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Kugelhagel im Kuhstall

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In der Bürgermeisterei klingelt das Telefon. Eine aufgeregte Frauenstimme ruft um Hilfe, ein Angeschossener sei am Verbluten. Er müsse unbedingt ins Krankenhaus. Über einen Ambulanzwagen verfügt die Gemeinde noch nicht. Der Gesundheitsstation der Gemeinde sollte seinerzeit ein gebrauchter Ambulanz-Wagen aus Frankreich geschenkt werden. Die Schenkung eines gebrauchten Wagens wurde aber von Ankara abgelehnt, nur ein Neuwagen könne als Geschenk bewilligt werden. Und so ging die Schenkung damals nach Zypern. Der Gemeindevorsteher ordert im Dorf also einen Privat-Pkw samt Fahrer, der den Verletzten in ein Krankenhaus der Provinzhauptstadt bringen soll. Während das Opfer über die holprige Landstraße in die 80 km entfernte Provinzhauptstadt Sivas gefahren wird, läuft im Dorf die Gerüchteküche heiß:


Im Kuhstall von Haydar soll es geknallt haben. Der Kuhstall von Haydar ist ein ganz besonderer Kuhstall, denn darin stehen nicht die für das Hochland Kleinasiens üblichen hageren Bergkühe, sondern dicke fette Milchkühe aus Holland, richtig dralle Prachtexemplare, deren Milch im 150 km entfernten Kayseri zu gutem Käse verarbeitet wird. Da im Stall war also etwas passiert. Ein Verwundeter war blutend aus dem Stall gekrochen und bis zum Haus des Herrn der Hollandkühe gelangt. Dort traf er auf dessen Enkelin und brach bewußtlos zusammen. Die Enkelin hatte gleich in der Bürgermeisterei Alarm geschlagen. Der Schütze war ungesehen geflohen und konnte noch nicht benannt werden.


Am Abend kam ein Anruf aus dem zwei Kilometer entfernten Nachbardorf Kaleköy. Ein 17-jähriger Bursche war dort an der Tankstelle festgehalten und der Gendarmerie übergeben worden, weil er ohne Schuhe an den Füßen zur kalten Winterszeit aufgefallen war. In der Tat hatte dieser barfuße Knabe wenige Stunden zuvor seinen acht Jahre älteren Großcousin im Kuhstall erschießen wollen. Der Enkel des Herrn der Hollandkühe hatte auf seinen Großcousin geschossen. Ergebnis: Eine Kuh seines Großvaters tot, ein Bein des Großcousins vom Knie bis zur Leiste mit Kugeln durchsiebt.


Die Gendarmerie rollt vor der Bürgermeisterei vor und holt den Gemeindevorsteher zum Tatort. Rinderstall und Blutlachen werden ausgemessen. Der Stall ist 11 m lang und 7 m breit. Auf einer Seite des Stalls stehen sieben Hollandkühe, auf der anderen vier weitere Hollandkühe. Fünf Meter vom Eingang entfernt imponieren mehrere größere Blutlachen. Fast am Ende des Stalls finden sich im Abstand von 30 cm zwei kleinere Blutlachen. Daneben die durch Kopfschuß erlegte Kuh.


Nach dem Abendgebet strömen die Männer aus der Moschee und stecken auf dem Dorfplatz vor der Moschee die Köpfe zusammen. Länger als sonst stehen sie beieinander und halten Rat über die am Tage gelaufene Katastrophe im Kuhstall und die leidige Schießerei. Da hatte doch der jetzt Angeschossene, der in dem Eckhaus gleich hinter der Brücke am Bach wohnt, im vergangenen Jahr an Haydar’s Enkel für 200 $ seine Schrotflinte verkauft. Jetzt wollte er sie angeblich wieder zurückkaufen. Der 17-jährige brachte also die Flinte zum vereinbarten Treff in den Stall seines Großvaters. Dort verlangte der Großcousin die Flinte und eröffnete Haydar's Enkel, daß er das Geld für die Flinte nicht bar auf die Hand bekomme, sondern irgendwann später in Raten. Damit war der 17-jährige gar nicht einverstanden, denn er hatte die Flinte ja auch cash bezahlt gehabt. Er wollte das Geld sofort. Andernfalls würde er schießen. Da kam aber kein Geld. Plötzlich lag einer zerschossen im Stall, der andere verschwand. Da hat der 17-jährige Knabe doch tatsächlich das Magazin der Flinte leergeballert. Und dann hat er sich flugs auf die Socken gemacht. Der Angeschossene kroch irgendwie hinter der Kuh hervor, hinter die er sich geflüchtet hatte, und quälte sich aus dem Stall heraus bis hinüber zum Wohnhaus seines Großonkels Haydar. Dort traf er auf die Schwester des Schießwütigen. Die hatte dann um Hilfe in der Bürgermeisterei angerufen.


Gegen Mitternacht werden eigenartige hohe Töne durch die Stille des Dorfes getragen. Es ist das Wehklagen der angereisten Mutter und der Anverwandten des Opfers. Noch vor dem Morgengrauen mengt sich in das Wehklagen das muntere Kikeriki der Hähne aus den umliegenden Bauerngehöften.






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