Straßenbahn blieb am Bahnhof Sonnenallee stehen, dort, wo jetzt wieder die S-Bahn nach Treptow fährt. Fünf Haltestellen vor unserem Ziel war das. Wir mussten aussteigen. Mit großer Hast machten sich meine Eltern auf den Weg, verließen die Sonnenallee, kürzten den Weg quer durch das Jupiterviertel ab. Der Vorwarnung folgte die Warnung. Kurz darauf bevölkerten Flugzeuge den Himmel. Weihnachtsbäume waren schon zu sehen, nicht direkt über uns, aber in bedenklicher Nähe. Die Flak schoss. Es ging ein für meine damaligen Begriffe ohrenbetäubender Lärm los. Der Himmel wurde in mehreren Richtungen hell. Wir sahen, wie die Flugzeuge Bomben fallen ließen. Es krachte in verschiedenen Tonlagen, und besonders in der Richtung, aus der wir gekommen waren, wurde es ganz hell, es brannte. Meine Eltern strebten in größter Eile die Britzer Allee entlang, wollten die Brücke erreichen. Gegen ihre sonstige Gewohnheit zerrten sie mich hinter sich her. Dann nahm mein Vater mich auf den Arm, keuchte, schimpfte und setzte mich wieder ab. Er wurde immer aufgeregter, wie mir schien. Meine Mutter drohte jeden Moment über ihre Beine zu fallen. Lief aber weiter. Im Unterschied zu meinem Vater wurde sie immer stiller, obwohl es sonst durchaus umgekehrt war. Schließlich erreichten wir die Brücke an der Britzer Allee. Wir kletterten die Böschung hinunter und stellten uns unter die Brücke, von der meine Eltern Schutz erhofften. Wir schauten hinüber auf die andere Seite des Kanals, auf der „Gemütlichkeit“ lag. Die im Dunkeln liegenden Kolonien erschienen mir wie das rettende Ufer, während der Angriff auf die Stadt weiterging und es in der Ferne immer heller wurde. Wir warteten, bis die Flugzeuge ihre Bombenlast abgeworfen hatten und in Richtung Westen abdrehten. Langsam verebbte der durchdringende Lärm, bis die Entwarnung kam. Diese Bombennacht war eine von vielen, die ich erlebt habe. Aber sie ist mir, weil ich sie außerhalb unseres Splittergrabens erlebte, unauslöschlich im Gedächtnis geblieben. Ich glaube, dass ich hier vielleicht das erste Mal Angst erlebt habe. Nicht meine eigene, sondern die meiner Eltern. Ihre keuchende, sich steigernde Hast, das Hin und Her mit mir, von den Schultern meines Vaters auf den Boden und wieder zurück an seinen Hals, die Stummheit meiner Mutter, es machte mir einen Begriff von der Gefahr, in der wir uns befanden. Wir haben danach bis zum Ende des Krieges keine Besuche mehr in Berlin gemacht. Am anderen Morgen wurde auf „Gemütlichkeit" mehr über diesen Angriff gesprochen als sonst. In Neukölln und Kreuzberg, auch im Tiergartenviertel waren nun ganze Straßen kaputt, und die Menschen sollen am Tempelhofer Ufer als brennende Fackeln ins Wasser gesprungen sein. Ich konnte es mir plötzlich vorstellen, während ich bisher solchen Erzählungen ziemlich fassungslos zugehört hatte.
Ein anderes Ereignis in unserer Nachbarschaft blieb mir aus dieser Zeit in Erinnerung. Frau Sonnenschmidt bekam die Nachricht, dass nun auch ihr zweiter Sohn gefallen war. Durch ein amtliches Schreiben hatte man sie informiert. So etwas brachte der Briefträger, weshalb er auch bei uns zwar dringend erwartet wurde, aber doch eigentlich nicht gern gesehen war. Denn auch meine Eltern warteten täglich auf eine Nachricht von meinem Bruder. Erleichtert waren sie, wenn ihnen mitgeteilt wurde, dass er sich mit einer nicht lebensbedrohlichen Verletzung in einem Lazarett befand. Sie hofften, dort möge er lange bleiben. Frau Sonnenschmidt hatte lange nichts gehört von ihrem Sohn, das wusste ich. Wolfgang Schneider und noch andere Altersgenossen meines Bruders hatte es erwischt, wie sich die Erwachsenen ausdrückten, oder sie waren in Gefangenschaft. Beim "Russen zwar", hieß es, aber man atmete auf. Wie Frau Sonnenschmidt an diesem heißen Sommertag den Briefträger erwartete, wie er ihr das Schreiben gab, weiß ich nicht. Aber ich hörte ihren Schrei. Minutenlang, will mir in der Erinnerung scheinen. Er drang in mich ein, wühlte mich auf, ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Als ich das meiner Mutter sagte, erschrak sie und sah mich fassungslos an. Sie sagte nichts. Diesen Schrei konnte ich auch später niemals vergessen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was und wie eine Mutter um ihren Sohn leiden kann. Aber ich spürte, dass das ernst war. Tödlich ernst. Später, nach dem Kriege, war ich oft bei Frau Sonnenschmidt. Sie hatte sich ein Mädchen angenommen, das auf der Flucht die Eltern verloren hatte. Das war die Erika, mit der ich eine Zeit lang spielte. Aber es zog mich nicht allein ihretwegen zu den Sonnenschmidts. Ich hätte die Frau damals gern nach den Söhnen gefragt. Aber ich wagte es nicht, und sie hat niemals über ihre Söhne gesprochen, wenn ich dabei war. Von meiner Mutter erfuhr ich später, dass sie nicht nur die zwei Söhne hatte, die gefallen waren. So nannte man das, wenn jemand dieses bewusste Schreiben bekommen hatte. Sie hatte noch einen dritten Sohn. Aber der wollte damals schon und auch später niemals mehr etwas von seiner Mutter wissen. Sie hatte ihn vor ihrer Heirat mit Herrn Sonnenschmidt bekommen und zu fremden Leuten in Pflege gegeben. Und dort blieb er.