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"Feindberührung"

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Die erste Berührung mit den Russen vollzog sich unspektakulär. Mein Vater, der mit Herrn Feller vor dem Eingang des Splittergrabens Wache halten musste, spielte dort mit dem anderen Schach. "Das beruhigt", meinte er. Dort muss sie stattgefunden haben. Für mich und die anderen erst Momente später, als zwei russische Soldaten mit dem Gewehr über der Schulter durch den Gang gingen und am anderen Ende wieder hinaus. Dann kamen noch zwei, von denen der eine auf Frau Schneiders Uhr tippte, die sie abmachte und ihm gab. Bei dieser wieder und wieder besprochenen Szene hatte ich immer dieses Bild vor mir. Ich hielt die Reaktionen der Leute für übertrieben. Überhaupt muss ich sagen, dass diese Zeit, die dann folgte, für mich weniger Schrecken hatte, als die Bombennächte. Ich kann es nur so sagen, und das gleiche Empfinden auch für meine Eltern bestätigen, obwohl das vielleicht heute niemand mehr so hören will.

Die Normalität dieser ersten Begegnung beruhigte mich also eher. Denn auch mir hatte sich die Spannung und Angst der Erwachsenen mitgeteilt. Bei meinen Eltern war das bevorstehende Ereignis wieder und wieder im Gespräch gewesen. Ein Dialog ist mir in der Erinnerung, von dem ich nun allerdings wieder nicht sicher weiß, wann er das erste Mal stattgefunden hat. Denn es kann durchaus sein, dass sich meine Eltern gegenseitig an ihr eigenes Gespräch erinnert und es auf diese Weise für mich wiederholt haben, sodass es diesen unauslöschlichen Platz in meinem Gedächtnis bekommen hat. Meiner Mutter war bange vor dem, was uns bevorstehen würde. Sie erinnerte meinen Vater an die pädagogische Arbeit von Makarenko, von dem sie damals bereits ”Der Weg ins Leben” kannten. Dessen Bemühungen um straffällige Jugendliche, die nach der Revolution und dem Bürgerkrieg in Massen die Straßen unsicher machten, haben sicherlich auch in den Berichten der Russlandfahrer von vor 1933 eine Rolle gespielt. Mit den Worten: "Das sind die Kinder der Besprisornijs, die jetzt kommen", begründete meine Mutter ihre Furcht. Mein Vater war ganz anderer Meinung. Er zerstreute ihre Bedenken und meinte: "Die Soldaten der Roten Armee sind jetzt schon seit Jahrzehnten durch Stalin erzogen." Ich nehme an, meine Mutter hat sich damit beruhigen lassen, allerdings nur für kurze Zeit. Es war übrigens das erste Mal, dass ich den berühmten Namen zu hören bekam. Bald darauf war er in aller Munde. Bei mir möchte ich sagen, eher in den Ohren. Denn nachdem die ersten Kampfverbände die Laubenkolonie durchquert hatten, übrigens ohne irgendetwas anzurühren, schlugen sie auf dem Gelände der Späthschen Baumschule, wo sich heute das Arboretum befindet, ein Feldlager auf und installierten ein Geschütz. Das hieß Stalinorgel. Aus riesigen Rohren schoss es ungefähr eine Woche lang über unsere Köpfe hinweg in die Stadt hinein. Dort brannte es, auch als die Stalinorgel aufgehört hatte zu schießen. Es war ein Ohren zerfetzender Lärm, der bis heute zu den unverlierbaren Geräuscheindrücken meiner Kindheit zählt. Deshalb habe ich, wie wahrscheinlich viele meiner Altersgenossen, mein besonderes Verhältnis zum heutigen Lärm. Aus den Rauchschwaden der brennenden Stadt sahen wir, im Garten stehend, zwei oder drei Flugzeuge steil aufsteigen. Sie flogen Richtung Westen und blieben oben, obwohl man ihnen hinterher schoss. Mein Vater kommentierte dieses Schauspiel mit den Worten: "Da machen sie sich davon, die Verbrecher", um dann konstatierend anzufügen, dass die Russen noch nicht auf dem Tempelhofer Feld sein können. Das war tatsächlich so, wie wir später erfuhren, denn im Kaufhaus Karstadt am Hermannplatz hatte sich die SS verschanzt und gab erst nach langen Kämpfen den Weg in Richtung Tempelhof frei. Das Kaufhaus sprengten sie dabei in die Luft.

Zu Gesicht bekommen habe ich die Stalinorgel natürlich erst einige Zeit später. Bis dahin war schon viel geschehen. Die ersten Eindrücke von dem neuen Leben, das nun jetzt beginnen sollte, waren für mich mit Pferdefleisch, Zucker und Petroleum verbunden. Das Pferdefleisch haben wir allerdings nicht gegessen. Mein Vater hatte es wie andere Männer auch von den verendeten Pferden geschnitten, die in der Britzer Allee herumlagen. Es roch nicht gut und meine Mutter meinte, dass wir das nun denn doch nicht nötig hätten. Sie wunderte sich über meinen Vater, weil der sonst mit seinen ständigen Magen- und Gallenbeschwerden gar nicht so auf Fleisch aus war. Mit Zucker und Petroleum war es so, dass wir die unbedingt brauchten. Meine Mutter hatte längst die alte Petroleumlampe wieder hervorgeholt, die im Schuppen herumlag, seitdem es auf „Gemütlichkeit“ elektrisches Licht gab. Das gab es noch nicht lange und die Leute richteten sich schnell wieder darauf ein, dass sie ohne elektrischen Strom auskommen mussten. Entrostet war die Lampe schnell, aber sie brauchte Petroleum, um uns die Wohnküche hell zu machen. Das war bei den anderen Leuten nicht anders und deshalb hatte man sich darauf geeinigt, Petroleum in dem nahe gelegenen Kaufladen von Petersen, dem einzigen auf unserem Laubengelände, sicherzustellen. So nannte man derlei Aktionen damals. Man vermutete größere Vorräte Petroleum dort, weil nicht alle Laubenkolonien elektrisches Licht bekommen hatten. Die Leute von "Eintracht" und "Harmonie" mussten hier immer diesen Stoff kaufen, damit ihnen nicht das Licht ausging. Außerdem suchten meine Mutter, Herr Schneider und noch zwei andere Männer nach Zucker, der fehlte uns bei allen möglichen Speisen. Alles andere gab es noch leidlich. Das betonte meine Mutter auch späterhin immer als Besonderheit dieses zweiten Krieges. Die Versorgung auf der Grundlage der ausgegebenen Lebensmittelkarten habe bis zuletzt einigermaßen geklappt. "Das dicke Ende kam erst später", beendete sie diese Betrachtungen meist. Sie erinnerte sich, wie sie als Kind während des 1. Weltkrieges gehungert hatte. Damals wurde Marmelade für Zucker und Kohlrüben für Brot ausgegeben.

Es gelang meiner Mutter und den Männern, die gesuchten Kostbarkeiten sicherzustellen. Sie mussten die Lager nicht aufbrechen, denn sie waren schon offen. Vor ihnen hatten schon einige Rotarmisten die Schlösser abgerissen und untersucht, was die Keller enthielten. Die Soldaten lagerten im Umkreis des Ladens und leerten die Flaschen, die sie gefunden hatten. Die Gewehre hatten sie in die Gebüsche rundum geworfen. Das berichtete meine Mutter ganz aufgeregt meinem Vater, nachdem sie von ihrer Aktion zurückgekehrt war. Mein Vater meinte, dass die Armisten sträflich leichtsinnig wären, aber sie hätten schließlich Grund, den 1. Mai zu feiern. Das muss einen Tag vor der Kapitulation Berlins gewesen sein, die am 2. Mai erfolgte. Noch heute habe ich keine rechte Erklärung dafür, warum meine Mutter, noch dazu als einzige Frau, an dieser Aktion beteiligt war und nicht mein Vater. Es passte eigentlich wenig zu der unter ihnen üblichen Arbeitsteilung, bei der mein Vater immer auf den größeren historischen Schauplätzen arbeitete, während meine Mutter in der Küche oder im Garten beschäftigt blieb. Feigheit aufseiten meines Vaters möchte ich ausschließen, eher könnten Vorstellungen von Besitz und dessen Übernahme in die Hände des Volkes eine Rolle gespielt haben. So wird er vielleicht einfach nur anders beschäftigt gewesen sein, wenn er nicht überhaupt der Meinung war, am l. Mai 1945, dass es noch zu früh war zum Handeln.

Zu den Eindrücken der ersten Monate nach dem Krieg gehört für mich, dass wir in dieser Zeit ein sehr offenes Haus hatten. Bei uns gingen viele Leute, vor allem Frauen aus und ein, verbrachten ganze Tage bei uns. Leute, mit denen wir vorher kaum oder wenig zu tun gehabt hatten. Das gefiel mir, es war ein sich nicht wiederholender Frühling und Sommer mit langen Abenden. Es gab keinen Strom, aber es störte kaum. Erst viel später habe ich begriffen, dass diese Frauen bei meinem Vater Schutz suchten. Denn nach den ersten kurzen Berührungen mit der kämpfenden Truppe der Roten Armee war nun der Nachschub gekommen, der sich auf länger einzurichten begann. Unweit der Kommandantur in der Baumschule bei Späth schlugen sie in der Königsheide ein großes Zeltlager auf. Aus den umliegenden Siedlungen und Kleingartenanlagen holten sie Decken, Hausrat, Kochtöpfe, Geschirr usw. Natürlich war die Eigenheimsiedlung in Späthsfelde davon mehr betroffen, weil es dort einfach mehr zu holen gab, als aus den Laubenkolonien. Aber sie kamen auch zu uns. Andere kamen und suchten Frauen. "Vergewaltigen" war ein Wort, das in aller Munde war. Obwohl ich und auch meine Spielgefährten nicht so genau wussten, was damit gemeint war, spielten wir ”vergewaltigen". Wenn ich mich recht erinnere, funktionierte es als eine Abwandlung des Greifspiels vom Räuber und Gendarm.

Mein Vater mit seinen stümperhaften russischen Sprachkenntnissen konnte die Soldaten ansprechen. Dieses Überraschungsmoment reichte meist, um sie von ihren Vorhaben abzubringen. Er versuchte mit ihnen über Hitler und über Stalin zu reden, was sich in Kurzformeln niederschlug. Er verwickelte sie jedenfalls in anderes, als sie vorhatten. Einige ließen sich in unserer Wohnküche nieder, es entwickelte sich ein Kontakt. Meine Mutter kochte immerfort Pfefferminztee, den wir im Garten hatten. Sie radebrechten mit meinem Vater und lachten mit den Frauen. Schwierig wurde es, wenn sie angetrunken kamen. Dann trat mein Vater ihnen ebenfalls mit Zivilcourage entgegen, drohte mit Stalins Autorität, der von ihrem Verhalten nichts wissen durfte, und mit dem Kommandanten. Bis sie unverrichteter Dinge abzogen, spürte ich die lähmende Angst, die sich dann über alle ausbreitete. Man wagte kaum zu atmen, bis sie endlich fort waren. Wie das in den anderen Lauben zuging, weiß ich nicht. Aber ich nehme an, durch die offenen Türen von unserer Behausung wurden viele magisch angezogen. Vielleicht wegen ihrer Lage, nahe dem Spielplatz, im Zentrum unserer Gartenkolonie.

An einige merkwürdige Ereignisse und Gesichter aus dieser Zeit kann ich mich erinnern. An einen ukrainischen Soldaten, einen schwarzhaarigen schönen Mann, der mit wild um sich blickenden Augen und gezogener Maschinenpistole hineinstürmte und nach Nazis verlangte, die er erschießen wollte. Es gelang meinem Vater, ihn zu beruhigen. Nachdem er ihm russisch zu verstehen gegeben hatte, hier gebe es keine Nazis, antwortete der auf Deutsch, dass er bisher nur Nichtnazis angetroffen habe in Deutschland. Er suche die, die für den Tod seiner ganzen Familie verantwortlich waren. Bruchstückhaft bekamen wir mit, dass er Jude war, dass Eltern und Geschwister tot, Haus und Heimat zerstört waren. Dass er allein sei, ganz allein, wie er wiederholte, um die Seinigen zu rächen. Er kam mehrmals. Bei ihm hatte mein Vater Glück. Er konnte ihn für seine geretteten Schallplatten und Bücher interessieren. Wir hatten damals ein Grammophon, das mit seinem Trichter in einen Schrank eingebaut worden war und an der Seite aufgezogen werden musste. Dieses Grammophon gehörte mit wenigen Schallplatten zu den wichtigsten kulturellen Bildungselementen meiner Kindheit. Stolz zeigte mein Vater dem Soldaten einige Liederplatten von Ernst Busch, die er mit dem Etikett von Straußwalzern beklebt und so über die zwölf Jahre gerettet hatte.

Auf der einen Seite sang Ernst Busch das "Lied der Arbeitslosen", das aber keinen besonderen Eindruck auf die jungen Soldaten machte. Ich habe mir den Text dagegen immer sehr genau angehört, weil ich hier einen Zusammenhang zu den Erzählungen meines Vaters über seine Arbeitslosenzeit fand.

"Keenen Sechser in der Tasche, bloß´n Stempelschein

durch die Löcher der Kleedaasche kiekt die Sonne rein

Mensch so stehste vor der Umwelt, jänzlich ohne was

Wenn dein Leichnam plötzlich umfällt, wird keen Ooge naß".

Auf der anderen Seite sang Ernst Busch das "Lied der Bergarbeiter". Die getragene Melodie stand im Kontrast zum unsentimentalen Berliner Jargon des Textes. Mein Vater fand bei den meisten Soldaten kein Interesse für seine Platten. Einigen legte er die "Internationale" auf. Die schüttelten die Köpfe, machten Tanzbewegungen und lachten. Der Ukrainer hörte zu, die Lieder schienen ihm etwas zu bedeuten. Einer soll nach Jazz gefragt haben, erzählte mein Vater später. Ich habe das nicht gehört und kann es nicht bezeugen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob es stimmt, denn mein Vater neigte dazu, alle diese Dinge anekdotisch auszuschmücken.

Meinem Vater gelang es, bis zum Kommandanten vorzudringen, der in der Villa der Späthschen Baumschule residierte. Er brachte Beschwerden der Einwohner gegen die Plünderungen und Vergewaltigungen vor und erreichte, dass ein sowjetischer Offizier zu uns kam und auf dem Vereins- und Spielplatz zu den Bewohnern der umliegenden Laubenkolonien sprach. Er kam mit einem Dolmetscher, der den Leuten sagte, dass die Rote Armee nicht gekommen sei, um sich zu rächen. Das, was geschehen war, bezeichnete er als Übergriffe, die es auch in ihren Reihen gäbe. Sie würden unnachsichtig bestraft werden, versprach er. Ich kann mich an diese Situation genau erinnern, weil ich ihr mein erstes Fahrrad zu danken habe. Noch während der Offizier sprach, kam ein Soldat den Laubenweg entlang geradelt, der auf den Spielplatz zuführte. Er übte freihändig fahren, fasste aber schnell nach dem Lenker, als er den Offizier inmitten des Menschenauflaufs erblickte. Der ließ ihn stoppen und führte einen kurzen, schnellen Wortwechsel mit ihm. Dann gab er ihn in die Obacht eines anderen Soldaten. Der führte ihn an die Pappwand unseres Vereinshauses und ließ ihn dort mit erhobenen Händen und zur Wand gedrehtem Gesicht bis zum Ende der Rede stehen. Als der Offizier mit seiner Rede geendet hatte, wandte er sich an meinen Vater und übergab ihm das Fahrrad. Vom Dolmetscher erfuhr mein Vater, dass es bei uns sichergestellt werden sollte und in Kürze abgeholt werden würde. Dann zog die kleine Kolonne ab, der Radfahrer bildete mit dem Wachsoldaten das Schlusslicht. Ich schaute ihm nach und bedrängte meine Eltern mit der Frage, was aus ihm würde. Sie konnten mir keine Antwort geben, aber ihren Andeutungen konnte ich entnehmen, dass er nichts Gutes zu gewärtigen hatte. Er tat mir leid, weil er mir einen so fröhlichen Eindruck gemacht hatte, als er, die Arme ausgebreitet, angefahren kam. Es war allerdings nur ein ganz flüchtiges Empfinden, das von Neugierde über sein weiteres Schicksal überdeckt war. Aber vor allem freute ich mich darüber, dass wir wieder ein Fahrrad hatten. Denn mein Vater hatte sein Fahrrad auf ganz ähnliche Weise verloren, und das Rad meiner Mutter stand ohne Bereifung im Schuppen. Als es noch fahrtüchtig war, hatte ich darauf mehrmals geübt, obwohl es ein Herrenrad war und ich die Pedalen nur erreichte, wenn ich das Bein unter die Vorderstange hindurchschob. Das ergab dann das sogenannte Pfeffermalen, wie sich mein Vater ausdrückte. Es muss sehr komisch ausgesehen haben. Natürlich brannte ich darauf, meine Fahrkünste zu vervollkommnen. Aber trotz intensiven Bettelns und Bittens durfte ich das Fahrrad nicht anrühren. Es stand in unserem Schuppen neben dem kaputten Rad, und ich schaute es sehnsüchtig an. "Es gehört uns nicht. Es ist hier nur sichergestellt und wird abgeholt”, war die wiederkehrende Auskunft meines Vaters auf all mein Drängen und Bitten. Meine Mutter zuckte nur die Achseln und bekräftigte: "Hörst doch, hör' auf zu drängeln." So blieb es lange.

Es war ähnlich wie mit den Radios, die auf Geheiß der Besatzungsmacht aus allen Haushalten eingesammelt werden mussten und dann in der Vereinslaube auf einem großen Haufen lagen. Meine Eltern waren sehr traurig, dass sie ihren für damalige Verhältnisse guten Apparat abgeben mussten. Denn er hatte ihnen für das Hören von "Feindsendern" gedient, von denen sie erfuhren, wie es an den Kriegsschauplätzen wirklich bestellt war. Von deren Empfang war ich natürlich ausgeschlossen gewesen. Ich hatte den Eindruck, dass wir das Radio damals nur brauchten, um die Nachricht über den nächsten Luftangriff mitzubekommen. Deshalb teilte ich ihren Kummer nicht, noch dazu sie diese Maßnahme sowieso als Teil der notwendigen Wiedergutmachung für den durch die deutsche Wehrmacht angerichteten Schaden akzeptierten. Die Radios lagen wochenlang in der Vereinslaube herum und warteten auf ihren Abtransport. Dann hieß es plötzlich, sie sollten von den Leuten nach Britz, der für uns damals zuständigen Verwaltung gebracht werden. Dieses Ansinnen war meinem Vater nun schon zu viel. Er meinte: "Es kann ja nicht jeder selber seinen Apparat nach Russland tragen." Nachdem noch einige Zeit vergangen war, sagte mein Vater den Leuten, dass sie ihre Radios wieder abholen sollten.

Das Fahrrad stand gewiss nicht länger als acht Wochen in unserem Schuppen. Aber noch in der Erinnerung erscheint mir diese Zeit endlos. Als ich es plötzlich nehmen durfte, war es immer noch Sommer, allenfalls Frühherbst. "Sie haben es vergessen", sagte mein Vater zur Erklärung seines Sinneswandels. Allerdings wurde der Gebrauch des Fahrrads streng kontingentiert. Ich durfte nur im näheren Umkreis unserer Behausung fahren und das auch nur nach ausdrücklicher Erlaubnis durch meine Eltern. Denn es gehörte uns allen und nicht mir, obwohl es nur selten benutzt wurde. Ich erinnere mich an ein einziges Mal, dass mein Vater mit dem Fahrrad nach Johannisthal fuhr, weil wir in den ersten Monaten nach dem Krieg nur dorthin ohne Schwierigkeiten kamen. Er kehrte ohne das Rad zurück. Seinem Bericht war zu entnehmen, dass ein sowjetischer Militärlastwagen gehalten, mehrere Soldaten hinten abgesprungen waren und ihn zum Absteigen aufgefordert hatten. Sie warfen das Fahrrad auf den Lastwagen und fuhren ab. Irgendwie war ich von meinem Vater enttäuscht, dass er es so einfach hingegeben hatte.

Bisher hatte ich ihn immer als furchtlosen Mann erlebt, der, zierlich und klein von Wuchs, aber zäh und gewandt, auch wilden Soldaten entgegentrat und uns vor mancher Unannehmlichkeit bewahrte. Daher hatte sich in mir das Gefühl verfestigt, dass uns eigentlich nichts passieren könnte. Es war die kindliche Gewissheit, Glück zu haben, in mir entstanden. Diese Vorstellung bekam durch das Abhandenkommen des Rades einen Riss. Ich verstand nicht, dass mein Vater sich nicht gewehrt hatte. Es wunderte mich, ich fragte meine Mutter, ob er vielleicht doch feige sei. Sie schüttelte den Kopf, ihren Augen sah ich an, dass sie mich unverschämt fand. Es fehlten ihr die Worte für diesen Augenblick, und ich spürte, dass es nicht gut war, darauf zurückzukommen. Meinem Vater gegenüber schon gar nicht. Er bekam dann seine blitzenden Augen, die ich fürchtete.

Bald darauf machte ich eine Erfahrung mit mir, die mich ahnen ließ, wie meinem Vater zumute war, als ihm das Fahrrad weggenommen wurde. Es war an einem Oktobertag des Jahres 1945, als ich mit meiner Mutter nach Britz unterwegs war. Wir gehörten damals, nachdem die westlichen Alliierten im August 1945 nach Berlin gekommen waren, zum amerikanischen Sektor. Unsere Lebensmittelkarten mussten wir aus Britz holen und nicht mehr wie bisher aus Johannisthal, wo wir ohne Schwierigkeiten hinkamen, weil man dorthin keinen Kanal queren musste. Von allen angrenzenden Bezirken war Britz am schwersten zu erreichen. Nach Baumschulenweg kamen wir über die zwar gesprengte, aber noch schief im Wasser liegende Brücke, über die wir kriechen mussten. Neukölln war auf direktem Wege überhaupt nicht zu erreichen, sieht man vom zeitweiligen Fährverkehr an der Straße 6 ab. Auch die Brücke über den Teltowkanal, die die Späthstraße in Richtung Britz überquerte, war zerstört. Es gab nur eine Möglichkeit, den Teltowkanal zu überwinden, der mit unserem Stichkanal in Höhe der Grenzallee zusammenfließt. Dort gab es eine Brücke für die Treidelbahn. Sie fuhr an dieser Stelle über zwei hohe Brücken. Der eine Brückenbogen überspannte den Stichkanal in Richtung Westen und der andere den Teltowkanal in Richtung Süden. Gegen Ende des Krieges fuhr sie immer seltener, nach dem Krieg wurde sie völlig stillgelegt, nur die schmalen Gleise lagen noch an den Ufern. Über die schmalen Brücken mit den Schienen mussten wir, um nach Britz zu gelangen.

Mit meiner Mutter und mir ging Lina, eine Frau, die damals für einige Monate bei uns wohnte, weil sie nicht wusste, wohin. Da sie später niemals wieder in meinem Gesichtskreis aufgetaucht ist, habe ich nur eine ganz blasse Erinnerung an sie. Wir machten uns auf den Weg, für Hin- und Rückweg wurde jeweils eine Stunde veranschlagt. Beide Frauen ahnten nicht, was uns erwartete, denn sonst hätten sie mich gewiss zu Haus gelassen. Die erste Wegstrecke bis zum Kanal ging reibungslos. Treidelbahnbrücken waren eigentlich nicht für Menschen gebaut, daher waren sie sehr schmal. Nicht viel breiter als die Schiene der Treidelbahn, etwa einen Meter breit. Die Metallkonstruktion besaß kein Geländer, sondern war nach beiden Seiten hin offen. Auf dem aus Eisenträgern bestehenden Boden lagen die Schienen, die wie Eisenbahnschienen mit Holzbohlen befestigt waren. Diese bildeten die Festpunkte für die Klettertour, die uns bevorstand. Hin und wieder fehlte eine der Bohlen, sie war wohl schon in den letzten Kriegsjahren demontiert und verfeuert worden. Der erste Abschnitt der Brücke, die unseren Stichkanal in Richtung Neukölln überwand, ging noch allenfalls. Dann fehlten immer mehr Bohlen, und wir konnten uns nur noch auf die Knie herablassen und über die verrosteten Schienen krauchen, wobei man hier und da zur Unterstützung auf die Eisenträger ausweichen konnte, wenn die Balance zu schwinden drohte. Meine Mutter ließ mich vor sich kriechen und unterstützte mein Vorwärtskommen durch Berühren und Zureden. Sie versuchte mir die Angst zu nehmen, die mich fast betäubte. Sicherlich machte sie sich auf diese Weise auch selbst Mut. Die Rücktour war noch schlimmer, denn wir wussten ja nun, was uns erwartete. Dazu drängte meine Mutter zur Eile, weil wir vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein wollten. Ich erinnere mich, dass sie mit der anderen Frau beratschlagte, ob sie mich nicht zu ihrer Schwester nach Neukölln bringen sollte, um mich später abzuholen. Ich wollte nicht, ich wollte in ihrer Nähe bleiben. Auch diesem Brückenerlebnis verdanke ich einen der stets wiederkehrenden Albträume meines Lebens. Hoch oben, dann abstürzend, in Schweiß gebadet erwachend. In immer verschiedenen Variationen.

Irgendwie haben wir es übers Wasser geschafft. Aber wir waren noch nicht zu Hause. In Höhe der Späthschen Baumschule, an der Baracke, die damals Schnitterkaserne hieß, wurden wir aufgehalten. Hier waren sowjetische Soldaten untergebracht, und wir hörten schon von Weitem laute Stimmen, Singen und Mundharmonika-Spiel. Es dämmerte bereits, aber es standen alle Fenster offen. Die Soldaten saßen auf den Fensterbrettern und auf der Türschwelle, das Gebäude schien von Menschen überzuquellen. Eine Gruppe von zwei oder drei Soldaten kam mit lautem Hallo auf uns zu. Sie ergriffen meine Mutter und zogen sie mit sich. Lina rannte davon, ohne sich um meine Mutter zu kümmern, und auch ich ergriff das Hasenpanier, ihr nach. Als wir nicht mehr rennen konnten, blieben wir stehen und schauten uns um. Niemand verfolgte uns. Die Straße war leer. Lina wollte nun so schnell wie möglich nach Hause. Aber ich hatte plötzlich Angst um meine Mutter. Ich wollte zurück, aber Lina hielt mich davon ab. Wir verbrachten bange Minuten, wartend, hoffend, auf ein Wunder scheint mir heute. Dieses eine Mal geschah ein Wunder. Meine Mutter kam nach kurzer Zeit in Begleitung eines höheren Dienstranges. Er hatte sie vor den Soldaten geschützt, es war ihr nichts passiert. Aber sie war vollkommen aufgelöst und fassungslos. Sie riss in solchen Momenten ihre braunen Augen immer weit auf. Sie sagte nichts, aber ich bezog ihre Fassungslosigkeit auch auf mich. Auf meine Feigheit.

Auch wenn sie später auf dieses Ereignis kam, erwähnte, dass ich weggerannt war, beschlich mich Unbehagen. Dabei schien sie mir nichts nachzutragen, sie entschuldigte es sogar mit dem Nachsatz: "Sie ist ja ein Kind.“ Unnachsichtiger sprach sie über Lina, der verzieh sie schon weniger, und auch mein Vater machte bissige Bemerkungen. Aber mein Unbehagen blieb. Ich spürte tief, dass ich versagt hatte. Und ich begriff, dass solche Tugenden, wie ich sie bei meinem Vater kennengelernt hatte, durchaus kein Geschenk waren, das einem zufiel. In dieser Zeit begann ich auch zu ahnen, dass der Schutz, den mein Vater geben konnte, nur sehr relativ war. Auch seine Kraft war begrenzt. Auch er hatte Angst, kannte die Lähmung, die sie bewirkt. Ebenso bemerkte ich, dass die mir so selbstverständliche und unentbehrliche Obhut meiner Mutter nur in unserem unmittelbaren Lebenskreis auf "Gemütlichkeit” so intakt war, wie sie mir schien. Ich bekam eine Ahnung davon, dass Sicherheiten brüchig sind, Gewissheiten nicht immer gelten können. Ich sah mich auf mich selbst verwiesen. Dennoch lebte ich in meiner kindlichen Welt so unbekümmert, wie die Verhältnisse es zuließen.

Gemütlichkeit

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