Читать книгу Nichts ist vergessen - Ursula Schmid-Spreer - Страница 7
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ОглавлениеRechtsmedizin Erlangen
Klaus fuhr mit der Oberstaatsanwältin Paula Trejo zum Rechtsmedizinischen Institut nach Erlangen. Sie hatte darum gebeten, wollte die Räumlichkeiten und den Rechtsmediziner persönlich kennenlernen. Die Fahrt verlief schweigend. Jeder hing seinen Gedanken nach. Klaus passte sich dem fließenden Verkehr an. Er hielt sich genau an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. In der Universitätsstraße herrschte reges Treiben. Studenten mit Rucksäcken wuselten eilig von einer Vorlesung zur nächsten. Galant hielt Klaus Oberstaatsanwältin Trejo die Tür auf. Dr. Schimmelfuß erwartete sie bereits. Er lächelte, sodass seine Hasenzähne besonders hervorstachen.
»Sie wollen sich also mal unsere Gerichtsmedizin ansehen und mich kennenlernen, gnädige Frau. Ich weiß, auch ein schlechter Ruf verpflichtet.«
»Aber nicht doch, Herr Doktor. Ich möchte schließlich wissen, mit wem ich es zu tun habe. Nur eine Stimme zu hören, ohne ein Gesicht dazu, gefällt mir nicht so sehr.«
Klaus verdrehte die Augen. Sollte das etwa ein Flirtversuch sein? Dann waren beide, seinem Geschmack nach, sehr untalentiert und ungeübt.
»Ich war damals noch nicht bei der Gerichtsmedizin«, sagte Dr. Schimmelfuß. »Deshalb musste ich mich erst orientieren und die Unterlagen lesen. Der Fall wird also wieder aufgerollt?«
»Ja,« sagte Paula Trejo, während sie hinter dem Rechtsmediziner herging. Klaus, der die Räumlichkeiten nun wirklich in- und auswendig kannte, hätte sich lieber abgeseilt, als den beiden bei ihrem Geplänkel zuzuhören.
»Meinen Sie, dass wir den Sarg öffnen lassen, um dann eine Autopsie durchzuführen? Sie wissen ja, wie die sterblichen Überreste nach all dieser Zeit aussehen können.« Dr. Schimmelfuß kratzte sich nachdenklich an der Nasenspitze und meinte: »Eine Obduktion ist damals vorgenommen worden. Die Frau wurde erstickt. Das war die Todesursache.«
Paula Trejo hüstelte gekünstelt. »Wir werden sehen, außerdem muss das dann zu gegebener Zeit der Ermittlungsrichter entscheiden. Vorerst werden wir klären«, Trejo wandte sich an Klaus, »wie wir mit den Materialien zurechtkommen, die wir vorliegen haben.«
Klaus lächelte etwas gequält. Dieser Small Talk, den die Oberstaatsanwältin da führte, gefiel ihm überhaupt nicht. Er hätte jede Menge Arbeit, von Aktenstudium über Telefonate, schlichtweg Ermittlungsarbeit, stattdessen verplemperte er seine Zeit mit Geplauder.
»Kaffee kann ich Ihnen anbieten«, sagte Dr. Schimmelfuß freundlich in seine Gedanken hinein. »Wir haben eine neue Kaffeemaschine und das Gebräu, das sie fabriziert, schmeckt gar nicht so schlecht.« Er verzog den Mund zu einer Grimasse. Klaus und Paula nickten unisono. Klaus' Blick streifte kurz das Gesicht der Oberstaatsanwältin. Es war immerhin seine erste Zusammenarbeit mit ihr.
»Mal sehen, ob sie umgänglich ist«, dachte er, »und mit uns zusammenarbeiten möchte. Mangelnde Information kann ich nicht gebrauchen.« Er bohrte sich den Finger in die Wange und kaute die Haut in der Innenseite der Mundhöhle ab.
Paula Trejos Blick ruhte auf Klaus. Auch sie machte sich ihre Gedanken: »Alleingänge und mangelnde Infos kann ich gar nicht ab. Mal sehen, wie sich der Kollege macht.« Sie lächelte.
Die alte Frau ließ den Rosenkranz durch ihre Finger gleiten. Dabei murmelte sie immer wieder: »Vergib mir meine Sünden, Mutter Maria.« Die Kapelle war nachträglich zum Seniorenheim dazugebaut worden. Die alten Leute besuchten den Andachtsraum gerne. Es standen immer frische Blumen auf dem kleinen Altar. Eine der Schwestern zündete jeden Morgen eine Kerze an. Es war eine geruhsame Atmosphäre, die vorherrschte. Selbst Gäste, die ihre Angehörigen besuchten, verweilten wie selbstverständlich einige Zeit an dem friedlichen Ort.
Die alte Frau verbrachte über eine Stunde in der Kapelle. Auf dem ganzen Gelände standen Gehwagen. Manche Bewohner überschätzten ihre Kräfte und waren dann dankbar, wenn sie sich aufstützen konnten. Sie nahm so einen Rollator, der in einer Nische der kleinen Kirche stand, rollte langsam zum Haupthaus zurück. Das hauseigene Café war ein beliebter Treffpunkt. Dort gab es verschiedene Zeitschriften und Zeitungen.
Die Gehhilfen steckten jetzt in Halterungen. Die Tür zum Café öffnete sich automatisch. Die alte Frau ließ sich auf einem Stuhl nieder, griff sich die Tageszeitung und begann zu lesen. Ihre Lippen bewegten sich, sie schüttelte den Kopf und murmelte etwas von »diese Politik«. Eine der Schwestern beobachtete sie.
»Wenn ich mit 84 noch so fit im Kopf bin, kann ich mich glücklich schätzen«, dachte die Pflegerin.
Krankenhaus
»Ich krieg hier noch die Krise. Es juckt höllisch. Macht man das heute überhaupt noch, dass man den Fuß eingipst?«
Der Arzt, der die Visite bei Belu abhielt, sah sie konsterniert an. »In Ihrem Fall schon, Sie Unruhegeist. Sie bleiben ja nicht friedlich liegen, bewegen sich laufend. Wie soll da ein Bruch heilen?«
»Ich bin es nicht gewöhnt, so untätig rumzuliegen«, murrte Belu.
»Da müssen Sie jetzt wohl durch, Frau Kommissarin. Sie wissen ja, die Gedanken sind frei. Und hier ist die Fernbedienung, vielleicht finden Sie einen spannenden Krimi auf einem der Kanäle. Oder noch besser: Schreiben Sie einen. Diesbezüglich haben Sie doch bestimmt einiges erlebt.«
»Dann geben Sie mir wenigstens die Stricknadel, damit ich mich kratzen kann.«
Der Arzt lachte, machte eine kleine Verbeugung und verabschiedete sich.
Belu ließ sich in die Kissen zurücksinken. Er hatte recht, die Gedanken waren frei. Was sollte sie von dieser neuen Oberstaatsanwältin halten? War sie übereifrig? Korrekt? So wie sie aussah, wirkte sie sehr burschikos. Flache Schuhe.
»Wenn eine schon flache Schuhe anhat«, sagte Belu laut. »Was soll man von einer Dame halten, die daherschlurft? Und diese superkurzen Raspelhaare!«
Welch ein Glück, dass sie alleine im Zimmer war. Es zahlte sich aus, Beamtin und damit Privatpatientin zu sein. Sie nahm die Fernbedienung und zappte die Programme durch. Nichts war dabei, was sie interessieren könnte. »Flache Schuhe«, dachte sie erneut. Sie selbst hatte mindestens sieben Zentimeter hohe Schuhe an. Sie wollte die neue Oberstaatsanwältin nicht an Äußerlichkeiten festmachen. Immerhin hatte sie Klaus geschimpft, als er die Dame als burschikos bezeichnet hatte, nur weil sie eine große Herrenarmbanduhr trug.
Das Gespräch war freundlich, aber distanziert verlaufen.
»Die wollte mich kennenlernen und sehen, wie ich so ticke«, dachte sie.
Belu schüttelte den Kopf über sich selbst. Sie griff zu einer Modezeitung, konnte sich aber nicht konzentrieren, denn das Bild der Oberstaatsanwältin Paula Trejo schob sich immer wieder vor ihr geistiges Auge.
»Anstand hat sie wenigstens, sie hat sich vorgestellt und mir gute Besserung gewünscht.«
Zornig drückte Belu die Knöpfe der Fernbedienung und zappte sich erneut durch alle Programme. »Nur Schmarrn, Wiederholungen und Liebesschmonzetten. Und das, nachdem ich so viel Fernsehgebühren bezahle.«
Kommissariat, Büro
Klaus holte sich eine Tasse Kaffee, legte einen Fuß auf dem Papierkorb ab. Er schlug die Aktenmappe auf und begann, konzentriert zu lesen.
»In den frühen Morgenstunden, drei Uhr dreißig, war der Bäckergeselle Friedrich Albrecht mit dem Mofa unterwegs zu seinem Arbeitsplatz. Sein Weg führte ihn an einem alten Bauernhof vorbei, der nicht mehr bewirtschaftet wird. Er war noch müde und übersah daher einen Stein. Er stürzte, rutschte in den Graben und versuchte, sich an einem herabhängenden Ast festzuhalten. Im Fallen erkannte er einen Fuß. Er selbst hatte sich nur Hautabschürfungen zugezogen und seine Handgelenke schmerzten, da er sich mit ihnen abgestützt hatte. Er sah nach, ob er tatsächlich einen Fuß gesehen oder ob er sich getäuscht hatte.«
Klaus ließ das Blatt sinken. »Wäre nichts für mich, so bald aufzustehen. Dieser Albrecht muss noch sehr müde gewesen sein, dass er den Stein nicht gesehen hat.«
Er suchte in den Papieren nach der Adresse und der Telefonnummer. Er ließ es etliche Male läuten, niemand hob ab. Er machte sich geistig eine Notiz, dass er nach diesem Herrn Albrecht noch recherchieren und ihn noch einmal anrufen wollte. Dann las er die Ausführungen des Protokolls weiter.
»Es war eine junge Frau, die er fand. Zugedeckt mit Blattwerk. Sie trug eine Unterhose, ansonsten war sie nackt. Sie war an Händen und Füßen mit einer Strumpfhose verschnürt.«
»Strumpfhose, verschnürt«, sagte Klaus laut. »Fixiert, gebunden, was fällt mir dazu ein?« Bevor er zum Telefonhörer griff, las er den letzten Satz der Niederschrift. Nachdem das Blattwerk weggeräumt worden war, fand man eine Zigarette auf der Brust der Toten.
Klaus wählte eine Nummer. Sofort wurde abgenommen.
»Himmel, muss dir langweilig sein, wenn du schon abnimmst, während es das erste Mal klingelt. Oder hast du Röntgenaugen?«
»Ich habe es doch auf dem Display gesehen!«
»Ich habe einen neuen Witz, Chefin, damit du wenigstens einmal am Tag was zu lachen hast.«
»Das wird wieder was sein«, hörte Klaus aus dem Hörer. Irrte er sich, oder klang Belu verschnupft?
»Also hör zu: Was sagt ein Mann, wenn er bis zum Bauchnabel im Wasser steht? Na, was meinst du?«
Man hörte ein lang gezogenes Schnaufen. Klaus konnte sich lebhaft vorstellen, wie Belu nun die Augenbrauen nach oben zog.
»Das geht über meinen Verstand. Gut, gell?«
Ein paar Sekunden war es still. Dann prustete Belu los, lachte schallend. »Das passt wie die Faust aufs Gretchen.«
»Wer zweideutig denkt, hat eindeutig mehr Spaß«, konterte Klaus, grinste und rieb sich über die Stoppeln an seinem Kinn. Wenn Cora nichts dagegen hatte, würde er sich doch einen Dreitagebart stehen lassen. Das kratzte dann sicher nicht mehr.
»Warum ich eigentlich anrufe: Denkst du dasselbe wie ich? Verschnürt, gefesselt, fixiert? Nach was schaut das aus?«
Eine Weile war es still im Hörer, dann kam es wie aus der Pistole geschossen. »Du hast recht, das ist ...«
»... Bondage«, ergänzte Klaus. »Danke, dann weiß ich, was ich als Nächstes tun muss.«