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Ausbruch und Aufbruch Die Geschichte von Valeska von Mühldorfer
ОглавлениеEigentlich habe ich mir das Leben geschaffen, das ich haben will: Ich liebe meinen Job, habe tolle Freunde, eine Eigentumswohnung. Ich liebe Berlin.
Ich muss wieder weg. Seit fünf Jahren kämpfe ich dagegen an und komme langsam zu dem Schluss, dass ich nicht gewinnen kann. Ich lege mich nicht mehr fest, schließe keine langfristigen Jobs ab, noch nicht mal langfristige Handyverträge. Ich führe eine Kalkulationstabelle: Wie gebunden bin ich? Welche laufenden Ausgaben habe ich, wie viele Rücklagen, wie viel braucht es noch, um wieder reisen zu können? Ich versuche, mein Leben so zu gestalten, dass da jederzeit ein Notausgang wäre. Ich weiß überhaupt nicht, was in sechs Monaten sein wird, habe keine Pläne, kein Lebensziel. Manchmal rührt mich das zu Tränen. Dann liege ich im Bett, will gar nicht wieder rauskommen.
Alles fing mit einem geregelten Leben an. Einer der Höhepunkte war das Abitur, ein zweiter der Vertrag bei Siemens, ein dritter der Abschluss meines dualen Studiengangs. Und dann ging es los: Depressionen. Ich saß heulend zu Hause und wurde immer fetter. Meine Mutter wunderte sich – »Warum?«, fragte sie. »Zahlen die schlecht? Du bist doch jetzt abgesichert. Es ist doch alles gut.« Man muss dazu wissen: Ich komme aus Augsburg. Mein Umfeld ist konservativ. Da heißt es: Erst machst du eine Ausbildung, dann gehst du arbeiten, und dann bist du glücklich.
Mir war selbst nicht klar, warum ich unglücklich war. Denn Siemens zahlte in der Tat gut. Sogar sehr gut. Damals – mit Anfang 20 – war mein Gehalt doppelt so hoch wie jetzt mit beinahe 30. Was sollte ich meiner Mutter sagen? Keine Ahnung. Und trotzdem sah ich mit 22 so aus wie mit 40 und saß regelmäßig beim Psychiater. 60-Stunden-Wochen füllten mein Leben mehr als aus, und dennoch war da diese Leere. Für wen oder was die ganze Arbeit und die ganze Kohle? Keine Ahnung. Eine Frage keimte in mir auf: »Wenn ich mich jetzt schon so alt fühle – wie wird das dann in 20 Jahren?«
Was ich mir antun musste für dieses Gehalt, dass mir das nicht guttat, war mir lange nicht klar. Ich hatte nie ein richtiges Studentenleben gehabt, keine Zeit zum Chillen, für Partys, Jungs, dafür, herauszufinden, was es noch so gibt im Leben. Wenn ich nicht studierte, arbeitete ich. Das Bachelorzeugnis war gerade aus dem Drucker gefallen, da bot mir Siemens schon einen Folgevertrag an. Ich war in einer Eliteblase gefangen, in der ich langsam zur Managerin herangezüchtet wurde.
Dann hörte ich von »Escape the City«, so einer Art Jobbörse für frustrierte Konzernarbeiter. Die war damals gerade gestartet. Es folgte ein kurzer Mailaustausch mit den Jungs in London. Mir ging es gar nicht darum, dass sie mir irgendeinen verrückten Job in Lateinamerika oder so vermitteln, aber ihre Antworten halfen schon. Sie führten mir vor Augen: Ich bin nicht die Einzige, und: Ich kann jederzeit kündigen. Das war ein Lernprozess, dass das geht, dass man einen Job kündigen kann – auch wenn er gut bezahlt ist.
Danach ging es los. Weltreise. Ein Jahr lang. Kanada, USA, Hawaii, Asien. Whatever. Danach die Rückkehr. Mein Leben back home? Es ist seit fünf Jahren dominiert von den immergleichen Gedanken. Es ist dieses ständige Gefühl des »Ich will hier wieder weg!« Und dann frage ich mich: »Will ich hier wirklich wieder weg? Kann ich dem trauen, oder ist das ein Wegrenn-Mechanismus? Und wenn ja, vor was?« Oh Gott, es geht so tief. Ja, es ist Fernweh. Latent war es immer da, aber seit dem Trip ist es ausgebrochen wie das Coronavirus. Es ist diese Idee, dass wegfahren besser wäre als bleiben. Und wenn man so will, hat für mich das Reisen auch nach der Heimkehr nicht wieder aufgehört: Von München ging es nach Schweden; von Schweden später nach Berlin. Ein anderes Phänomen: War ich früher nicht in der Lage, einen Job zu kündigen, bin ich nun nicht mehr in der Lage, einen Job länger als zwei Jahre zu behalten.
Es ist dieses ständige Gefühl des »Ich will hier wieder weg!«
Aber der Reihe nach. Ich komme von der Reise zurück. Aus dem Flieger steigt gemeinsam mit mir ein gut gebauter, blonder Schwede, den ich sehr liebe. Wir haben uns in Argentinien kennengelernt, und ich bin mir sicher: Unsere Zukunft liegt in Östersund – 50.000 Einwohner, Wasser, Wälder, Elche. Das Einzige, was mir ein bisschen Angst macht, ist die Kündigung bei Siemens. »Gehen Sie nicht, Frau von Mühldorfer«, hatte mein Chef mich damals gebeten. »Ich will eine gute Kraft wie Sie nicht verlieren. Machen Sie ein Sabbatical. Schauen Sie sich die Welt an, und dann kommen Sie zurück.« Nun also gehe ich die Flure meines ehemaligen Büros entlang. Vor mir die Tür meines Chefs. Nach dem Klopfen ein »Herein!«. Er sitzt am Schreibtisch. Er hat sich kaum verändert. Es freut mich, ihn zu sehen, und zugleich spüre ich einen Kloß im Hals. Ich mag ihn. Es schmerzt, als ich ihm nun den weißen Briefumschlag mit der Kündigung hinhalte. Undankbar komme ich mir vor. Er sieht mich an, nickt, weist mit der Hand auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch. Es sind immer noch die gleichen, die, in denen man so schön wippen kann. Wippe ich eben noch ein letztes Mal. Es wird ein gutes Gespräch. Er selbst werde die Firma in drei Wochen verlassen. Mühsam suche ich nach Worten. Was? Dass mein alter Boss jemals seine Abteilung verlassen würde, seine geliebte Abteilung. Undenkbar. Das war vor einem Jahr nicht abzusehen gewesen. Alles hat sich verändert. Alles verändert sich ständig. Alles ist unaufhörlich im Wandel.
Alles hat sich verändert. Alles verändert sich ständig. Alles ist unaufhörlich im Wandel.
Der nächste Gang ist der zu meiner alten Wohnung. Noch bevor der Schlüssel im Schloss steckt, kommen mir all die Kisten in den Sinn, die ich gleich werde packen müssen, und die ich eigentlich gar nicht packen will. Von mir aus könnte einfach alles hierbleiben. Materielles juckt mich nicht. Nichts davon wird mit nach Schweden kommen. All diese Möbel! Wird es mir gelingen, sie in den nächsten zwei Wochen zu verkaufen? Die Tür geht auf, ich gehe um die Ecke. Das Sofa ist nicht mehr da, das Bett fehlt auch. Die Wände sind jungfräulich weiß, auf dem Dielenboden zeichnet sich ein blasses Rechteck ab – dort lag einmal ein Teppich. Ich gehe ein paar Schritte zurück. Es hätte mir gleich auffallen müssen: Der Schuhschrank im Flur fehlt. Allmählich macht sich in meinem Kopf die Leere breit, die in dieser Wohnung herrscht. Beim Blick ins Bad wundere ich mich schon nicht mehr, dass der Duschvorhang fehlt. Die Einbauschränke in der Küche sind noch da, doch die geringelten Eierbecher, meine Lieblingstasse mit den blauen Punkten, die gelben Teller, nichts ist mehr drin, Töpfe, Besteck, Küchengeräte – alles weg. Langsam lasse ich mich auf einen einsamen Stuhl sinken, der aus irgendeinem Grund noch da ist. Ich atme ein, ich atme aus, ich atme auf. Ich bin frei! Meine Zwischenmieterin hat tatsächlich bis auf den hölzernen Vierbeiner unter mir alles mitgenommen. Alles. Der Stuhl findet sich kurz darauf auf dem Bürgersteig unter meinem alten Wohnzimmerfenster wieder. Ein Zettel daran: Zu verschenken. Mit zwei Taschen ziehe ich nach Schweden zu meinem Partner und fange noch einmal ein Studium an – diesmal mit Chillen, Liebesleben und Party. Wir lassen es krachen!
Mit zwei Taschen ziehe ich nach Schweden zu meinem Partner und fange noch einmal ein Studium an – diesmal mit Chillen, Liebesleben und Party. Wir lassen es krachen!
Zwei Jahre später, den Master gerade in der Tasche, macht mein Freund Schluss mit mir. Herzschmerz ohne Ende, mir geht es unendlich schlecht. Aber da ist noch etwas, nämlich die Erkenntnis, dass ich wieder frei bin! Der erste Impuls: Mich hineinstürzen. Mitten in die Welt, mitten ins Abenteuer. Ich will dorthin gehen, wo was geht. Von Östersund kann man das nicht gerade behaupten, also sind meine Bewerbungen die verzweifelt-euphorische Antwort auf Stellenausschreibungen in Tel Aviv, Delhi, San Francisco, London. Aber dann ruft mich meine Halbschwester, meine Vernunftstimme seit eh und je, an. Sie sagt: »Komm zur Ruhe, komm nach Berlin. Erhol dich. Dein Freund hat gerade mit dir Schluss gemacht. Kehr zu deinen Wurzeln zurück, leb mal wieder in deiner eigenen Kultur. Du musst deine Balance wiederfinden.« Zum ersten Mal nach Wochen des Kummers kann ich wieder lachen. Sehr laut. »Berlin als Kurort! Der war gut!«
Gruppenbild mit Dame: In Vietnam rannte ein Pulk lächelnder Schüler auf Valeska zu und bat sie, Englisch mit ihnen zu üben.
Dennoch höre ich auf sie, bewerbe mich in der Hauptstadt, erhalte nach nur wenigen Tagen die Einladung zu einem Bewerbungsgespräch. Meine paar Habseligkeiten sind schnell im Kofferraum verstaut, bevor es losgeht. 3.000 Kilometer und zwei Tage später verkündet das Navi: »Sie haben ihr Ziel erreicht, bekomme ich jetzt ein Eis?« Yup, das fragt es tatsächlich jedes Mal.
Gefühlt so lange wie es gedauert hat, nach Berlin zu fahren, dauert es nun, eine Parklücke zu finden. Nach einer Ewigkeit ziehe ich in dem blassen übermüdeten Gesicht, das mir im Rückspiegel entgegenblickt, Kajal und Lippenstift nach. Fünf Minuten und drei Häuserblocks später bringt mich ein für meinen Zustand viel zu heller Fahrstuhl zu zwei Niederländern mit modischen Frisuren in einen fünften Stock irgendwo in Berlin. Die Jungs schütteln mir schwungvoll die Hand, die kurz darauf einen Latte Macchiato hält. Sie erzählen ein bisschen über sich, stellen ihr Start-up vor, ein kleines Unternehmen, das Animationen für Erklärvideos erstellt. Das Interview läuft so gut, dass sie keine 30 Minuten später sagen: »Yeah, dann machst du am besten Deutschland.« »Yeah, mach ich eben Deutschland«, denke ich. »Und was heißt das jetzt?« Am Folgetag trocknet schon die Tinte auf dem Arbeitsvertrag, und für zwei Jahre »mache ich Deutschland«, bin ihre Geschäftsleiterin in Berlin, helfe ihnen, in »meiner Kultur«, wie meine Schwester es nennt, Fuß zu fassen. Hatte sie, meine Schwester, nicht auch gesagt, ich solle zur Ruhe kommen? Nun, für zwei Jahre gelingt mir das halbwegs, dann kommt die Unruhe zurück, packt zu, lässt nicht los. Wie gesagt, seit der Weltreise ist es die magische »Zwei«. Zwei Jahre und nicht länger.
Nun, für zwei Jahre gelingt mir das halbwegs, dann kommt die Unruhe zurück, packt zu, lässt nicht los.
Ich habe ein grundlegendes Problem: Egal, wie gut es mir in einem Job gefällt – als kleine Angestellte fühle ich mich extrem eingeengt. Vermutlich hat dieses Streben nach Freiheit schon immer in mir geschlummert, sonst wäre ich damals bei Siemens nicht so unglücklich gewesen. Diese kürzlich gewonnene Erkenntnis macht mich fast wahnsinnig. Letztens sagte ich zu einem Freund: »Ich würde gern zu einer Voodoo-Frau gehen, die mir erklärt, dass ich im letzten Leben Seefahrer war. Das würde es leichter machen, dieses ständige Verlangen nach Bewegung und Veränderung zu akzeptieren. Es würde es endlich erklären.« Kaum hatte ich diese Worte ausgesprochen, kamen mir wie so oft in den letzten Jahren die Tränen. Da merkte ich: Wow, das alles belastet mich wirklich stark, dieser verdammte innere Konflikt! Von Geburt an bekommst du erzählt, dass es normal ist, durchgehend Arbeit zu haben und für immer an einem Ort zu bleiben. Und dann das!
Nach dem Start-up beginne ich eine einjährige Ausbildung zur Fotografin. Diesmal steht der Wandel unter dem Motto: Warum nicht mal etwas ganz anderes tun? In Schweden hatte ich dort angeknüpft, wo ich in München aufgehört hatte, hatte einen Master in Marketing und Management gemacht. Auch die Niederländer hatten mich wegen meiner Skills auf diesem Gebiet ins Unternehmen geholt. Bis heute macht mir diese Arbeit Spaß, dennoch sollte es jetzt etwas ganz anderes sein. Schon auf der Reise hatte ich gern Bilder gemacht, während der Shootings stand jedes Mal die Zeit still. Das gleiche Gefühl stellt sich nun während der Ausbildung ein, und von Anfang an kommen die Aufträge – für Hochzeitsfotografie und Porträtbilder – Gelegenheitsjobs, die wirklich Spaß machen!
Ja, man könnte meinen, damit wäre ich am Ende meiner Reise angekommen, das wäre die Lösung: als Freelancerin arbeiten. Der Begriff sagt doch echt alles: Freelancer. Free. Frei. Frei sein! Sich nicht eingeengt fühlen! Eine Zeit lang lebe ich so, habe immer mehrere Eisen gleichzeitig im Feuer: fotografiere, betreibe Projektmanagement, lese Korrektur, schreibe Buchzusammenfassungen. Das reicht zum Leben – obwohl meine Arbeitswoche weniger als 40 Stunden hat. Bis heute wären da genug Ideen, die ich freiberuflich verwirklichen könnte, aber aus tausend Gründen nicht umsetze. Ich weiß auch nicht. Alles klingt gut, aber nicht gut genug, um sich dafür wirklich reinzuhängen.
Irgendwann aber fehlt mir dann die Sicherheit, die Gewissheit, im nächsten Monat genug Geld auf dem Konto zu haben. Außerdem ist Homeoffice nichts für mich. Es vermittelt mir dieses Gefühl, dass ich den ganzen Tag im Pyjama bleiben kann. Erst abends, wenn man ausgeht, macht man sich dann mal zurecht.
Kurz und gut: Ich versuchte, wieder eine Stelle in meinem alten Beruf zu bekommen. Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir ernsthaft einen festen Fulltime-Job. Und zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich keinen. Sechs Monate lang suchte ich – dann begann ich zu zweifeln: »Oh Gott, vielleicht wird das nie wieder was mit einer Stelle. Hätte ich doch die letzte behalten, die war doch gar nicht so schlecht.« Ich saß also im Schlafanzug in der Wohnung, starrte das Handy vor mir auf dem Tisch an, das einfach nicht klingeln wollte, war frustriert wie nie und völlig ohne Hoffnung.
Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich mir ernsthaft einen festen Fulltime-Job. Und zum ersten Mal in meinem Leben bekam ich keinen.
Eines Tages, an einem dieser zähen Pyjama-Vormittage, an denen ich gar nicht weiß, wofür ich mich aus dem Bett gequält habe, klingelt das Handy. Wie elektrisiert zuckt meine Hand nach vorn. »Jetzt wird alles gut!«, denke ich. »Wer auch immer mir einen Job anbietet, kann mich haben!« »Du klingst ja so gut gelaunt!«, lässt sich die Stimme einer Freundin vernehmen. »So habe ich dich seit Wochen nicht erlebt. Mein Chef sucht einen Fotografen für die Firmenfeier – Interesse?« »Bleib ich also Freelancerin«, denke ich und sage zu.
Wieder hält das Leben eine Überraschung für mich bereit: Auf der Party lande ich an der Bar zufällig neben dem Unternehmensgründer. Wir unterhalten uns, er fragt mich, was ich so mache, lädt mich zum Vorstellungsgespräch ein. Zunächst kassiert er eine Abfuhr, seine Jobangebote sind allesamt nicht mein Ding, und das sage ich ihm auch. Scheinbar beeindruckt von meiner Offenheit meldet er sich ein paar Wochen später wegen einer anderen Stelle bei mir. Und die passt. Ich hatte mich schon gewundert, denn diese Begegnung konnte doch kein Zufall gewesen sein.
Ja, und jetzt überwache ich seit vier Monaten den Bau eines Bürohauses, habe richtig viel Spaß und … fühle mich trotzdem eingeengt. Es ist zum Heulen! Ich habe gerade den geilsten Job der Welt, bin total verliebt in Berlin, doch in Gedanken schon wieder woanders. Am besten wären für mich wahrscheinlich Halbjahresprojekte. Dann wäre mir für eine gewisse Zeit das Gehalt sicher, die Herausforderung wäre garantiert, und nach Ablauf der Projektphase könnte ich auf etwas zurückblicken, das ich geschaffen habe. Und dürfte wieder gehen.
Zu Gast in einem Bauernhaus in Vietnam. Den Menschen so nahe zu kommen, machte Valeska glücklich. Die Erinnerungen daran lösen bis heute Fernweh in ihr aus.
Gehen. Ja, es ist Zeit. Nur soll es diesmal keine Reise sein, sondern ein Projekt im Ausland. Vielleicht könnte ich einer NGO helfen, mich an einem Kunst- oder Buchprojekt beteiligen oder irgendetwas Journalistisches machen. Ich muss nur noch das Richtige finden. Aber diesmal wird es schwer. Damals in München gab es nichts, das mich gehalten hätte. Doch jetzt sind da Berlin, der fantastische Job, die tollen Freunde. Manchmal wache ich auf und denke: »Geil, ich habe hier einfach alles. Warum nur will ich weg?« Aber langsam realisiere ich, dass ich ständig diesen inneren Schrei unterdrücke, diese Stimme, die mir sagt, dass ich wieder etwas ganz anderes tun und fortmuss. Das kann doch nicht gesund sein, das immer zu unterdrücken – nun schon seit fünf Jahren!
Da ist es hilfreich, dass ich derzeit keinen Partner habe, und dauernd denke ich: »Nur niemanden kennenlernen«, wenn ich durch die Straßen laufe, in Bars sitze oder an der Haltestelle stehe. Denn es ist nicht so, dass ich an Liebesdinge so herangehen würde wie an Jobs. Bei jedem Rendezvous keimt in mir die Hoffnung auf, dass das jetzt fürs Leben sein könnte. Dafür jedoch wäre jetzt einfach nicht der richtige Zeitpunkt.
Meine Eltern wissen noch nichts von den neuen Ausbruchplänen. Mittlerweile haben sie sich ein wenig an mein Leben gewöhnt. Klar, Eltern wollen ihre Kinder immer beschützen, und dann bringen sie auch mal Themen wie Altersarmut ein. Aber meistens sagt meine Mutter: »Du machst das schon«, wobei ich wünschte, sie würde mir manchmal etwas Input geben, die Dinge mit mir gedanklich durchspielen, so wie eine gute Freundin. Mein Vater ist meinem Lebensstil gegenüber immer noch skeptisch, aber auch er hat sich entspannt. Er meint, ich hätte ja in den letzten sechs Jahren bewiesen, dass ich ihm nicht auf der Tasche liege. Dennoch sucht er noch nach der Schublade, in die er mich einsortieren kann. Dabei ähneln wir uns sehr – vermutlich macht ihm genau das Angst. Mit meiner Rastlosigkeit lebe ich vieles aus, das er nie zugelassen hat.
Ob ich einmal Kinder möchte? Vielleicht. Ist gerade nicht in Planung, aber es sind ja auch noch zehn Jahre Zeit. Wenn es passiert, passiert es halt. Erst mal muss der Partner stimmen, der auf jeden Fall bereit sein muss, mit mir ins Ausland zu gehen. Wir könnten je zwei Jahre lang in einem Land leben, bevor wir weiterziehen.
Wie wäre es weitergegangen, wenn ich damals in München nicht ausgebrochen wäre? Sicherlich wäre ich ängstlicher. Heute betrachte ich alles mit Abstand, lasse mich von den Dingen nicht so sehr stressen, denn sie sind – global betrachtet – unbedeutend. Diese Erkenntnis ermöglicht es mir, Probleme in aller Ruhe anzugehen, sie zu lösen, und zu akzeptieren, wenn etwas nicht klappt – ein Vorteil meinen Mitarbeitern gegenüber. Die flippen schon aus, wenn mal eine Mail über den falschen Verteiler rausgeht. Ich frage dann: »So what?«
Mein Team kennt mich als Leaderin, die ruhig bleibt, auch in stressigen Situationen. Meine Freunde kennen mich als Heulsuse. Seit der Reise bin ich mir meiner Gefühle bewusster, mit meinem Bauchgefühl in ständigem Kontakt. Klar, das hat sich ja auch auf der Reise, in all den fremden Ländern, als nützlich erwiesen. Leider spüre ich seitdem aber auch meine Ängste und Sorgen deutlicher. Ganz klar bin ich weicher geworden. Wie gesagt, manchmal verstecke ich mich im Bett und breche in Tränen aus.
Seit der Reise bin ich mir meiner Gefühle bewusster, mit meinem Bauchgefühl in ständigem Kontakt.
Aber ich habe nicht nur für mich ein besseres Verständnis entwickelt, sondern auch für andere Kulturen. Im Büro ist das hilfreich, weil wir international arbeiten. Und noch etwas: Ich gehöre nicht zu denen, die nach Deutschland zurückkommen und auf Heimat und Gesellschaft schimpfen. Im Gegenteil: Ich habe gesehen, wie gut wir es haben. In Südamerika kann dein Geld von einem Tag auf den anderen nichts mehr wert sein, und wenn dein Bus vor einer roten Ampel steht, könnte es sein, dass ihn im nächsten Moment Männer stürmen, die Kameras und Bargeld wollen. Passiert dir hier nicht. In Ländern wie Vietnam sagten die Menschen zu mir: »Oh, du kommst aus Deutschland. Wie toll! Großartiges Land!« Tatsächlich war ich überrascht vom guten Ansehen unserer Heimat in der Welt. Wir können uns auf unsere Regierung verlassen. Mein Blick auf mein Zuhause hat sich durch die Weltreise verbessert. Damals, vor dem Aufbruch, war in meinen Augen alles hier schlimm. »Ich komme nie wieder«, schwor ich mir in jenen Tagen und kaufte einen Umschlag für meinen Pass, damit mich auf der Reise nicht andauernd irgendwelche »Mitbürger« in Tennissocken und Trekkingsandalen anquatschen würden.
Jetzt bin ich stolz darauf, Deutsche zu sein, und sehe mich auch in der Verantwortung, mein Land vernünftig zu repräsentieren – selbst hier in Berlin. 90 Prozent meiner Freunde sind Ausländer. Tja, was bleibt? Was ist die Bilanz so weit? Wo will ich hin? So oft wünsche ich mir einen Mentor, der mich anleitet, mir ganz klar sagt: »Jetzt machst du A, dann B, dann C.« Eines aber ist sicher – Berlin wird immer meine Base bleiben. Die Stadt erdet mich. Der Lärm der Großstadt ist mein Lebenselixier. Man mag darüber lachen, aber dann erst komme ich tatsächlich zur Ruhe. Genau: Berlin, mein Kurort! Ob ich irgendetwas bereue? Nur den Moment, in dem ich mich von der Kurzzeitarbeitslosigkeit habe herunterziehen lassen. Doch es wird weitergehen. Es geht immer irgendwie weiter.
Der Lärm der Großstadt ist mein Lebenselixier.
Nachtrag: Valeska war nur noch einmal, für drei Monate, im Ausland – in den USA. Abgesehen davon wohnt sie seit mittlerweile acht Jahren in Berlin. Jetzt fühlt sie sich wohl. »Der Drang ist verschwunden, ich habe mir den Alltag über die letzten Jahre so gestaltet, dass es eine gewisse Grundzufriedenheit gibt und ich nicht ständig das Gefühl habe, daraus mit einem großen Abenteuer ausbrechen zu müssen. Ich habe mich viel ausprobiert, weiß jetzt, was ich mag und was nicht. Dafür waren die Reisen toll, jetzt sind sie aber nicht mehr so dringend nötig«, sagt sie. Beruflich steckt Valeska gerade mitten in ihrem zweiten Bauprojekt. Sie leitet drei Teams in einem der größten deutschen Start-ups/Grown-ups. »Es ist eine stark skalierende Firma, die sich genauso oft verändert wie ich, so wird mir nie langweilig.«
Heute, nach all den Jahren, würde sie sich als relativ gesettled beschreiben. Berlin ist für sie eine wichtige Basis und ein guter Ausgangspunkt für Reisen und Besuche. Nach wie vor schätzt Valeska ihren multikulturellen Freundeskreis, sie ist seit Dezember 2020 mit dem Reise-Enthusiasten und gebürtigen Rumänen Mihai verlobt. Ihre Hochzeit steht kurz bevor, langfristig steht ein Umzug aufs Land an – nah heran an die Natur, doch nicht zu weit weg vom nächsten Flughafen.
Valeska von Mühldorfer
•heute 33, Teamleiterin in einem berühmten Start-up und ausgebildete Fotografin
•Einjährige Reise durch die USA, Kanada, Hawaii, Asien
•Dreimonatige Ausbildung zur TEFL-Sprachlehrerin in den USA, um weltweit Englisch unterrichten zu können
•drei- bis viermonatiges Sabbatical geplant für eine Reise nach Südamerika, gemeinsam mit Partner Mihai