Читать книгу Wieder da und doch nicht hier - Uta-Caecilia Nabert - Страница 15
Die geilste Lücke im Lebenslauf Die Geschichte von Nick Martin
ОглавлениеWie alles begann … Ich bin rein in den Van, ich habe das Rauschen der Wellen gehört und bin mit einem Grinsen im Gesicht eingeschlafen. Das ist mir noch nie passiert. Und dann ist noch etwas passiert. Dieses Grinsen war beim Aufwachen noch da. Das ist im Jahr 2009 gewesen. Ich hatte meinen gesamten Jahresurlaub auf einmal genommen, um drei Wochen lang in Neuseeland zu reisen.
Schnell ging die Zeit vorüber und ich zurück ins Büro. Ich bin gelernter IT-Kaufmann, habe im Anzug Businesssoftware verkauft. Nun wartete ich darauf, dass die Routine zurückkam wie nach jedem Urlaub. Doch das klappte diesmal nicht, der Alltag stellte sich einfach nicht wieder ein. Meine Kollegen waren top, wir rissen Witze, verbrachten die Mittagspause zusammen, unterhielten uns auch mal über Privates. Der Job war auch super, die Software verkaufte sich wie geschnitten Brot. Mein Chef klopfte mir manchmal auf die Schulter. »Du kannst es zu was bringen«, sagte er dann. Aber ich habe auf einmal nur noch halbherzig gearbeitet, und mir wurde klar, dass mein ganzes Leben schon vorgezeichnet vor mir liegt: Karriere als Vertriebsleiter, irgendwann der eigene Firmenwagen, Aufstieg zum Niederlassungsleiter. Ich dachte: Wow, ich werd’ ’ne Menge Asche machen. Aber war’s das? Eigentlich nicht. Und der reichste Mann auf dem Friedhof werden – das ist eigentlich nicht mein Ziel.
Da bin ich hin zu meinem Chef, hab die Tür aufgerissen, auf den Boden gespuckt und gerufen: »Ich kündige!«
Nein, so war es nicht. In Wahrheit habe ich vor ihm gesessen und fast geheult. Es war mehr eine Frage, als ich sagte: »Also … dann … kündige ich?« Es war meine Reaktion darauf, dass er mich nicht gehen lassen wollte. Eigentlich hatte ich ihn nur gebeten, mir ein Jahr lang unbezahlten Urlaub zum Reisen zu geben – Rückkehr nicht ausgeschlossen.
»Bist du bescheuert?«, fragten mich meine Eltern. Sie wussten es, ich wusste es: Ich schmeiße alles weg. Meinen guten Job, der mir meinen A3 Sportback sichert, meine geräumige Dreizimmerwohnung, meine Karriere. Auch meine Freunde verstanden es nicht. »Das alles willst du aufgeben? Für eine Reise?« Ich konnte nur nicken. »Ja.«
Ich schmeiße alles weg. Meinen guten Job, meine geräumige Dreizimmerwohnung, meine Karriere.
Meine damalige Freundin hingegen bestärkte mich, obwohl sie selbst fürs Studium daheimbleiben musste. Sieben Jahre waren wir schon zusammen. Sie sagte: »Wenn du jetzt nur wegen mir bleibst, wirst du unglücklich.« Sie ließ mich gehen, entließ mich in eine wunderbare Zeit.
Die Rückkehr. Ich stehe an einem Bushaltestellenhäuschen, und der Novemberregen rieselt auf mich herab. Ich schaue auf das Datum meiner Uhr. Heute vor genau einer Woche bin ich auch nass geworden – von einer fast perfekten Welle an einem der besten Surferstrände der Welt. Da, auf meinem Board, schoss mir das Adrenalin pur durch die Adern. Ich kann es immer noch spüren. Und dann spüre ich wieder den Regen. Er dämpft die Freude, die gerade in mir aufgestiegen ist. Stattdessen steigt einmal mehr das Bild meiner Freundin vor meinem inneren Auge auf. Wie sie mir gestern gegenübersaß. Wie eine fremde Person. Ich erzählte ihr von meinen Abenteuern, doch so richtig, das war ganz deutlich zu sehen, interessierte sie sich nicht dafür. Sie erzählte mir von ihren Schülern, sprach darüber, wie sie täglich nach der Schule noch mehrere Stunden zu Hause am Schreibtisch verbringt, wie sie Klassenarbeiten korrigiert. Wenn ich ehrlich bin: So richtig interessiere ich mich auch nicht mehr für ihre Geschichten, für ihren sich permanent wiederholenden Alltag. Wir beide leben jetzt in zwei verschiedenen Welten, und die sind sehr weit voneinander entfernt.
Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Die alte Frau neben mir hat angefangen zu keifen: »Warum muss dieser Bus immer zu spät kommen?« Eine andere fällt mit ein: »Ja, gestern war er auch erst um fünf nach da.« Ich schaue auf meine Hand, sehe die Schussverletzung von Fidschi. Und während ich gerade noch unter dem nassen Glasdach der Bushaltestelle stehe, befinde ich mich auf einmal unter dem warmen Wasserstrahl einer Dusche am Strand. Eine leichte Brise weht vom Meer zu mir herüber; nach mehreren Stunden Volleyball die perfekte Erfrischung. Die anderen Backpacker und ich haben gerade haushoch gegen ein paar Locals verloren, aber die Stimmung ist gut, Sieger und Verlierer albern herum, auch jetzt noch während meiner Dusch-Session.
Gerade wasche ich mir kopfüber die Haare, da höre ich, wie jemand meinen Namen ruft: »Nick! Nick, schau mal!« Ich mache die Augen auf, kann aber nichts sehen durch meine langen Strähnen. Schnell aus dem Gesicht gewischt, geben sie den Blick auf Knox frei. Er ist einer der Fidschianer aus der Siegermannschaft und zugleich einer der Angestellten meines Hostels. Keine zwei Meter steht er nun vor mir und hält etwas in der Hand. Es ist eine Harpune. Eine Harpune, die er auf mich gerichtet hält. »Der Junge macht Spaß«, geht es mir durch den Kopf. »Willst du mich abschießen oder was?«, rufe ich und lege mir eine Hand auf die Brust. Knox lacht, albert herum, visiert mich an, springt ein wenig auf der Stelle herum. Im nächsten Moment spüre ich eine Art Taubheit im rechten Daumen, mache zwei Schritte nach hinten, schaue an mir herunter, und erkenne, dass sich ein Speer in meine Brust gebohrt hat. Die Harpune war geladen?! Unter mir breitet sich langsam eine Blutlache aus.
Ein großer Wassertropfen zerplatzt mir auf der Nase. »10 Minuten Verspätung«, leuchtet die gelbe LED-Anzeige in der Novemberdunkelheit auf. »Oh nein!«, die Frau neben mir stöhnt. »Der Typ hätte mich damals fast umgebracht!«, will ich sie anschreien. Mache ich natürlich nicht, aber weiß plötzlich: In diesem Land hält mich nichts mehr.
Ein paar Tage später trennen meine Freundin und ich uns, und die wichtigste Bezugsperson geht damit verloren. Das weiche Bett in meinem alten Kinderzimmer kann den tiefen Sturz auch nicht abfangen. Da liege ich – habe keine eigene Wohnung, kein Auto, keinen Job und jetzt auch keine Freundin mehr. Ich starre Löcher in die Luft, verfalle in eine Reisedepression, während draußen vor dem Fenster unablässig der Regen fällt. Man muss sich das vorstellen, ich hatte zwei Jahre lang am Stück nur Sommer erlebt.
Ich starre Löcher in die Luft, verfalle in eine Reisedepression.
Aber sofort flüchten will ich auch nicht. Der Grund dafür ist eine andere Frau, die mir begegnet ist. Sie ist auch gerade erst von einer langen Reise zurückgekehrt, und es stellt sich heraus, dass wir zur selben Zeit am selben Ort in Australien gearbeitet haben – für die zwei miteinander konkurrierenden Hotelketten. Hier in Deutschland sehen wir uns zum ersten Mal, kommen zusammen und sind bis heute ein Paar.
Im Grunde ist es so: Wenn du nach einer solchen Reise zurückkommst, wirst du nur nicht verrückt, wenn du dir eine Beschäftigung suchst. Du musst dich ablenken. Du hast so viel erlebt, und dein Kopf kam die ganze Zeit nicht dazu, das zu verarbeiten. Nun, da du wieder sesshaft bist, bekommt dein Hirn diese Gelegenheit und spielt verrückt. War halt alles ein bisschen viel, nicht wahr?
Dennoch wehre ich mich jetzt dagegen, als mich das Arbeitsamt wieder in meiner alten Branche vermitteln will. Diese graue Maus beim Amt versteht einfach nicht, dass das nicht mehr geht. Ich will mich selbstständig machen, aber die wollen mir dann das Geld nicht weiterzahlen. Also schreibe ich mit Absicht Scheißbewerbungen, so lädt mich wenigstens niemand zum Gespräch ein.
Nick führt heute ein Leben ganz nach seinem Geschmack. Die verregneten deutschen Winter hat er gegen Sonne und Strand eingetauscht.
Die Konsequenz: Die vom Amt verdonnern mich zur Teilnahme an einem Bewerbungstraining. Jeder von uns soll sich dort zu Beginn kurz vorstellen. Also sage ich: »Hallo, mein Name ist Nick, ich habe mir gerade meinen Lebenstraum erfüllt und war zwei Jahre auf Weltreise.« Da steht allen der Mund offen. Am zweiten Tag kommt der Chef vom Amt zu mir und meint: »Sie passen nicht in den Kurs, aber Sie tun der Gruppe gut.« Er gibt mir die Erlaubnis, mein Reisetagebuch abzutippen, während die anderen Lebensläufe verfassen. Es dauert dann nicht mehr lange, und ich gehe sowieso wieder auf Tour.
2014 komme ich erneut nach Deutschland zurück – und lande wieder in einem Kurs vom Amt. Das Thema diesmal interessiert mich schon ein bisschen mehr, denn es beschäftigt sich mit einer Frage, die mich schon lange umtreibt: »Wie mache ich mich selbstständig?« Wenn man so lange auf Reisen war, so viel gesehen hat, dann kann man nicht mehr als kleiner Angestellter im Büro arbeiten, das geht einfach nicht mehr. Wie auch immer, der Zufall will es, dass der Chef des Arbeitsamtes von damals selbst den Kurs leitet und mich wiedererkennt. »Na, womit wollen Sie sich denn selbstständig machen, Herr Martin?«, fragt er mich. »Ich möchte als Motivationstrainer arbeiten.« Er nickt, denkt kurz nach und sagt: »Okay, dann kommen Sie mal nach vorn.« Im nächsten Moment stehe ich neben ihm: »Jetzt zeigen Sie mal, was Sie können. Sprechen Sie zur Gruppe, motivieren Sie die Leute!« Er tritt zur Seite ans Fenster, verschränkt die Arme und beobachtet mich. Da stehe ich also mit dem Rücken zur Wand, gut 20 Leute vor mir. Es ist die Probe aufs Exempel. Kurz geräuspert, fange ich an, erzähle von meinen Reisen, davon, wie es mir gelungen ist, meine Pläne zu verwirklichen, Probleme zu überwinden, Zweifel zu bekämpfen. Eine Stunde lang.
Das Thema beschäftigt sich mit einer Frage, die mich schon lange umtreibt: »Wie mache ich mich selbstständig?«
»Sie haben den Job«, sagt der Chef am nächsten Tag zu mir. »Welchen Job?«, frage ich. »Sie bekommen Ihren eigenen Kurs – als Leiter, als Motivationstrainer.«
Von März bis September arbeite ich nun mit Langzeitarbeitslosen zusammen. Man muss sich das mal vorstellen: In dem Kurs sitzen Leute, die teilweise seit zehn Jahren zu Hause geblieben sind. Denen hat noch nie jemand zugehört. Ich nehme mir Zeit für sie. Es geht um Inspiration und Motivation, darum, wie man erreicht, was man möchte. Wir verfassen gemeinsam Bewerbungsschreiben, stellen eine Kamera auf und filmen uns gegenseitig, während wir üben, uns beim Bewerbungsgespräch bestmöglich zu verkaufen: in die Augen schauen, auch selbst mal eine Frage stellen, gerade sitzen, deutlich sprechen … »Ja! Ja! Lächeln nicht vergessen! Das wirkt souverän und bricht das Eis!« Ich sage ihnen, wie ich es machen würde an ihrer Stelle. Einen schicke ich eines Tages spontan, mitten im Kurs, in die Stadt, damit er sich bewirbt. Oh, da gab es Ärger vom Chef!
Vor bis zu 1.300 Zuschauern spricht Nick über seine Abenteuer. Für ihn sind sie »die geilste Lücke im Lebenslauf«.
Meine Pläne für die Zukunft? Gibt es nicht. Nach meiner zweiten Weltreise war nur klar: Ich will nicht ewig in Deutschland bleiben, will aber auch nicht ewig reisen. Damals, das war 2013, war ich eigentlich nur zurückgekommen, weil ein Freund seine Hochzeit feierte.
Kurz danach bin ich ein halbes Jahr lang sogar dafür bezahlt worden, mir die Welt anzuschauen. Swiss Air suchte einen Reise-journalisten für so eine befristete Marketinggeschichte. Ein Freund machte mich darauf aufmerksam, meinte: »Bewirb dich doch mal, Nick.« Tatsächlich, der Job schien mir wie auf den Leib geschneidert. Unter 1.400 Bewerbern haben sie mich dann auch tatsächlich ausgewählt.
Danach habe ich den deutschen Sommer genossen und wieder ein bisschen an meiner Selbstständigkeit gebastelt. Mittlerweile habe ich die virtuelle »Reise-Uni« travel-echo gegründet, an der User das Reisen studieren können und den Mut finden, es auch zu tun. Ja genau, ich bin jetzt tatsächlich Motivationscoach geworden! Daneben halte ich deutschlandlandweit vor bis zu 1.300 Menschen Vorträge über meine Reisen. Außerdem habe ich das Reisekochbuch Fuck Pasta N Ketchup! geschrieben und ein Buch über meine Abenteuer: »Die geilste Lücke im Lebenslauf«.
Und diese Lücke wird immer größer: Mittlerweile bin ich gemeinsam mit meiner Freundin unterwegs. Sie hat einen Job, den sie online von überall auf der Welt aus erledigen kann. In zwei Monaten wollen wir nach Ägypten zu einem Camp für digitale Nomaden fliegen. Ist schon geil, du kannst am Strand sitzen und arbeiten. So was will ich auch machen. Meine Vorträge in Deutschland sind ganz gut gelaufen, mehr als 25.000 Zuhörer hatte ich 2019 insgesamt. Nun schwebt mir vor, mich auch im Ausland auf die Bühne zu stellen.
Dabei geht es mir immer auch darum, den Leuten Mut zu machen, aus dem Alltag auszubrechen, mal etwas zu wagen. Auf meiner Website heißt es: »Sechs Jahre Weltreisen – Die geilste Lücke im Lebenslauf«. Viele fürchten sich davor: »Oh Gott, niemand wird mich mehr einstellen, wenn ich mal länger nicht an der Karriere gebastelt habe!« Das ist Bullshit! Spreng doch mal das deutsche Sozialklischee: gute Noten, Uni, Partner, Kinder, Kredit, Haus. Du bist so viel mehr! Du verdienst so viel mehr! Reisen ist das beste Erlebnis des Lebens, und meiner Meinung nach sollten die Personalchefs das anerkennen. Da hat jemand mal über den Tellerrand geschaut, ist herausgegangen aus der eigenen Gesellschaft, dem eigenen Umfeld und hat – ganz wichtig – sich selbst in ganz neuen Situationen kennengelernt. Man reift unwahrscheinlich.
Spreng doch mal das deutsche Sozialklischee: gute Noten, Uni, Partner, Kinder, Kredit, Haus. Du bist so viel mehr!
Und wie habe ich mir das alles finanziert? Die Antwort lautet: manchmal so richtig ranklotzen. Gegen Ende meiner Zeit als IT-Kaufmann arbeitete ich nachts parallel als Barmann. Auf meiner Reise gab es eine Phase, da hatte ich fünf Jobs gleichzeitig. Das war in Perth, Australien. Ich restaurierte Boote, war Barkeeper in einer afrikanischen Bar, schob Nachtschichten an einer Hotelrezeption, mixte als VIP-Barkeeper Cocktails auf einer Yacht und verkaufte Tacos auf dem Wochenmarkt.
Ich bin 2010 mit 9.000 € losgefahren und danach mit 12.000 € in der Tasche zurückgekommen. Siehst du? Es geht! Ich kann dir nur raten: Überleg dir, auf welchem Gaul du gerade sitzt, ob es der richtige ist, ob du glücklich bist. Es ist nie zu spät, etwas zu ändern. Ich meine, was hast du zu verlieren? Wir Deutschen machen uns immer viel zu viele Sorgen. Doch eigentlich ist es doch so: You are born with nothing, you’re going with nothing. What do you lose? Nothing.
Jetzt erzähle ich noch die Geschichte zu Ende, wie das damals war, angeschossen zu werden. Um ein Haar wäre ich gestorben. Ich musste stundenlang auf Hilfe warten. Die kam schließlich in Gestalt eines Fischers herangeschlendert, der mich zu einer löchrigen Nussschale mit Außenborder brachte – seinem Boot. Bötchen. ’Ner Nussschale halt. Er hatte den Auftrag, mich zum Medical Centre auf der Nachbarinsel zu bringen. Das entpuppte sich leider als ärmliche Hütte mit so ’ner Art Hexe drin, der Krankenschwester. Mit fleckiger Schürze stand die da und rührte in einem Topf. Ich hatte ja schon einiges gesehen, aber das ging gar nicht. Hier wollte ich nicht sterben. Noch nicht ganz ins Halbdunkel eingetreten, drehte ich mich wieder um und dem Licht entgegen, das schon stark abgenommen hatte. Der Tag neigte sich dem Ende zu, und noch immer lief ich mit einem blutigen Loch in der Brust herum. Trotz der einsetzenden Kühle schwitzte ich. Ich war wie betäubt, wusste nicht, wohin mit mir. Instinktiv lief ich in die Richtung, aus der ich gekommen war, zurück zum Bootssteg, immer dem staubigen Weg nach, den Blick fest darauf geheftet.
»Nick!« Zuerst hörte ich sie gar nicht, die Stimme, die da meinen Namen rief. Doch dann: »Nick!« Und wieder: »Nick!« Mir fiel ein, dass das mein Name ist. Der Name, den mir meine Eltern vor knapp 30 Jahren gegeben haben. Wenn die wüssten … Ich kapierte nicht, warum den hier jemand kannte, hier mitten in der Fremde, auf einer Insel, auf der eine Hexe in einem Topf rührte. Waren das einsetzende Halluzinationen? War ich meinem Ende schon so nah? Die Stimme klang nach einem jungen Mann – mein Alter, mit irgendeinem Akzent. Auf jeden Fall kein Fidschianer. Plötzlich stand er vor mir, noch etwas außer Atem. Shorts, nackter Oberkörper, so Mitte 20, Lockenkopf. Er sah aus, als wäre er auf dem Weg zum nächsten Beachvolleyball-Turnier, doch seine ernste Miene passte irgendwie nicht dazu. Sie passte mehr zu mir, zu meiner Stimmung, zu meiner Scheißsituation. Himmel! Mir hatte sich mitten im Paradies ein Pfeil in die Brust gebohrt, keine Eva in Sicht, wahrscheinlich würde ich sterben, und jetzt stand auch noch dieser Typ vor mir! Was wollte er denn? »Nein, ich kann heute nicht mitspielen«, wollte ich schon sagen, da übernahm er das Reden: »Ich hab dich überall gesucht, ich bin gelernter Krankenpfleger.«
Michael untersuchte die klaffende Wunde, kam zu dem Schluss, dass die Organe wohl nichts abbekommen hatten, weil ich noch am Leben war, öffnete einen kleinen Verbandskasten und vernähte den Krater ohne Betäubung.
Später am Abend rettete ich dann meinem Angreifer, Knox, das Leben. Der Hotelbesitzer fragte mich, welcher der Angestellten auf mich geschossen hatte, nur dann würde er mir die Hotelkosten erlassen. Ich entschied mich, die Rechnung zu bezahlen. Später erfuhr ich, dass sie ihn verbannt hätten. Er hätte nicht mehr arbeiten dürfen, nie wieder seine Familie sehen … Yeah, ich habe mich für nur 60 US-$ anschießen lassen. Wäre mir das in Amerika passiert, hätte ich den Typen verklagt, und die Insel, auf der es geschehen ist, würde heute mir gehören.
Nick Martin
•heute 35, Deutschland, gelernter IT-Kaufmann
•seit 2010 auf Weltreise
•Bücher:
•Fuck Pasta N Ketchup! – Das Kochbuch für Backpacker
•Die geilste Lücke im Lebenslauf: 6 Jahre Weltreisen, Conbook Verlag