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Was bleibt, ist die Erinnerung Die Geschichte von Uta-Caecilia Nabert
Оглавление»Sie will tatsächlich zurück nach Deutschland. Kannst du dir das vorstellen?«, sagt Ivan zu seinem Nachbarn. Beide stehen in ihrem Garten, eigentlich mehr ein Wald als ein Garten, jeder auf seiner Seite des Zauns. Sie lachen. Oben auf dem Hügel, man sieht es kaum hinter den Bäumen und Farnen auf ihren hohen Stämmen, steht Ivans Hostel. Er hat es selbst gebaut. Man möchte meinen, Hundertwasser habe neben ihm gestanden, als er die geschwungenen Wände mauerte, neben ihm am Boden gekniet, als er die Mosaiken verlegte, und ihm die Leiter gehalten, als er die Dächer bepflanzte. Gemeinsam mit seiner kleinen Gästeschar – so wenigen, dass es auch seine eigenen Kinder sein könnten, und so vielen, dass es ein Hostel ergibt – lebt Ivan in diesem Haus. Auch ich habe hier sehr lange gewohnt, zwischen Hibiskus und Ananaspflanzen, hinter mosaikverkleideten Wänden, unter Solarzellen. Bis heute. Doch jetzt verabschiede ich mich von ihm, während von der Veranda oben die vertrauten Klänge des Windspiels herunterwehen. Wie immer in diesem Jahr ist Jan an meiner Seite, meine Hand in seiner. Ich lache gemeinsam mit den Männern, bevor ich antworte: »Was soll ich machen? In zwei Tagen schmeißen sie mich raus aus Neuseeland. In Deutschland lassen sie gerade jeden rein, Flüchtlingswelle und so.« Wir schreiben das Jahr 2016.
Am nächsten Tag weine ich. Da stehe ich und weine, Jan vor mir, hinter uns die Schalter der Fluglinien. Aus irgendeinem Grund habe ich Gummibärchen dabei. Vielleicht weil ich weiß, wie sehr er sie mag. »Hier«, sage ich und halte ihm die Tüte hin, bevor ich ihm mit dem Daumen über den Wangenknochen fahre. Ein Träne rollt dagegen. In einer Stunde geht der Flieger, der mich zu meinem Verlobten bringen wird. Jan weiß das.
Nach dem Start schaue ich hinab auf die Wolken und zum ersten Mal überhaupt in meinem Leben habe ich keine Flugangst mehr. »Diesmal wäre es schon in Ordnung, wenn …«, denke ich. Mir kommt die Erkenntnis, dass ich in den letzten 365 Tagen alles erlebt habe, was ich erleben wollte: Ich war so frei und unbeschwert wie zuletzt in meiner Kindheit – beim Baden im Pazifik, beim Lagerfeuer am Meer, beim Kiwipflücken, beim Arbeiten im Café, beim Cruisen im weißen Mazda GLX 626 über die Küstenstraßen mit den gelben Mittelstreifen; hinten die Matratze im Kofferraum, auf der wir nachts die Sterne betrachteten. Ein Jahr lang einfach nur »Ich« sein unter dem Himmel Neuseelands, in den Wäldern Neuseelands, an den Stränden Neuseelands. An der Seite von Jan, meinem schönen Reisenden, dessen Wege die meinen für kurze Zeit kreuzten. Ich spüre noch die letzten 24 Stunden unseres Zusammenseins auf der Haut.
Ich war so frei und unbeschwert wie zuletzt in meiner Kindheit.
Ich hätte mich um die Verlängerung meines Visums kümmern können. Er hatte das vorgeschlagen. »Lass uns versuchen, hierzubleiben«, hatte er gesagt. »Dann bauen wir genau hier ein Haus.« Damals standen wir gerade auf einer Klippe, neben uns ein Schild: »For Sale – Zu verkaufen«. Vor uns lag die Unendlichkeit des blauen Pazifiks, hinter uns das Grün von Great Barrier Island. Er überlegte: »Allerdings gibt es hier auf der Insel keine High School.« – »Was ist?«, fragte ich spöttisch: »Willst du noch mal zur Schule gehen?« Dann drehte ich ihm den Rücken zu und lief zurück zu unseren Rädern, die am Rand eines Trampelpfads im Sand lagen. Wir sprachen nie wieder über das Thema. Ich hatte zu keiner Zeit an eine Zukunft mit ihm geglaubt. Er war zu schön und zu jung. Und ich zu verlobt.
Nachdem sie zurück in Deutschland war, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie weit weg das Meer wieder ist. In Neuseeland schaute Uta fast täglich auf den Pazifik.
»Was willst du noch von mir?« Ich schaue aus dem Fenster, schaue in den geteerten Innenhof, in dem zwei zurechtgestutzte Gingkobäume ihre Blätter verlieren. Dahinter verbaut ein dreigeschossiger Klinkerbau, dem unseren nicht unähnlich, die Sicht. Unwillkürlich halte ich Ausschau nach Männern in gestreiften Pyjamas, die da unten ihre Runden drehen. Keiner da. Auch ich nicht, obwohl ich mir vorkomme wie eine Gefangene. Ich wende den Blick ab, richte ihn auf Milan. Da steht er neben dem Esstisch, den ich damals von Neuseeland aus im Internet ausgesucht hatte. Aus der Ferne hatte ich ihm so gut es ging geholfen, diese Wohnung hier für uns zu finden und einzurichten. Wie viel Mühe er sich gegeben hat – damit ich mich wohlfühlen würde, wenn ich wieder zurückkäme. Es fällt mir schwer, ihn anzusehen. Er ist groß, muskulös, hat extra für mich trainiert – damit er mir gefallen würde, wenn ich wieder zurückkäme. Zurück zu ihm. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ja, was will ich noch von ihm? Wir wollten einmal heiraten. Ich kann nicht zugeben, dass ich ihn nicht mehr liebe. Oder dass ich Jan so stark geliebt habe, dass da kein Platz mehr ist für ihn. Ich kann nicht zugeben, dass ich auch nicht sagen kann, ob ich wirklich Jan an sich so sehr geliebt habe, oder ob es an Neuseeland lag. Und dennoch. Wenn es überhaupt eine Zukunft gibt, dann liegt sie bei Milan. Sie muss dort liegen. Wo denn auch sonst? Der Gedanke, ihn jetzt aufzugeben – undenkbar.
Seit vier Monaten bin ich zurück in Deutschland. Gemeinsam haben wir uns auf zwei Hochzeiten blicken lassen. Um zu zeigen, dass wir noch nicht aufgegeben haben, dass wir es noch einmal miteinander versuchen werden. Milan weiß mittlerweile von Jan.
In den ersten Wochen nach meiner Heimkehr bin ich arbeitslos. Also kümmere ich mich um unseren Haushalt. Eines Nachmittags stehe ich vor einem Wäscheberg, der sich in der Enge zwischen Küchenzeile und Esstisch wie ein Gebirge auftürmt. Aus einer Bergflanke hängt der blaue Ärmel meines Pullis. Ich gebe ihm die Hand und sage: »Danke. Danke, dass du mich in den vergangenen zwei Jahren auf meiner Reise durch mehr als zehn Länder begleitet und gewärmt hast. Du, mein Freund, hast es wahrlich verdient, gewaschen zu werden. Ich meine, richtig gewaschen, nach allen Regeln der deutschen Ingenieurskunst, bei 40 °C, in einer Maschine, die sich 90 Minuten Zeit für dich nimmt.«
Ich verspreche ihm ein Waschpulver, das sich gewaschen hat, das es schaffen wird, Dreck und Flecken nicht nur in der Werbung zu entfernen, sondern auch aus diesem Pullover. Dass ein Waschmittel dazu im Stande sein kann, wenn man nur im richtigen Land ist, habe ich gestern an einer Strickjacke erlebt: Nach zwei Jahren Tortur in asiatischen und neuseeländischen Trommeln sah sie wieder aus wie neu. Dieser Vorher-Nachher-Wow-Effekt! Das brachte Glanz ins düstere Farbenspiel meines Post-Reise-Blues.
Dieser Vorher-Nachher-Wow-Effekt! Das brachte Glanz ins düstere Farbenspiel meines Post-Reise-Blues.
Zugleich war es auch ein wehmütiger Moment gewesen, ein »Good bye«-Sagen zum roten Sand des Outbacks, ein »Ka kite ano« zu den Kiwipollen Neuseelands, ein »Doswidanja« zum Rauch der herbstlich beheizten russischen Holzhäuser. Ich wusch die Welt aus meinen Kleidern – mit deutscher Gründlichkeit. Ich machte sie wieder alltagstauglich für das Leben in meiner Heimat. Dass es kein Waschmittel der Welt schaffen würde, dasselbe mit mir anzustellen, wusste ich damals noch nicht.
Ein halbes Jahr lang hielten wir es noch miteinander aus, Milan und ich. Mein Verlobter zeigte viel Geduld mit mir. Ich nahm meine Karriere wieder auf. Recht schnell fand ich einen Job als Redakteurin in unserer Stadt. Doch dann, sie hatten mich gerade eingestellt, verlor er die Geduld. Da standen wir uns gegenüber. Wieder neben dem Esstisch, den ich von Neuseeland aus ausgesucht hatte. Diesmal war es dunkel draußen. Der Gingko vor dem Fenster war mittlerweile kahl. Weihnachten stand vor der Tür. Wir lächelten uns an, wir umarmten uns, wir bedankten uns für die gute Zeit, die wir einmal miteinander gehabt hatten. Dann zog ich aus.
Mittlerweile ist es viele Jahre her, dass Uta in Neuseeland lebte. An den meisten Tagen ist ihr Herz noch heute dort.
Nun hatte ich keine Partner mehr, keinen Jan und keinen Milan. Dafür einen Job, der mir schon nach kurzer Zeit nichts Neues mehr zu bieten hatte – keine Überraschungen, viele Wiederholungen, ganz anders als meine Abenteuer in den Monaten zuvor, in denen jeder Tag anders war. Die Wälder und der Strand waren weit weg. Manchmal schien die Sonne, aber von meiner Küche aus konnte ich sie nicht sehen. Die Abende verbrachte ich allein, hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken. »Tja«, ging es mir manchmal durch den Kopf.Du bezahlst jetzt dafür, dass du ein Jahr lang einfach nur glücklich warst. Rücksichtslos glücklich. Alles hat seinen Preis. Wie konntest du nur so naiv sein, nicht daran zu denken? Auf der anderen Seite: Hätte ich vorher gewusst, wie schwer es später werden würde, zurückzufinden – wäre ich trotzdem aufgebrochen? Ja.
Die Abende verbrachte ich allein, hatte sehr viel Zeit zum Nachdenken.
Für Jan und für Neuseeland.
Uta-Caecilia Nabert
•heute 38, Deutschland, Journalistin
•sechsmonatige Reise durch Russland, die Mongolei, China, Südostasien, Australien
•ein Jahr und drei Monate Working Holiday in Neuseeland
•zwei Jahre zu Hause (Redakteurin bei einer Zeitschrift für den Lebensmitteleinzelhandel)
•erneuter Aufbruch und Ausbruch: Reisen und Jobben in Kanada, freie Journalistin im zweitgrößten Land der Erde
•seit Februar 2021 zu Hause in Deutschland
•seit August 2021 Redakteurin bei der NGO »Christoffel-Blindenmission«, die die Lebensqualität von Menschen mit Behinderungen in Entwicklungsländern verbessert
•ehrenamtliche Texterin bei planted.green, einem Start-up, das Deutschlands Wälder aufforsten will