Читать книгу Unter schweren Schatten - Ute Christoph - Страница 10
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ОглавлениеEr war wieder allein. Und das war gut so, denn er war gern allein – zuhause, bei der Arbeit oder auf seinen ausgedehnten Spaziergängen im Wald am See. Er war gern allein. Das sagte er sich immer und immer wieder und wusste gleichzeitig, dass das eine Lüge war.
Er lag bewegungslos auf seinem harten Bett und starrte an die Decke, von der die graue Farbe abbröselte. Er lauschte auf seinen Atem, den die schmutzigweißen Wände wie trockene Schwämme absorbierten.
Im Laufe endloser Jahre und Jahrzehnte, in denen sie immer wieder neue Häftlinge beherbergten, hatten sie so viele Atemzüge und Seufzer inhaliert, dass sie davon abhängig geworden waren. Nun zeigten sich die Nebenwirkungen dieser Sucht. Die Farbe gewann an Schwere, warf Blasen und platzte ab.
Mama – er hatte sie wirklich geliebt. Als kleiner Junge hatte er sich ihre Anerkennung und Aufmerksamkeit gewünscht. Wie jedes Kind. Allerdings war es ihm niemals gelungen, ihr etwas recht zu machen. Die ersehnte Anerkennung war ihm versagt geblieben. Aufmerksamkeit hatte sie ihm zur Genüge geschenkt. Negative Aufmerksamkeit. Ständig hatte sie mit ihm geschimpft und laut getobt. Sie hatte ihn angeschrien, sich die langen Locken gerauft und ihn anschließend zur Bestrafung in Onkel Rolfs Zimmer geschickt.
Wenn er sich an die endlosen Stunden in Onkel Rolfs Zimmer erinnerte, an das, was dieser Mann dem kleinen Jungen, der er damals gewesen war, angetan hatte, wurde ihm augenblicklich schlecht. Eine unerträgliche Übelkeit keimte dann klein und dunkel in seinem Magen auf und breitete sich sekundenschnell im gesamten Bauchraum aus. Damit nicht genug kletterte sie bis unter sein Herz und machte, dass er sich übergeben musste. Deshalb versuchte er jede Erinnerung an Onkel Rolf zu verdrängen. Aber das klappte einfach nicht, jeder Versuch misslang.
Inzwischen wusste er, dass er für Mama nicht wichtig gewesen war. Auch wenn er sich wie alle Kinder gewünscht hatte, etwas ganz Besonderes für seine Mama zu sein. Er war für niemanden auf der Welt wichtig gewesen oder etwas ganz Besonderes. Er war ein kleiner Junge gewesen, der besser nie geboren worden wäre.
Manchmal versuchte er, sich selbst davon zu überzeugen, dass Mama nicht anders hatte handeln können, als sie es eben getan hatte. Dass sie nicht in der Lage gewesen war, mit einem kleinen Kind fertig zu werden. Denn sie hatte ja nicht mal ihr eigenes Leben im Griff gehabt. Aber wenn er so dachte, fielen ihm auch all die anderen Dinge ein, die Mamas ihren Kindern nicht antaten und die niemand einem Kind antun durfte. Die Bestrafungen durch Onkel Rolf.
Als er in die Schule kam und andere Kinder von ihren Papas erzählten, dachte er an die wenigen Märchen, die Mama ihm früher von Zeit zu Zeit vorgelesen hatte und in der neben einer Mama und Geschwistern auch ein Papa vorgekommen war. Er fragte sich, wer und wo sein Vater war, und suchte in den Wohnzimmerschränken und in Mamas Schlafzimmer heimlich nach versteckten Fotos. Er fand nichts. Also fragte er Mama und schließlich sogar Onkel Rolf, wer und wo sein Papa war. Er bekam darauf nie eine Antwort.
Ohne Mutterliebe, vaterlos in den wichtigsten Jahren seiner Entwicklung, mit einem Bestrafer, den er Onkel nannte und der seine einzige männliche Bezugsperson war. Die einzige männliche Bezugsperson, von der er hätte lernen können. Doch was hatte er von Onkel Rolf lernen wollen? Nichts! So wie Onkel Rolf wollte er niemals sein.
Mamas Bruder hatte ihn bis zu seinem zwölften Geburtstag bestraft. Nach dem Stimmbruch war es ganz plötzlich vorbei gewesen. Er fragte nicht nach dem Warum. Es war einfach gut, dass es aufhörte. Das reichte. Doch die Erinnerungen blieben. Sie waren klar und deutlich, als wäre alles erst gestern passiert. Und es gab keine Chance, dass sie jemals verblassten. Sie waren unauslöschlich in sein Gehirn gebrannt, mit scharfen, schmerzhaften Konturen in seine Seele tätowiert. Niemals könnte er vergessen – nicht den körperlichen Schmerz, nicht die tiefe Demütigung, die er als ausgeliefertes, unschuldiges Kind hatte ertragen müssen.
Er beugte sich über das Klo und erbrach sich. Er wusste, dass das nicht am Essen lag. Die Gefängnismahlzeiten schmeckten ihm gut. Auf jeden Fall waren sie besser als die Konservengerichte, die Mama ihm als Kind vorgesetzt hatte. Auch in dieser Hinsicht war er nicht sonderlich verwöhnt.
Nein, der Grund für die Übelkeit, die irgendwann überschwappte, waren wieder einmal zu viele Gedanken an Onkel Rolf. Manchmal überwältigten ihn die Erinnerungen und nisteten sich so massiv in seinem Kopf fest, dass sie sich nicht ignorieren, geschweige denn ausschalten ließen.
Und dann übergab er sich.
Seiner schlimmen Kindheit folgte eine freudlose Jugend. Nur die Ausbildung zum Kfz-Mechaniker erfüllte ihn mit tiefer Zufriedenheit. Er war gut in seinem Job. Wenn er arbeitete, wenn er vollkommen vertieft in seine Aufgabe war, schlüpfte er in eine andere Welt, seine Welt, zu der nichts und niemand Zutritt hatte.
Als sein Chef ihm nach der bestandenen praktischen Prüfung mit einem feierlichen Gesichtsausdruck den Festvertrag überreichte, war er zum ersten Mal in seinem Leben glücklich.
Er wusste es genau. Das war der richtige Zeitpunkt, um zu fliehen, sich eine kleine Wohnung zu suchen und ein eigenes Leben aufzubauen. Der richtige Zeitpunkt, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen, und anders als Mama das Leben in den Griff zu bekommen.
Doch Mama weinte und zeterte und machte ihm Vorwürfe. Sie schimpfte ihn einen schlechten, selbstsüchtigen und undankbaren Sohn. Jetzt, da er endlich Geld verdiente, ließe er sie im Stich. Dabei hatte sie sich ihr Leben lang für ihn krumm gelegt, sich und ihre Jugend geopfert, nur um ihn groß zu kriegen. Sie hatte immer gewusst, dass er böse und schlecht war und ihn deshalb immer wieder bestrafen müssen, um aus ihm einen anständigen Mann zu machen. Doch das war ihr offensichtlich nicht gelungen, denn jetzt wollte er gehen. Und seine Mama müsste sich weiterhin mit diesen gierigen Männern einlassen, mit denen sie ihr Geld sauer verdiente. Jetzt, da er etwas von all dem zurückgeben konnte, was sie für ihn getan hatte, wollte er sich aus dem Staub machen.
Selbstverständlich war er geblieben – er hätte diese Meinung von Mama über sich nicht ertragen. Niemals! Er müsste arbeiten und sparen, bis er so viel Geld zusammenhätte, dass er davon nicht nur seinen eigenen Lebensunterhalt bestreiten konnte, sondern auch den von Mama.
Als er begriff, womit sie ihr Geld verdiente, schämte er sich. Natürlich hatte er keine Freunde. Es verbot sich von selbst, jemanden nach Hause einzuladen oder gar mitzubringen. Niemand sollte wissen, was Mama tat.
Eine Freundin, ein Mädchen, wie seine Schulkameraden und später seine Arbeitskollegen, hatte er ebenfalls nie gehabt. Inzwischen war er an seine allgegenwärtige Lüge gewöhnt – es zu mögen, ein Einzelgänger zu sein, es zu lieben, allein zu sein.
Er zog die schön geschwungenen Brauen zusammen.
Endlich allein. Endlich wieder allein.
All die endlosen Fragen, auf die er nicht geantwortet hatte, waren verstummt, und ein freundlicher, dicker Mann mit lustigen Augen hatte ihn zurück in seine Zelle gebracht.
Stefan Barnert zog sich die kratzige Decke bis zum Kinn und schloss die Lider. Augenblicklich sah er ihr Bild vor sich.
Irgendwo da draußen bist du. Ich liebe dich, dachte er zärtlich, bevor er einschlief.