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Claudia Heims starrte immer noch fassungslos auf die faltigen, blassen Gliedmaßen einer alten Frau. Die langen Nägel der wie im Gebet aneinander gelegten Hände waren blutrot lackiert, die Handgelenke und Stümpfe der Unterarme mit einem grünen Wollfaden aneinandergebunden. „Was ist in den anderen Schubladen?“ fragte sie schließlich tonlos.

„Ich habe nicht weiter nachgeschaut. Ich lasse dir gern den Vortritt. Möchtest du?“ fragte Jens.

„Mach du mal.“ Heims trat einen Schritt zurück.

Ihr Mitarbeiter verzog das Gesicht. „Klar, Mann“, murmelte er und öffnete eine weitere Schublade. „Oh, mein Gott“, stieß der Beamte erschrocken aus und schluckte fest.

Vor ihnen lag ein von stahlgrauem Haar umrahmter Männerkopf, in dessen unrasiertem Gesicht unverständiges Entsetzen festgefroren war. Die angstgeweiteten, gebrochenen Augen, an deren Wimpern Eiskrümelchen klebten, als habe der Mann bei seinem Tod geweint, starrten sie an. Der tote Mund war schmerzverzerrt und die leicht geöffneten blassrosa Lippen gaben den Blick auf zwei gelbliche Zahnreihen frei.

Die Polizisten schwiegen.

„Hatten wir jemals einen grausigeren Fund?“ flüsterte Jens nach einer Weile.

„Weiter“, drängte Heims. „Ich will wissen, was in den anderen Schubladen ist?“

Jens öffnete nach und nach alle weiteren Fächer. Obwohl er auf das Schlimmste gefasst war, wuchs sein Entsetzen mit jedem Mal.

Sie fanden zwei männliche Unterarme, die Behaarung so grau wie die Haare auf dem abgetrennten Kopf, die Hände vollkommen zerschmettert. Sie waren nicht mit Wollfäden aneinandergebunden. Vielmehr lagen sie dort, als hätte sie jemand einfach fallen lassen.

Sie fanden den Kopf einer Frau mit langem, blondiertem Haar. Die Augen waren geschlossen und ihr Gesichtsausdruck friedlich.

Sie fanden zwei Torsos, vier Ober- und Unterschenkel sowie vier Füße. Die Nägel zweier Füße waren mit derselben blutroten Farbe lackiert wie die Nägel der Frauenhände.

„Zwei Tote“, fasste Jens mit bleichem Gesicht und butterweichen Oberschenkeln zusammen, „eine männliche und eine weibliche Leiche.“

„Peter, informier die Gerichtsmediziner. Sag ihnen, es gibt hier unerwartet Arbeit für sie“, befahl Heims schroff. „Jens, Peter, ihr seht euch hier weiter um. Durchsucht alles gründlich, stellt jeden Schrank und jede Schublade auf den Kopf. Und vergesst den Keller nicht. Dirk und ich fahren zurück ins Präsidium.“

Sie erwartete keine Antwort.

*

„Ist dir aufgefallen, dass an dem männlichen Torso das Geschlechtsteil fehlte? Und dass wir das auch nicht gefunden haben“, fragte Plock seine Chefin, als sie sich in die Sitze ihres SUV fallen ließen.

„Noch nicht gefunden haben. Zumindest war es nicht in der Kühltruhe“, berichtigte Heims trocken und startete den Wagen. „Ansonsten waren die Leichen vollständig, wenn auch nicht in einem Stück. Aber der Schwanz fehlte. Das ist richtig.“

„Was glaubst Du, wer die beiden sind?“

Heims hob die Schultern. „Wir wissen, dass Barnert mit seiner Mutter zusammengelebt hat. Ich gehe deshalb davon aus, dass es sich bei der Frauenleiche um die Mutter von Barnert handelt. Wer der Typ ist – keine Ahnung. Wahrscheinlich der ältere Mann, der bei ihnen wohnen soll. Würde passen. Doch solange die Pathologie die Leichenteile nicht untersucht hat oder Barnert endlich seinen Mund aufmacht, tappen wir weiterhin im Dunkeln – sowohl in diesem Fall als auch hinsichtlich des Vorfalls in der Sturmnacht, als Barnert blinder Passagier gespielt und sich in den Wagen von der Hellmann geschlichen hat.“

„Zweifelst du etwa daran, dass Barnert die beiden umgebracht hat?“ fragte Plock.

„Nein, tue ich nicht. Aber bislang haben wir keine hundertprozentige Sicherheit. Also: Warten wir‘s ab.“

Während die Scheibenwischer quietschend den Regen vom Glas schoben, zog Plock zischend die Luft durch die Nase, als wollte er damit die Geräusche übertönen, die sein Magen plötzlich von sich gab. Heims sah ihren Kollegen erstaunt von der Seite an. Plock räusperte sich umständlich, dann gestand er: „Obwohl mir bei dem Anblick vorhin der Appetit vergangen ist, brauche ich was zu essen. Ich habe seit dem Frühstück nichts mehr zwischen die Zähne gekriegt.“

„Dito“, murmelte Heims. „Wir halten bei Erwin.“

*

Zu ihrer Überraschung fanden sie schnell einen freien Parkplatz, stellten den SUV ab und eilten im Laufschritt zu Erwins Imbissbude. Der Geruch von heißem Fett, den der Regen vergeblich aus der Luft zu waschen versuchte, wehte ihnen schon gefühlte zweihundert Meter vor dem Imbiss entgegen.

„Dieser Regen und diese herbstlichen Temperaturen gehen mir langsam aufs Gemüt. Der Sommer ist dieses Jahr ins Wasser gefallen. Wieder einmal“, schimpfte Heims.

Plock nickte nur und zog fröstelnd den Kopf ein. „Hey, Erwin“, rief er, als sie den Imbissstand erreichten.

„Hey, meine Lieblingsbullen. Schön, euch zu sehen. Was kann ich heute Gutes für euch tun?“

„Bullen? Das ist eindeutig Beamtenbeleidigung“, polterte Plock und zog drohend die Brauen zusammen. Dabei grinste er, was insgesamt komisch wirkte.

„Jetzt habt euch mal nicht so. Ihr wisst doch, wie ich’s meine“, antwortete Erwin und lachte dröhnend.

„Wissen wir, wissen wir“, beschwichtigte Heims. Sie war mit ihren Gedanken ganz woanders. „Dirk macht nur Spaß. Tut gut nach dem, was wir uns gerade antun mussten.“

Erwin nickte stumm. Er wusste aus Erfahrung, dass er auf die Frage nach dem Was keine Antwort erhielte. Dazu kannte er die beiden Cops schon zu lange.

Sie bestellten Pizza, Currywurst, Pommes und zwei Cola, zogen sich mit dem Essen und den Getränken unter den Sonnenschirm zurück und nahmen schweigend ihre Mahlzeit ein. Derweil prasselte der Regen heftig auf den schützenden Schirm.

Dieser Fall benötigte ihre Aufmerksamkeit, und zwar ihre ganze Aufmerksamkeit. Das wusste sie. Ihr großer Wunsch, im Job möge es eine Weile etwas ruhiger sein, erfüllte sich damit nicht. Sie würde den komplexen Fall Barnert momentan gut und gerne gegen klassische Schreibtischarbeit eintauschen. Denn sie brauchte Zeit und vor allem Energie, um wieder Ordnung in ihr chaotisches Privatleben zu bringen. Das blieb nun allerdings ein frommer Wunsch. Sie musste beides schaffen. Und sie wusste auch, dass ihr das irgendwie gelänge, wie auch immer.

Sie seufzte. Ihr Privatleben – eigentlich lief es recht gut. Sie war zufrieden, ja, sogar glücklich – wären da nicht ihr dämlicher Exmann Gerd und seine duselige Frau Birte.

Als Gerd Birte kennenlernte, war Claudia vollkommen klar gewesen, dass es über kurz oder lang gewaltigen Stress gäbe. Aber das? Damit hätte sie nicht gerechnet, nie im Leben.

Gestern hatte sie ein Schreiben von Gerds Anwalt erhalten, der sie in dem Brief wissen ließ, dass Gerd das alleinige Sorgerecht für Nina beantragte – ihre kleine, süße Nina. Dabei war ihre Tochter eh die meiste Zeit bei Gerd und Birte.

Das alleinige Sorgerecht – das war nicht fair. Und sie täte alles, damit er es nicht bekäme. Dafür setzte sie alle Hebel in Bewegung. Ganz klar!

Ihre Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit, eine Vergangenheit, die ihr wie ein anderes Leben erschien und doch erst zwei Jahre zurücklag.

Bei der Trennung waren Gerd und Claudia der Ansicht gewesen, es sei für ihr gemeinsames Kind das Beste, bei Gerd zu leben, der als freiberuflicher Grafiker von Zuhause aus arbeitete, während Claudia als Kriminalbeamtin und Leiterin eines mehrköpfigen Teams mehr oder weniger Tag und Nacht für ihren anstrengenden Job zur Verfügung stand. Dann lernte er Birte kennen, die nun mit Nina unter einem Dach lebte und ihr damit mehr Mutter sein konnte als Claudia selbst.

Das tat weh!

Unter den gegebenen Umständen war es allerdings das Beste für Nina. Und das allein zählte.

Aber das alleinige Sorgerecht? Was dachte Gerd sich nur dabei? Und welchen Vorteil sah er für sich darin? Warum wollte er ihr das bisschen Verantwortung und die wenigen Stunden mit ihrer vierjährigen Tochter per Gerichtsbeschluss nehmen?

Sie biss kraftvoll in die Currywurst, als wäre es Gerds Kopf, sein Finger – egal. Als ihr bewusst wurde, welches Bild sie vor Augen hatte und mit welcher Kraft sie kaute, spülte sie das Fleisch mit einem Schluck Cola hinunter und stopfte sich anschließend gierig ein paar Pommes frites in den Mund. Sie musste mit Gerd und Birte reden – ohne Anwälte und so schnell wie möglich. Gleich nach Dienstschluss.

Als sie ins Präsidium zurückfuhren, regnete es noch stärker als zuvor.

Unter schweren Schatten

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