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Klaus war auf dem Weg zum Büro der Oberstaatsanwältin. Heute trug sie eine Edeljeans. Ihre Füße steckten in Mokassins.

»Nun, Herr Hofmockel, sind Sie in unserem Fall schon weitergekommen? Erstatten Sie mir bitte in regelmäßigen Abständen Bericht.«

»Das mache ich selbstverständlich. Wenn Sie dies wünschen, werde ich Sie täglich auf dem Laufenden halten.«

»Nun?«

»Bei unserem Opfer handelt es sich vermutlich um eine Prostituierte. Sie war mit einer Strumpfhose gefesselt. Ist nicht unbedingt üblich. Der Fetisch wird mehr mit Ketten oder Seilen bedient. Deshalb konnte man mit dieser Art der Verschnürung damals wohl nichts anfangen und hat es auch nicht ins Milieu eingeordnet. Noch dazu, da sie eine einfache unauffällige Hausfrau war. Durch meine Beziehungen zum Rotlichtviertel und durch Recherchen ...«, Klaus hielt inne, betrachtete für einen kurzen Moment das reglose Gesicht der Oberstaatsanwältin, die ihm interessiert zuhörte. »Ich habe herausgebracht, dass diese Art der Verschnürung der Bondageszene zuzuordnen ist. Ich habe mit einer Dame vom Rotlichtbezirk gesprochen, die mir dies bestätigt hat. Unsere Tote war wohl eine Domina.«

»Gut, wie gehen Sie weiter vor?«

»Befragung der Anverwandten, wenn diese noch leben, mich genauer im Milieu umhören. Vielleicht kann sich jemand daran erinnern, was vor dreißig Jahren passiert ist.«

»Eher unwahrscheinlich, aber tun Sie das, Herr Hofmockel.« Das Telefon läutete und Paula Trejo entließ Klaus mit einer Handbewegung. Er hörte noch, wie sie ins Telefon sagte: »Was ist passiert? Blutet er?«

Klaus zog den Gummi seines Pferdeschwanzes aus dem Haar, schüttelte sich. In seinem Büro ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, griff zum Hörer. Frau Oberstaatsanwältin wollte also immer auf dem Laufenden gehalten werden.

»Hallo Belu. Also diese Trejo, also wirklich ...«

»Jetzt schnauf mal durch. Was ist denn passiert?«

»Sie will laufend Bericht über diesen alten Fall. Ich hab ja auch noch was anderes zu tun, als ihr über jeden Furz zu berichten. Wann kommst du wieder?«, meinte er weinerlich.

»Klausi«, hörte er eine strenge Stimme. »Ich komme danach noch mindestens für vier Wochen in die Reha. Also mache dich schon mal mit dem Gedanken vertraut, dass du alleine federführend ermitteln musst. Du solltest halt das Team ein bisschen mehr einspannen.«

»Na gut, dann betrink ich mich mit Tee, bis ich 2,5 Kamille habe.« Wie gut, dass Belu nicht sehen konnte, dass Klaus eine Schnute zog und die Füße auf dem Schreibtisch übereinanderlegte.

»Kopf hoch, kleiner Prinz. Dein Krönchen könnte runterfallen! Ich habe da eine Idee«, sagte Belu. »Hör zu.«

Textarchiv Nürnberg

Cora rollte mit dem Mauszeiger rauf und runter. Kein Autounfall. Am 15. Mai war kein derartiges Unglück verzeichnet. Sie lehnte sich in dem Schreibtischstuhl zurück, hob die Hände und verschränkte sie hinter dem Nacken. Dann nahm sie den Totenschein auf. Karin Grünberg stand da. Sie selbst trug den Namen Engelhardt, wie ihr Vater, wie ihre Oma. Warum hieß ihre Mutter Grünberg? Obwohl Karin doch Omas Tochter war. Als sie einmal unbedarft diese Frage stellte, hatte ihr Vater entweder gar nicht geantwortet oder eine ausweichende Antwort gegeben. Es war ihr nicht weiter aufgefallen und sie hatte es auf sich beruhen lassen. Vater war selten zu Hause, kam erst heim, wenn sie schon im Bett lag. Cora straffte sich innerlich. Es wurde endlich Zeit, Licht in dieses Dunkel zu bringen. »Habe ich mich deswegen in Jura eingeschrieben, um etwas mehr Einblick in die Rechtsgeschichte und das Rechtswesen zu bekommen?«, sinnierte sie.

Es war wohl doch eine Fügung des Schicksals gewesen, als sie den Namen Grünberg in der Akte las, die auf Klaus' Schreibtisch lag. Ein Cold Case, ein Altfall. Vorbestimmung, sich ausgerechnet jetzt damit auseinanderzusetzen? Und das Foto? Sie kannte es. Woher?

Sie scrollte mit dem Cursor nach oben. Ihr Blick fiel auf eine Überschrift. Tote gefunden, stand da. Und im Untertitel: Nur mit einer Unterhose bekleidet und mit Strumpfhosen gefesselt.

Cora hielt den Totenschein noch immer in der Hand. Sie stutzte, hielt ihn gegen das Licht. Es war radiert worden. Jetzt sah sie es eindeutig.

»Un … b … t«, mehr schimmerte nicht durch. Drunter stand mit Füller und in Druckbuchstaben geschrieben: »Verkehrsunfall mit Todesfolge.«

»Ich wusste es, die kürzeste Horrorgeschichte ist Montag.« Die Frau, die auf der anderen Seite der Computerreihe saß, schimpfte laut vor sich hin. »Jetzt ist das Teil schon wieder hängen geblieben. Verdammter Mist!«

Cora grinste in sich hinein. Sie war so vertieft gewesen, dass ihr die neue Besucherin gar nicht aufgefallen war.

»Ich dachte, so ein Wort darf eine Nonne nicht in den Mund nehmen?«

Die Ordensfrau sah auf. »Wir haben uns gestern schon mal gesehen. Tja, wenn das Teil aber nicht so will wie ich, darf frau schon mal verdammt sagen«, kam es prompt von der Dame, die einen Habit trug und an ihrer Brille ruckelte.

»Kann ich Ihnen helfen, Schwester? Vielleicht kann ich das Problem beheben?«

Cora rollte mit dem Stuhl ein paar Zentimeter zurück und linste auf den Computer.

»Das wäre sehr nett von Ihnen. Ich bin Schwester Ulrike.« Sie strahlte Cora an. »Sehen Sie, der Cursor lässt sich nicht mehr bewegen. Das passiert mir immer wieder mal.«

Cora betrachtete die Maus, folgte dem Kabel mit den Fingern. Dann hielt sie ein loses Ende in der Hand. »Hier haben wir den Übeltäter. Der Stecker war draußen.«

»Vielen Dank, sehr nett von Ihnen. Weil ich auch immer so schusselig bin.«

Kommissariat, Büro

»Dir geb ichs!« Das Gespräch mit Belu hatte Klaus aufgebaut. Und die Idee, Frau Oberstaatsanwältin Trejo mit Informationen zuzuschütten, war genial. Er hatte mit Belu gewettet, dass es höchstens zwei Tage dauern würde und Madame Trejo würde ihn abwimmeln.

Mit einem Lächeln wählte er ihre Nummer.

»Tag, Hofmockel hier. Und hat es geblutet?«

»Wie bitte?«

»Ich hörte noch, wie Sie das am Telefon sagten.«

»Ach so, nein, nein, mein Sohn hat sich beim Fußballspielen langgelegt. Ist nur eine Schürfwunde. Bitte, haben Sie relevante Informationen für mich?«

»Ich möchte Ihnen nur einen kleinen Bericht geben. Ich habe jetzt einen eigenen Ordner angelegt, so wie sich das gehört. Und entsprechende Unterteilungen gemacht. Leider habe ich vergebens versucht, den Herrn ausfindig zu machen, der damals die Tote gefunden hat. Ich versuche es aber noch ...«

Klaus hörte ein Geräusch im Telefonhörer. Hörte es sich etwa wie ein Stöhnen an? Am liebsten hätte er laut gelacht. Trotzdem fuhr er ernst fort. »Sie bekommen aber noch einen schriftlichen Bericht.«

Ehe die Oberstaatsanwältin etwas erwidern konnte, sagte er: »Auf Wiedersehen, einen schönen Tag noch.« Schnell legte er den Hörer auf.

Johannisfriedhof

Cora liebte die Stille von Friedhöfen. Sie musste sich bewegen. Und sie musste nachdenken. So ging sie zu Fuß von den Nürnberger Nachrichten in der Blumenstraße Richtung Johannisfriedhof. Es war ein langer Weg. Dessen ungeachtet verging ihr die Zeit schnell, da sich ihre Gedanken in ihrem Kopf drehten. Langsam streifte sie durch die Gehwege zwischen den Gräbern, las die Namen der Verstorbenen, um sie sofort wieder zu vergessen. Immer, wenn sie für sich sein wollte, kam sie hierher. Das hatte sie schon als Kind getan. Dann konnte sie ihrer Mutter nahe sein, verweilte vor deren Urnengrab. Sie mochte diesen Friedhof, den sie auch als Rosenfriedhof kannte, erfreute sich an den schönen künstlerisch gestalteten Begräbnisstätten. Die Atmosphäre war so friedlich. In einer Broschüre hatte sie einmal gelesen, dass der Friedhof bereits im zehnten Jahrhundert angelegt worden war. Die Grabsteine ruhten liegend, jeder sollte unabhängig von Stand oder Beruf beerdigt werden.

»Denn im Tod sind alle gleich«, murmelte sie. »Auch du, Mutter. Obwohl du dich in edler Gesellschaft befindest. Immerhin sind hier Dürer und Harsdörffer begraben.«

Cora konnte nicht verhindern, dass ihr Tränen in die Augen traten. Sollte sie in die Holzschuher Kapelle gehen? Mechanisch setzte sie Fuß vor Fuß. Kurz verharrte sie vor der Treppe, denn die Kapelle lag durch die vielen Aufschüttungen nach Beerdigungen in diesem Friedhofsteil etwa einen Meter unterhalb des Bodenniveaus. Sie öffnete die Tür, ging hinein, nahm auf einer Holzbank Platz. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Brachte es einfach nicht übers Herz, die Hände zu falten und somit eine Art Glaube zu demonstrieren. Es gab so viele Fragen; sie wollte so viele Antworten. Es wurde Zeit, etwas zu tun.

Die alte Dame ruckelte nervös an der Lesebrille. Die Zungenspitze wanderte vom linken Lippenwinkel zum rechten. Akkurat setzte sie die Buchstaben in die vorgesehenen Kästchen. »Bauwerk in Paris«. Sie überlegte kurz und schrieb dann Eiffelturm. »Kreuzesinschrift mit vier Buchstaben« – bedächtig setzte sie die Buchstaben INRI ein. Langsam legte sie den Kugelschreiber ab, schlug ein Kreuz und murmelte: Verzeihung.

Johannisfriedhof, Kapelle

Cora verließ die Bank, knickste vor dem Auferstehungsaltar.

»Ja, grüß Gott. Aller guten Dinge sind drei. Ich freue mich, Sie wiederzusehen.«

Die Stimme kam Cora bekannt vor. Die Nonne! Wurde sie etwa verfolgt?

»Guten Tag«, antwortete Cora zögerlich.

»Ich bin ja ein bisschen spirituell«, Schwester Ulrike kicherte. »Das hat bestimmt was zu bedeuten, dass wir uns jetzt schon zum dritten Mal über den Weg laufen. Ich bin gerne hier in der Kapelle. Haben Sie Angehörige auf dem Johannisfriedhof?«

Cora nickte, würgte dann »meine Mutter« heraus. »Sie sind unglücklich«, sagte ihr Schwester Ulrike auf den Kopf zu. »Ich spüre das. Möchten Sie mit mir sprechen?«

Cora schüttelte verneinend den Kopf.

»Auch gut. Darf ich Ihnen etwas von der Holzschuher Kapelle erzählen?« Ohne eine bejahende Antwort abzuwarten, begann die Nonne: »Früher war sie eine Pestkapelle. Ihnen ist sicher aufgefallen, dass die Kapelle einen Meter unter dem Bodenniveau ist.«

Cora nickte. Sie schickte sich an zu gehen. Sie wollte lieber mit ihren Gedanken alleine sein, als sich jetzt einen Vortrag über die Kapelle anzuhören. Das bevorstehende Gespräch mit ihrem Vater lag ihr im Magen.

Ohne sich auf das abweisende Gesicht Coras einzulassen, zog Schwester Ulrike sie am Ellenbogen zur Südwand. »Hier ist Christus als Abschluss des Kreuzweges abgelegt worden. Adam Kraft«, fügte sie noch an. »Lazarus Holzschuher war der Erste, der hier beerdigt wurde.«

»Ich weiß«, antwortete Cora, »ich habe im Heimatkundeunterricht aufgepasst. Die Familie war im Textilhandel tätig. Im Zweiten Weltkrieg ist die Kapelle schwer beschädigt worden.«

Schwester Ulrike klatschte in die Hände.

»Sehen Sie, jetzt lachen Sie wenigstens ein wenig.«

»Ich muss jetzt gehen. Auf Wiedersehen.« Schnell ging Cora weg. Sie drehte sich nicht um. Sonst hätte sie gesehen, dass Schwester Ulrike wissend lächelte.

Literaturhauscafé

»Hi Papa.« Cora trat an den Tisch. Der ältere Herr ließ die Zeitung sinken, sah sie über den Brillenrand hinweg an. Er sagte nichts. Eine unbändige Wut stieg in Cora hoch. Sie beherrschte sich. Warum nur bekam sie so ein komisches Gefühl in der Magengegend, wenn sie ihren Vater sah? Sie konnte sich nicht erinnern, dass er sie nur einmal in den Arm genommen hätte. Gleich nach dem Abi war sie von zu Hause ausgezogen. In ihrer eigenen Wohnung hatte sie das erste Mal das Gefühl, frei atmen zu können. Warum nur kostete es sie Überwindung, ihn Papa zu nennen? Sie ließ sich auf einen Stuhl plumpsen, orderte einen Tee und ein Stück Apfelkuchen. Sie ignorierte den verkniffenen Mund ihres Gegenübers.

»Seitdem du in diesem Bäckerladen arbeitest, hast du ganz schön zugelegt. Kein Wunder, dass dich kein Mann anschaut.«

Der Kellner stellte Tee und Kuchen vor Cora hin. Er lächelte sie freundlich an.

Cora hätte ihrem Vater den Tee am liebsten ins Gesicht geschüttet.

»Du bist wieder charmant, Väterchen«, antwortete sie bewusst munter. »Woher willst du wissen, dass es keinen Mann in meinem Leben gibt? Hast du eigentlich wieder eine Freundin? Ist ja auch schon ein paar Jahre her, dass du ein weibliches Wesen an deiner Seite hattest«, meinte sie spitz. Sie genoss es, dass ihr Vater leicht zusammenzuckte.

»Was willst du?«

»Keine Ausflüchte mehr – und endlich Antworten auf ein paar Fragen.«

Büro Trejo

Das Herein klang herrisch. Klaus versteckte sein Grinsen hinter einem Husterer. Herta, die Vorzimmerdame, hatte ihn durchgewunken.

»Guten Tag, Frau Oberstaatsanwältin«, sagte er betont förmlich. »Ich möchte Bericht erstatten.« Er übersah geflissentlich die zusammengezogenen Augenbrauen.

»Also: Ich habe diesen Herrn Albrecht, der die Leiche damals gefunden hat, endlich ausfindig machen können. Dazu habe ich ein weiteres Register in meinem Akt angelegt.«

Trejo sagte nichts. Nur ihre zusammengekniffenen Lippen deuteten darauf hin, dass ihr wohl gerade die Zeit gestohlen wurde.

Klaus genoss die Situation. Am liebsten hätte er auch diesmal wieder laut herausgelacht.

»Herr Albrecht ist verstorben. Er liegt auf dem ...«

»Es reicht, Herr Hofmockel.«

»Warum? Sie wollten doch stündlich Bericht von mir haben. Sehen Sie, alles dokumentiert. Albrecht ist verbrannt worden.« Klaus zeigte sowohl mit dem Mittel- als auch mit dem Zeigefinger auf eine Stelle in seinem Ordner. Dabei machte er ein unschuldiges Gesicht.

»So ausufernd müssen Sie das nicht tun. Bitte geben Sie mir Bericht, wenn Sie mit etwas Spektakulärem aufwarten können.«

»Selbstverständlich«, beeilte sich Klaus zu sagen. »Also nicht mehr stündlich? Auch nicht mehr täglich?«

Oberstaatsanwältin Trejo schüttelte den Kopf. Dann hob sie den Telefonhörer ab, wählte und deutete in Richtung Tür. Klaus war hiermit entlassen.

Erst nachdem er halb auf dem Weg zu seinem eigenen Büro war, erlaubte er sich zu lachen. Belus Rat hatte funktioniert.

»In der Kürze liegt ...«, Klaus öffnete die Tür zu seinem Büro, »… Barmherzigkeit! Sie hats kapiert!«

Literaturhauscafé

»Antworte endlich, Vater!« Das Wort Papa ging ihr in diesem Moment nicht über die Lippen.

Siegfried Engelhardt glotzte. Cora ging sogar so weit, das Wort blöde zu denken. Ihr Vater glich in dem Moment einer Kuh. Sein Unterkiefer malmte.

»Wo ist das?« Cora hielt ihm ein Foto unter die Nase. »Wo?«

Ihr Vater schwieg.

»Wie ist meine Mutter gestorben?« Cora zischte die Worte leise, gefährlich leise heraus. Blitzschnell war sie bei ihrem Vater, der eben aufstehen wollte.

»Du bleibst jetzt sitzen. Es wird endlich Zeit, dass du den Mund aufmachst. Hast du mich verstanden?«

Nichts ist vergessen

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