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Zimmer Oberstaatsanwaltschaft

Oberstaatsanwältin Paula Trejo warf erneut einen Blick auf die Zeitung des Vortags. Resigniert ließ sie das Blatt sinken.

Hatte dieser verdammte Journalist nichts Besseres zu tun, als einen alten Fall wieder aufzuwärmen? Sie knabberte an der Innenseite ihrer linken Wange. Ihr Einstieg in Nürnberg sollte also mit einem Cold Case beginnen.

Sie rieb sich die Augen. Zu spät fiel ihr ein, dass sie sich morgens die Wimpern getuscht hatte. »Mist!«, rief sie und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Sie zog eine Schublade auf, holte den Handspiegel hervor und beseitigte die schwarzen Schlieren, die sich unter ihren Augen gebildet hatten.

»Fliegenbeine«, stellte sie fest. »Und müde siehst du aus, Paula, ein Date hattest du auch schon monatelang nicht mehr. Scheiße – das ist schon kein Mist mehr.« Sie hielt sich gerade noch zurück, um erneut mit der Hand auf den Schreibtisch zu schlagen. Sie schüttelte sich und richtete den Kragen ihrer Bluse. Ziemlich schmucklos, dachte sie, als sie sich in ihrem Büro umsah. Bin ich ja auch. Schmucklos, aufs Wesentliche konzentriert. Schreibtisch, Stuhl, kleine Besucherecke, Bücherregal. Ob ich wohl rüschiger wäre, wenn ich drei Mädchen hätte? Sie betrachtete ihre Mokassins. Das waren Schuhe nach ihrem Geschmack, weich, flach, die sich ihrem Fuß anpassten. Damit konnte man schnell rennen.

Wie wohl die Kollegen sein werden? Paula rollte mit dem Stuhl zurück und legte das rechte Bein über das linke. Sie rieb einen kleinen Fleck vom Saum der Hose. Morgen würde sie wohl ins Krankenhaus fahren müssen, um der Kollegin Bertaluise Nürnberger ihre Aufwartung zu machen. Sagte man das so? Aufwartung? Paula schmunzelte. Ob das auch so ein verrücktes Huhn war wie dieser Hofmockel? Sprüche hatte der drauf. Das würde noch ein hartes Stück Arbeit werden, den zur Raison zu bringen. Sein Ruf war ihm vorausgeeilt.

Hoffentlich habe ich keinen Fehler gemacht, als ich mich nach Nürnberg versetzen ließ. Eine Rheinländerin nach Franggn. Paula übte ein paarmal, das K wie ein G klingen zu lassen, gab es dann aber auf.

Kollege Hofmockel wirkte nicht recht begeistert, als er erfuhr, dass er diesen Cold Case bearbeiten sollte.

Sie stand auf, richtete sich erneut die Bluse, die aus dem Hosenbund gerutscht war, und griff zum Telefonhörer. Nach dem zweiten Läuten wurde bereits abgenommen.

»Hallo Sohnemann! Ich mache mich auf den Weg. Komme heute mal pünktlich nach Hause. Kannst du schon Kartoffeln aufsetzen?«

»Machst du Auflauf, Mama?«

»Ja, genau so, wie ihr ihn mögt. Bis gleich.«

Sie musste nur die Stimme einer ihrer drei Buben hören und schon besserte sich ihre Laune.

Ein letzter Blick zu der Zeitung, die auf dem Schreibtisch lag. »Ein dreißig Jahre alter Fall«, dachte sie. »Da hatte der Journalist recht: Mord verjährt nicht. Noch nach Jahrzehnten konnten Täter mittels neuer Methoden überführt werden. Wie gut, dass sich die DNA-Analysen so weiterentwickelt haben.«

»Wenn ich ehrlich bin«, sprach sie laut zu sich selbst, »dann hat dieser provokante Zeitungsartikel den Ausschlag gegeben.«

Sie setzte sich, strich über den Zeitungsartikel. »Und wenn wir jetzt noch genügend Geld zur Verfügung bekommen, können wir auch effektiv arbeiten«, resümierte Paula Trejo. Sie nahm einen Aktenordner und stellte ihn in eine größere Schublade. Sie wollte pünktlich Feierabend machen. Das war sie ihren Söhnen schuldig. Das Telefon läutete, sie ignorierte es, schloss mit Nachdruck die Tür, sperrte ab. Auf dem Weg zum Parkplatz ließ sie noch einige Gedanken zu. Mal sehen, was dieser Hofmockel taugt und draufhat. Und wenn es genehmigt wird, dann kann die Aufklärung dieses ungelösten Mordfalles auch vorangetrieben werden. Das werden arbeitsintensive Ermittlungen werden.

Krankenhaus

»Sie nimmt nicht ab«, sagte Klaus zu Belu gewandt. »Jetzt habe ich es zigmal läuten lassen.

»Vielleicht ist sie schon gegangen?«

»Sag mal, es ist erst achtzehn Uhr. Da macht man nicht schon Feierabend.« Klaus tat entrüstet. »Die Oberstaatsanwältin wird doch wohl nicht geregelte Arbeitszeiten einführen?«

Belu richtete sich in ihrem Bett auf, drückte den Knopf der Servosteuerung. Langsam kam das Rückenteil höher. Aufatmend ließ sie sich zurückgleiten.

»Jetzt erzähl schon von diesem alten Fall.«

»Weißt du was, Chefin, wenn du hier wieder rauskommst, lade ich dich auf einen Tequila ein. Ich habe ein neues Lokal entdeckt. Die Wirtin heißt Esmeralda und kommt aus Großhabersdorf.«

»Klausi! Was ist mit dem Fall?«

»So genau habe ich, ehrlich gesagt, noch nicht reingesehen.«

»Du lenkst ab. Willst du es mir nicht erzählen?«

»Also gut, du gibst ja doch keine Ruhe. Oberstaatsanwältin Trejo hat mir einen dreißig Jahre alten Fall auf den Schreibtisch geknallt.«

»Sagtest du schon.«

»Mitte der 80er hat man eine Frau tot aufgefunden. Sie war mit einer Strumpfhose an Händen und Füßen gefesselt. Ihre Identität konnte geklärt werden. Eine biedere Hausfrau, verheiratet, eine Tochter. Der Ehemann Postbeamter, kein Motiv, er selbst hatte ein Alibi.«

»Warum hat diese Oberstaatsanwältin ausgerechnet diesen Fall wieder ans Tageslicht gezogen?«

Klaus nahm eine Zeitung aus seiner Jackentasche, zeigte wortlos auf einen Artikel, den er angemarkert hatte.

»Ach Belu, vielleicht war der Fall auch turnusmäßig dran.«

»Ich glaube eher, dass dieser Artikel etwas damit zu tun hat. So einen Angriff kann man nicht auf sich sitzen lassen.«

Belu klopfte mit dem Zeigefinger auf den Bericht.

»Da hast du was vor dir, lieber Kollege.«

Klaus nickte. »Weißt du, ich habe nachgedacht.«

»Klausi, gib nicht so an!«

Er zog eine Schnute. »Haha, Frau Kollegin sind witzig. Den genetischen Fingerabdruck gibts ja noch nicht so lange. Ich fange am besten damit an, Spuren auszuschließen.«

»Das ist gut. Überprüfe, ob es Fingerspuren von Kollegen oder auch vom Rettungsdienst gibt.«

»Mach ich. Da hast du dir wohl zum richtigen Zeitpunkt den Fuß gebrochen, würde ich sagen.«

»Ich wünsche dir meine Schmerzen, Herr Kollege!«

»Ist ja schon gut. Ich halte dich auf dem Laufenden.« Klaus hob die Hand, nickte und verließ das Krankenzimmer. Was würde da auf ihn zukommen? Ihm graute ein bisschen davor, diesmal der verantwortliche Ermittler zu sein.

Kommissariat, Büro von Belu und Klaus

Es klopfte lebhaft. Sein Herein wurde nicht abgewartet, die Tür öffnete sich sofort. Zuerst sah Klaus nur einen Kopf mit ein paar roten Locken, dann zeigte sich ein Fuß, der in einer Sandalette mit höherem Absatz steckte.

»Hallo, meine Süße, was machst du denn hier?« Klaus sprang von seinem Schreibtischstuhl hoch und eilte auf den Fuß zu, zog den dazugehörenden Körper ins Büro. Noch im Türrahmen küsste und umarmte er die Dame.

»Nicht so stürmisch! Siehst du nicht, dass ich einen Kaffeebecher in der Hand habe?«, meinte sie lachend.

Klaus nahm seiner Freundin Cora den Pappbecher ab, stellte ihn achtlos auf den Schreibtisch und küsste sie erneut.

»Klaus, wir haben uns doch erst vor Kurzem verabschiedet.«

»Ich kann nicht genug von dir bekommen!«

»Man merkt, dass du alleine im Büro bist. Keine Belu, die dich an der Kandare hält.« Cora schüttelte ihre Mähne, zeigte eine Reihe gesunder Zähne.

»Du weißt doch, dass ein Kuss nur eine Anfrage ist, ob das Parterre frei ist.«

»Klausi! Ich habe gar nicht viel Zeit. Eine Kollegin ist beim Zahnarzt und ich springe für sie ein. Außerdem muss ich noch an die Uni.«

»Und da denkst du an mich und bringst mir ein süßes Teilchen mit.« Klaus verdrehte die Augen genießerisch und leckte sich über die Lippen.

»Woran arbeitest du? Gibts was Neues?«

»Eher was Altes. Der Fall ist an die dreißig Jahre alt. Turnusgemäß muss er bearbeitet werden.«

»Darfst du mir sagen, worum es geht?«

»Eigentlich nicht. Nur so viel, die Leiche war mit einer Strumpfhose gefesselt.«

Cora lächelte, warf einen Blick auf den geöffneten Akt, zuckte leicht zusammen. Schnell hatte sie sich wieder in der Gewalt. Sie lächelte und hauchte ihm eine Kusshand zu. »Bis heute Abend und dann rasierst du dich. Du kratzt.«

Krankenhaus

Belu drehte sich von einer Seite auf die andere. Sie konnte nicht schlafen, drehte das Licht auf. »So untätig zu sein, ist einfach nichts für mich. Verdammt noch mal! Jetzt halte ich schon laute Selbstgespräche.« Sie beherrschte sich gerade noch, die Nachtschwester zu rufen. Ihre Gedanken gingen zu der Treppenstufe. Wie immer war sie wohl in Gedanken gewesen. Aufstehen konnte sie auch nicht. Da hatte sie sich etwas eingebrockt. Wie kann man nur eine Stufe übersehen? Sie schüttelte über sich selbst den Kopf, griff nach einem Buch, konnte sich aber nicht konzentrieren. Dann griff sie zur Schublade und holte ihr iPhone heraus.

»Bring morgen den Akt mit«, simste sie Klaus. Sie musste etwas tun. Faul im Bett liegen war so gar nicht ihr Ding.

Kommissariat, Büro

»Falls jemand Nerven findet, das sind meine.« Klaus grummelte. Der Kollege an der Pforte sah Oberkommissar Klaus Hofmockel über den Brillenrand hinweg an. Da Klaus wahrscheinlich einen Monolog führte, antwortete der Kollege nicht. Der Aufzug musste wohl irgendwo festsitzen. Die gute Laune, die er nach dem Aufstehen und mit Blick auf die schlafende Cora verspürt hatte, war am Schwinden. Er hätte nicht auf sein Handy schauen sollen. »Morgenstund ist aller Laster Anfang«, schimpfte er leise vor sich hin. »Belu ist langweilig in ihrem Krankenhausbett und schon scheucht sie mich rum.« So stapfte er missmutig die Treppen zu seinem Büro hoch, schnüffelte Reinigungsmittel, riss sowohl Fenster als auch die Schublade auf und holte sich den Aktenordner.

Krankenhaus

»Und hast du die Unterlagen dabei?« Belus langes Haar war zu einem ordentlichen Zopf geflochten. Sie sah nicht mehr ganz so blass aus. Klaus nickte, reichte ihr die Mappe. Die nächste Stunde herrschte Schweigen, nur das Rascheln von Papier unterbrach die Stille, wenn Belu die Seiten umblätterte.

»Ich sehe ja, wie die Rädchen in deinem Kopf herumrattern. Aber ich habe jetzt, ehrlich gesagt, keine Zeit mehr, um auf das Ergebnis zu warten«, meinte Klaus. Er trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen auf der Bettkante.

»Verstehe ich ja, aber ich wollte mir einen Überblick verschaffen, worum es bei diesem Fall geht.«

»Selbstverfreilich! Belu, du sollst dich schonen, du bist krank!«

»Das hättest du wohl gerne? Schwester Rabiata hat das auch schon mitbekommen. Ich hab's im Fuß und nicht im Kopf!«

Klaus stöhnte. Seine Chefin war einfach unverbesserlich. Desto mehr verwunderte es ihn, dass sie abrupt das Thema wechselte:

»Und? Alles gut mit Cora?«

»Warum fragst du?«

»Es interessiert mich halt, wie es meinen Mitarbeitern geht.«

Ein breites Lächeln zauberte sich in Klaus' Gesicht. Er konnte gar nicht anders als grinsen. »Ich bin sehr glücklich. Ich hoffe, dass ich noch lange mit Cora zusammenbleiben werde.«

»Das wünsche ich dir von Herzen. Mit einem Bullen liiert zu sein, bedeutet oft Verzicht.«

Warum sagte sie es so ernst? Sie verzog zwar den Mund, aber ihre Augen lächelten nicht mit.

Klaus verabschiedete sich von Belu, als es an der Tür sehr energisch klopfte. Mit Schwung riss er sie auf.

»Ablösung«, trällerte er fröhlich. »Guten Morgen, Frau Oberstaatsanwältin. Darf ich bekannt machen? Bertaluise Nürnberger, erste Hauptkommissarin«, er zeigte auf Belu, deren Schultern sich unwillkürlich gestrafft hatten, »und das ist Paula Trejo, unsere neue Oberstaatsanwältin.«

Er sah noch, wie sich die Damen die Hände schüttelten, dann rief er ein fröhliches »Wiedersehen!« in die Runde und schloss sehr sorgfältig die Tür.

Cora schlenderte die Breite Gasse entlang. In der Hand hielt sie einen frisch gepressten Saft, geholt von der Fruchtecke. Das, was ihr Klaus gesagt, was sie selbst gesehen hatte, saß in ihrem Gedächtnis fest wie eine Spinne im Netz. Ein alter Fall. Sie wusste nun, was sie zu tun hatte. Endlich!

*

Die alte Frau bewegte sich behäbig auf ihren beiden Stöcken vorwärts. Ein Schritt vor den anderen. Langsam. Sehr langsam. Sie sah sich immer wieder um. Betrachtete die Bäume, die in der Anlage liebevoll gepflegt wurden. Der Weg zur Kapelle war geteert, am Rand blühten Butterblumen. Sie blieb immer wieder stehen, schnaufte, murmelte irgendetwas. Die Altenpflegerin, die gerade einen Herrn im Rollstuhl an eine Bank schob, verfolgte sie mit Blicken. »Es muss schrecklich sein«, sagte sie zu ihrer Kollegin, »wenn man geistig fit ist wie ein Turnschuh, aber der Körper streikt.«

»Ja, sie macht den Jungen noch was vor!«

»Und das mit 84!«

*

Ehebrunnen

Cora steckte den Becher ordentlich in den Müllbehälter, der an einem Laternenpfahl angebracht war. Sie ließ sich auf eine Bank nahe des Ehebrunnens fallen. Mit Blick auf die Uhr am Weißen Turm stellte sie fest, dass es für die Vorlesung, die sie eigentlich besuchen wollte, zu spät war. Sie würde nicht mehr pünktlich kommen. Und den begleitenden Kommentar des Dozenten für nachträglich Hereinschlüpfende wollte sie sich auch nicht anhören. Ihre Gedanken fuhren Achterbahn. Sie war vollkommen durcheinander. Ein alter Fall, hatte Klaus gesagt. Und noch etwas hatte sie aufgeschnappt. Der Name – das ließ ihr keine Ruhe mehr. Sie würde etwas tun. Sie musste einfach!

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