Читать книгу Wieder da und doch nicht hier - Uta-Caecilia Nabert - Страница 13

Auf der Flucht Die Geschichte von Helge Timmerberg, aus: Tiger fressen keine Yogis. Stories von unterwegs, Solibro Verlag Ein Gastbeitrag

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Meine Flucht begann im Alter von zwölf Jahren. Bis dahin kämpfte ich, wenn etwas nicht anders zu regeln war. Und ich war klug, stark und mutig und gab nie auf. Das hat mich in unserer Bande zur Nummer zwei gemacht. Was ich nicht leiden konnte, war Ungerechtigkeit. Drei Mitglieder einer polnischen Familie in unserer Nachbarschaft verdanken mir eine relativ unbeschwerte Kindheit. Ich habe mich ständig für sie geradegemacht.

Ich war der Zweitstärkste meiner Klasse. Der Stärkste war der Sohn eines Schlachters, von dem bekannt wurde, dass er zu Hause jeden Tag einen Liter frisches Blut zu trinken bekam. Sein Name war Frankie. Und Frankie war brutal. Der Schwächste in der Klasse war der Sohn eines Frauenarztes. Schwach, weil fett wie ein Mastschwein. Und blöd war er auch. Aber er konnte nichts dafür. Er hat mir immer leidgetan. Eines Vormittages steht der Dicke vor unserem Lehrer und scheißt sich vor Angst in die kurzen Hosen. Und als er zu seinem Platz zurückgegangen war, hatte er tatsächlich eine Spur von kleinen, festen Koddeln hinterlassen. Dafür wollte ihn Frankie nach der Schule verprügeln. Ich nahm den Hosenscheißer in Schutz.

Frankie war einfach nicht zu besiegen. Jeden Tag einen Liter Blut! Als es offensichtlich wurde, dass ich verlor, feuerte der Dicke plötzlich Frankie an. Das Hosenscheißer-Schwein. Ich ließ mich für ihn verprügeln, und als ich am Boden lag, trat er sogar auf mich ein. Seit diesem Tag habe ich mich nicht mehr geschlagen. Die Meister der Martial Arts befürworten übrigens dieses Verhalten: Kämpfe erst, wenn du nicht mehr flüchten kannst, sagen sie. Die Flucht ist die kluge Schwester des Kampfes. Und du willst doch kein dummer Krieger sein.

Damit sind wir bei Castaneda und Don Juan. Ich habe seine Bücher mit 17 verschlungen. Dazu ein bisschen Timothy Leary und ein bisschen Aldous Huxley, und bevor ich wusste, was geschah, saß ich auf einer begrünten Verkehrsinsel auf dem Autobahnkreuz Kamen. Im Grunde war alles wie immer ein Missverständnis. Ich wollte an der Grenze zwischen Belgien und Deutschland das LSD nicht schlucken. Ich hatte es nur zum Schmuggeln in den Mund getan. Aber es war, wie in diesen Tagen üblich, auf Löschblätter geträufelt. Wir fuhren noch ein wenig über das Autobahnnetz des nächtlichen Ruhrgebiets, dann wurden wir ausgesetzt (natürlich waren wir per Anhalter unterwegs), und auf der Verkehrsinsel, auf der wir nun standen, entfaltete das LSD plötzlich seine volle Wirkungskraft. Wir mussten auf die andere Seite, und jeder weiß, wie breit eine deutsche Autobahn ist, doch mir erschien sie breiter, und zudem erschien ein Licht von rechts, gekoppelt an ein Heulen, und Licht und Heulen nahmen in geradezu erschreckender Geschwindigkeit an Intensität zu. Schlussendlich wurde eine Supernova daraus, ein explodierender Kometenschwarm, kurz: Das Kamener Kreuz nordöstlich von Dortmund, südwestlich von Hamm und südlich von Münster war bereits 1970 viel befahren, und was soll ich sagen: Wir trauten uns nicht vor Sonnenaufgang auf die andere Seite der Autobahn, von der ich dann zum ersten Mal nach Indien trampte – mit 17. An dem Tag, an dem Jimi Hendrix starb.

Könnte man nicht alles über die Drogen streichen und den Text hier beginnen! Aber nein! Denn es fing mit den Drogen an. Sie waren das Problem. Jede Region hat ihre eigenen Drogen. In kalten Ländern wie Deutschland greift man zu Bier und Schnaps, und beides hilft, das Wetter zu ertragen. Dabei geht es nicht nur um die Kälte, sondern vor allem um die Abwesenheit von Licht. Es graut einem vor diesem Grau, wenn man nicht besoffen ist. Graue Häuser, graue Straßen, graue Hosen, graue Gesichter, und das Fernsehen war schwarz-weiß. Rosa Löschblätter brachten Farben in dieses Leben. Außerdem begann ich zu kiffen. Haschisch war die Volksdroge des Orients und eigentlich in Ostwestfalen völlig fehl am Platz, denn sie hilft Hitze und zu viel Sonne gut zu ertragen sowie Armut und andere Mangelerscheinungen. Weil sie auf Reichtümer aufmerksam macht, die nichts zu kosten scheinen. Stichwort: Sensibilisierung. Ich bekam ein Ohr für Musik und ein Auge für musikalische Formen und ein Herz für den Müßiggang, und damit war Deutschland für mich gestorben. Also Kulturflucht! Ich habe es Reisejournalismus genannt.

Denn es fing mit den Drogen an. Sie waren das Problem.

Seit 25 Jahren permanent auf Achse, bis auf Australien, die Fidschis und Alaska alles gesehen, anfangs konnte ich zwischendurch noch immer einige Monate in Deutschland verweilen, aber bald hielt ich auch das nicht mehr aus. Drei Wochen Heimaturlaub wurden Obergrenze. Dann hatte ich die Vorteile satt (gutes Brot, gute Schokolade, gute Freunde), und jede Art von Depression übernahm das Regiment. Es sei denn, es war Sommer. Aber wann ist schon Sommer in diesem Land?

Ist das Flucht? Habe ich selten so gesehen. Im Gegenteil. Wann immer ich in einem Flieger saß und durch die Wolkendecke stieß, die wie hintapeziert über Hamburg zu hängen scheint, beschlich mich das Gefühl, Probleme zu überwinden, statt ihnen zu entfliehen. »Ihr könnt mich mal« war das Substrat meiner Gedanken bei jedem Start. Flucht als aggressiver Akt. Das klappte etwa 14 Jahre. Dann wurde ich des Reisens müde und suchte einen Hafen. Settle down in Marrakesch. Ich mietete ein großes Haus im Labyrinth der kleinen Gassen und glaubte, ich würde den Rest des Lebens unter den duftenden Orangenbäumen in meinem Patio verbleiben. Ich blieb drei Jahre. Settle down in Havanna. Andere Düfte, andere Früchte, Salsa for ever. Ich blieb zwei Jahre. Settle down in Indien? Ich versuchte es im letzten Jahr. Ich blieb sieben Wochen. Bin ich von einem Dämon getrieben, oder was ist das für ein Phänomen? Ich kann nicht bleiben. Egal, wo ich bin. Nach drei Jahren Marokko hatte ich hinter jeden Schleier geschaut und sah nur noch Nervenkranke auf staubigen Straßen. Nach zwei Jahren Kuba konnte ich definitiv keine Mulattin1 mehr sehen. Und Indien machte mich rasend. Und noch etwas: Diese Kulturen assimilieren nicht. Anderslautende Versicherungen aus Kreisen der Gastgeberländer sind geschäftsbedingtes Gewäsch. Schon mal in Marokko ohne Geld dagestanden? Oder in der Karibik? Oder in Asien? Man konnte mit aufgeplatzten Pestbeulen durch die Gegend reisen und erfreute sich derselben Reaktion. Du kommst als Freund und gehst als Fremder. Es sei denn, du heiratest inländisch. Dann wirst du Mitglied der großen Familie, die du von nun an ernährst. Ich muss es jetzt endlich mal sagen. Je länger ich vor Deutschland flüchte, desto deutscher werde ich. Oder sagen wir, desto europäischer.

Das klappte etwa 14 Jahre. Dann wurde ich des Reisens müde und suchte einen Hafen.

Nach einem Vierteljahrhundert des rastlosen Rasens um diesen Planeten im Zickzackkurs identifiziere ich mich als Europäer, und das tut gut. Bin ich aber in Europa, sehne ich mich nach dem Orient. Nach diesen anderen Farben, in diesem anderen Einfallswinkel des Lichts. Das Gras in Nachbars Garten ist immer grüner, und wenn ich über den Zaun hüpfe, verblasst es und wird normal. Und dann hüpf ich wieder und wieder, und so bleibt man jung, könnte man sagen, und fidel. Blödsinn. Ab einem bestimmten Alter wird das Reisen sinnlose Qual. Das ewige Packen, Schleppen, Schlangestehen, Einchecken, Auschecken, der Kampf mit dem Zimmer, den Fliegen, den Kakerlaken. Ich habe selbst im Taj Mahal, Bombay, zwei gesehen. Zwei riesige, fette Kakerlaken. Ich kann Paul Bowles verstehen. Ein großer Schreiber war er, viel gereist. Irgendwann wurde ihm klar: »Meine größten Feinde sind meine Füße.« Und er blieb stehen. Für immer. Paul Bowles fand seinen Hafen kraft Einsicht, da, wo er gerade war. Und er war zufällig in der Altstadt von Tanger. Vor 20 Jahren. Klasse, das war klasse. Und das kann ich mit ganzem Herzen sagen. Und mir von ganzem Herzen wünschen. Und wann werde ich es wagen? Jetzt? Hier?! Lieber würde ich den Strick nehmen. Ich bin in New Delhi. Einmal muss ich mindestens noch in den Flieger, um die Flucht zu beenden. Nur noch einmal.

Ab einem bestimmten Alter wird das Reisen sinnlose Qual.

Helge Timmerberg

heute 70, Deutschland, Weltreisender/Abenteurer/Journalist/ Reiseschriftsteller

seine Versuche, sesshaft zu werden, schlugen lange fehl. Er lebt mittlerweile in Wien, Berlin und St. Gallen

schreibt unter anderem für »Stern«, »Die Zeit«, »Merian«, »SZ Magazin« und »Playboy«.

Bücher (Auswahl):

Lecko mio. Siebzig werden, Piper

Tiger fressen keine Yogis. Stories von unterwegs, Solibro Verlag

Timmerbergs Reise-ABC. Mit 21 Cartoons von Peter Puck, Piper

Shiva Moon. Eine Reise durch Indien, Rowohlt

In 80 Tagen um die Welt, Rowohlt

Die rote Olivetti. Mein ziemlich wildes Leben zwischen Bielefeld, Havanna und dem Himalaja, Piper

www.utiya-magazine.com (Reportagemagazin)

1 Der Duden rät heutzutage von der Verwendung des Begriffs Mulattin ab. Ihm zufolge stammt er vom spanischen mulato = Maultier, nach dem Vergleich mit dem Bastard aus Pferd und Esel. Die Orientalistik jedoch sieht in dem Wort nichts Diskriminierendes: Ihr zufolge liegt sein Ursprung im arabischen Begriff muwallad, der eine Person mit Eltern unterschiedlicher Herkunft bezeichnet. So oder so: Der Text »Auf der Flucht« stammt aus dem Jahr 2001, und es lag der Herausgeberin mehr als fern, auch nur eine Silbe daran zu ändern.

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