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Der Dauerregen und der wolkenverhangene Himmel waren strahlendem Sonnenschein gewichen. Der feuchte Asphalt dampfte in der plötzlichen Hitze des warmen Sommerabends. Die Menschen befreiten sich von überflüssiger Kleidung und zogen ihre leichten Jacken und Pullover aus. Die Biergärten und die Terrassen vor den Eisdielen und Cafés füllten sich, und die Gastronomen freuten sich auf ein gutes Geschäft, das der Regen in diesem Sommer wieder einmal fast verhindert hätte.

Sie verließ das Polizeigebäude und eilte zu ihrem SUV. Im Laufen kramte sie in ihrer Tasche nach dem Smartphone. Hektisch tippte sie Gerds Nummer ein und presste dann das Mobilfunkgerät fest ans Ohr. Es klingelte nur zwei Mal, bevor er abnahm und sich meldete.

„Hallo Gerd, Claudia hier.“ Sie versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen. „Ich habe gestern das Schreiben von deinem Anwalt erhalten. Du beantragst das alleinige Sorgerecht für Nina? Warum?“

Verdammt! Sie biss sich auf die Unterlippe, dass es wehtat. Stelle niemals Warum-Fragen, wenn du nicht Gefahr laufen willst, ein Darum als Antwort zu bekommen. Eine ihrer eisernen Regeln, die sie gerade gebrochen hatte.

„Weil es für Nina besser ist“, antwortete Gerd tonlos und seufzte genervt.

Wenigstens hatte er nicht Darum gesagt.

„Bitte lass uns darüber reden.“ Claudia stellte fest, dass sie fast flehentlich klang.

„Da gibt’s nichts zu reden? Es ist das Beste für Nina. Das weißt du.“

Claudia schluckte den Kloß herunter, der sich nach der Warum-Frage in ihrem Hals gebildet hatte. „Nein, das weiß ich nicht. Ich sehe das vollkommen anders. Sie ist auch mein Kind.“

„Biologisch, ja.“

Die zwei grausamen Worte schnitten Claudia tief ins Herz. Und Gerd machte weiter: „Du wolltest doch keine Kinder – dein Job, deine Arbeit. Ein Kind hatte keinen Platz in deinem Leben.“

„Ja, aber dann bin ich schwanger geworden …“

„… und wolltest das Kind nicht.“

„Zu Anfang“, sagte Claudia kleinlaut, denn sie erinnerte sich an die nächtelangen Diskussionen mit Gerd, die der Feststellung gefolgt waren, dass sie ein Kind erwartete.

„Dein Job war dir selbst wichtiger, als Nina geboren war, als dieses Kind ein Gesicht hatte, ein eigenständiger Mensch war.“

„Gerd!“ rief Claudia ungehalten. „Du warst auch glücklich damit, dass ich meinen Job nicht aufgegeben habe. Ihn zu behalten, hat auch für dich alles leichter und verdammt angenehm gemacht, wenn Du mal keine Aufträge hattest und vor allem, nachdem wir uns getrennt hatten. Ich habe niemals irgendwelche finanziellen Ansprüche an dich gestellt.“

„Pah“, kam es abfällig durch den Lautsprecher.

Claudias Blutdruck stieg. Sicherlich – das war Gerd. Er interpretierte die Fakten, wie es ihm gerade in den Kram passte. Je nach Gusto sah er nur die eine oder die andere Seite der Medaille. Damals, bei der Trennung, war er heilfroh darüber gewesen, dass sie finanziell unabhängig war und nicht einen einzigen Cent Unterhalt von ihm verlangte.

Doch bei dem, was er jetzt plante, schien es ihm angemessen, den Stress, den ihr Job für sie und ein kleines Kind mit sich brachte, als Trumpfkarte auf den Tisch zu knallen.

Obwohl ihr Pulsschlag sich verdoppelt hatte, zwang sie sich, ruhig zu bleiben. Alles andere machte bei Gerd keinen Sinn.

„Bitte, lass uns das persönlich klären.“

„Dafür gibt es keinen Grund. Aber wenn du meinst, ein gutes Argument gegen mein alleiniges Sorgerecht zu haben, kannst du gern vorbeikommen“, lenkte er ein.

„Ist es dir recht, wenn ich jetzt direkt bei dir vorbeischaue? Ich bin am Präsidium.“

„Kein Problem. Nina ist Gott sei Dank bei meiner Mutter. Das Kind sollte unser Gespräch nicht mitbekommen.“

„Da sind wir ausnahmsweise mal einer Meinung.“

Gerd beendete das Telefonat, ohne sich zu verabschieden.

Claudia ballte die Hand zur Faust und hielt sich nur mit Mühe zurück, auf das Autodach zu schlagen. Sie holte tief Luft und atmete langsam aus. Dann ließ sie sich hinter das Lenkrad gleiten, startete den Motor und brauste los.

Sie kam nur sehr stockend vorwärts. Es herrschte dichtester Feierabendverkehr, und wer schon früher zuhause gewesen war, begab sich nun wieder auf die bereits vollen Straßen, um irgendwo einen der seltenen warmen Spätsommerabende unter freiem Himmel zu genießen. Unter normalen Umständen ließ Claudia das bunte Treiben auf sich wirken, sah in die zufriedenen Gesichter der Menschen in kurzen Hosen und bunten Shirts, passierte gutbesuchte Cafés und Eisdielen, bis sie sich trotz aller Müdigkeit nach einem langen Arbeitstag auf dem Revier von der guten Laune um sich herum mitreißen ließ, um selbst in einen Biergarten auf einen frischen Salat und ein kühles Getränk einzukehren.

Das heute waren allerdings keine normalen Umstände.

Der Autoverkehr und die ohne nach links und rechts zu blicken auf die Straße eilenden Fußgänger nervten sie, trieben ihren Herzschlag in die Höhe und ließen sie mehr als einmal laut fluchend mit der geballten Faust aufs Lenkrad schlagen. Die Flüche, die sie bei heruntergelassener Scheibe ausstieß, quittierten nicht wenige Leute mit verständnislosem Kopfschütteln. Sonne und Wärme nach tagelangem Dauerregen – wer hatte da schon schlechte Laune?

Endlich erreichte sie die Straße, in der Gerd und Birte mit Nina lebten. Sie lag in einer dieser aus dem Boden gestampften Neubausiedlungen mit spießigen Reihenhäuschen, die sich bis auf den Außenanstrich ähnelten wie ein Ei dem anderen – mit ihren penibel gepflegten, mit bis auf Kniehöhe akkurat beschnittenen Buchsbaumhecken umsäumten Vorgärten und den kaum mehr als handtuchgroßen Rasenstücken hinter den Häusern, die sich unbequem an überdachte Terrassen quetschten. Die kleinen, fast miteinander verschmolzenen Häuser wirkten wie Garagen für die davor abgestellten, immer breiter und protziger gebauten Fahrzeuge.

Sie parkte ihren Wagen vor Gerds und Birtes Haus, das sie nur aufgrund seines zitronengelben Anstrichs erkannte, stellte den Motor ab und sammelte sich.

Sie war Ninas Mutter, und so sollte es bleiben. Es kam nicht in Frage, dass Gerd das alleinige Sorgerecht erhielt, überhaupt nicht.

Claudia stieg aus dem SUV, knallte die Tür zu und bemühte sich um eine aufrechte, selbstsichere Haltung, obwohl ihr eher danach war, den Kopf wie eine verängstigte Schildkröte tief zwischen die Schultern zu ziehen. Mit großen Schritten eilte sie auf die Eingangstür zu, die Gerd in dem Moment aufriss, als sie gerade den Klingelknopf drücken wollte.

„Hallo, komm rein“, sagte er steif und ohne auch nur den Anflug eines Lächelns, verzichtete wie immer darauf, ihr die Hand zu geben und ließ ihr den Vortritt.

Wie geschickt, dachte Claudia, jetzt muss ich auf ihn warten, weil ich nicht weiß, ob wir in der Küche oder im Wohnzimmer miteinander reden.

Gerd schloss betont langsam die Haustür und seufzte genervt. Dann ging er, ohne sie anzusehen, an ihr vorbei und nahm Kurs auf das Wohnzimmer.

Sie spürte, dass er sich überlegen fühlte. Sein gleichzeitig zufriedener und gelangweilter Gesichtsausdruck spiegelte wider, dass sie mit ihrer Annahme richtig gelegen hatte. Wie gut sie ihn doch immer noch kannte. Er hatte sich nicht verändert, kein bisschen.

Claudia folgte ihm, das Rückgrat so krampfhaft aufgerichtet, dass es schmerzte.

Sie roch den intensiven Duft von Putz- und Desinfektionsmitteln, in dem auch ein leichter Hauch Teppichreiniger auszumachen war. Am liebsten hätte Claudia ihre Tochter aus dieser sterilen Umgebung sofort rausgeholt. So etwas förderte Allergien.

Birte lümmelte mit angezogenen Beinen auf der Couch und warf die Zeitschrift, in der sie gelesen hatte, auf den Tisch. Sie hielt es nicht für nötig, zur Begrüßung aufzustehen. „Ach, guten Abend, Claudia“, sagte sie nur, setzte ein falsches Lächeln auf und wies auf einen Sessel.

Steif nahm Claudia Platz. „Gerd, ich bin absolut dagegen, dass du das alleinige Sorgerecht für Nina beantragen willst“, kam sie direkt zum Thema.

„Aber Du weißt doch, das ist das Beste für unser Kind. Sie braucht Orientierung, Geborgenheit und einen gleichmäßigen Alltag“, antwortete Gerd. Sein Ton signalisierte ihr, dass er die Diskussion für absolut überflüssig hielt. „Und das alles kannst du ihr nicht bieten.“

„Nina hat einen geregelten Alltag“, widersprach Claudia vehement. Bleib ruhig, mahnte sie sich stumm. „Sie lebt bei dir. Und ich sehe sie an meinen freien Tagen. Wichtige Entscheidungen für Nina treffen wir gemeinsam. So haben wir es bei unserer Scheidung vereinbart. Und so ist es richtig.“

„Das sieht Gerd jetzt aber anders“, warf Birte mit träger Miene ein und lächelte wieder ihr süßes, falsches Lächeln. Claudia verglich sie unwillkürlich mit einem Frettchen. „Das Besuchsrecht will dir mein Mann ja gar nicht nehmen. Aber manche Entscheidungen müssen schnell getroffen werden. Und dein Job … na ja.“ Sie wedelte abfällig mit der Hand in der Luft herum. „Dein Job ist mit einem Kind einfach nicht zu vereinbaren“, fügte sie hinzu.

Claudias Herz begann zu rasen. Was gab dieser Frau das Recht sich einzumischen? Weil sie jeden Tag mit ihrer Tochter zusammen war? Claudia hätte gern mit ihr getauscht. Sie wäre gern laut geworden, wollte Birte ein paar Schimpfwörter an den Kopf werfen. Aber dann hätte sie verloren. Also zwang sie sich, ruhig zu bleiben, konzentrierte sich auf einen ruhigen Atem und zählte gedanklich bis zehn. „Nina ist meine Tochter. Und ein Kind braucht seine Mutter. Nina braucht mich.“

„Birte nimmt die Mutterrolle für Nina seit anderthalb Jahren wahr. Und das, wie du weißt, sehr gewissenhaft. In dieser Zeit hat sie für Nina mehr getan als du in ihren gesamten vier Lebensjahren. Nina hat sich so sehr an Birte gewöhnt, dass sie sogar Mami zu ihr sagt“, erklärte Gerd herablassend.

Jedes einzelne Wort traf sie wie ein Messerstich.

Gerd verstand es, ihre Liebe zu Nina als scharfe Waffe einzusetzen, ihre Liebe für seine Zwecke so zu benutzen, dass er sie damit verletzte. Claudia wusste, dass er sich an ihrem Schmerz weidete. Obwohl seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst waren, war das schadenfrohe Leuchten in seinen Augen nicht zu übersehen. Sie kannte es so lange wie Gerd selbst.

„Ich bin froh, dass Nina sich mit dir versteht“, sagte sie an Birte gewandt, auch wenn das nur zur Hälfte stimmte, wie Claudia sich eingestand. „Und ich bin dir wirklich sehr dankbar dafür, dass du dich so um sie kümmerst, wie du das tust. Nur ist es nun mal eine unumstößliche Tatsache, dass ich ihre Mutter bin und bleibe. Sie hat ein Recht darauf, mich zu sehen, wann immer es sich einrichten lässt. Sie hat ein Recht darauf, dass ich an ihrem Leben teilhabe. Und sie hat ein Recht darauf, an meinem Leben teilzunehmen. Am Leben ihrer leiblichen Mutter. Außerdem steht es mir als ihre leibliche Mutter zu, wichtige Entscheidungen, die sie betreffen, mitzubestimmen.“

„Das sehen wir aber vollkommen anders“, stellte Gerd bestimmt fest. „Es ist völlig gleichgültig, was du sagst oder tust – wir werden das vor Gericht durchsetzen.“

„Kannst du das als Frau wirklich verantworten – einer Mutter ihr Kind wegzunehmen?“ fragte Claudia.

„Es nutzt niemandem, jetzt theatralisch zu werden“, erwiderte Birte mit ihrem falschen Lächeln.

„Offensichtlich ist es euch egal, welche Argumente ich vorbringe. Ihr habt vor, das durchzuziehen?“

„Wir ziehen das durch – ganz genau“, sagte jetzt Ninas Vater und dehnte dabei jedes einzelne Wort. Sein Gesichtsausdruck war hart und unerbittlich.

Aber Claudia ließ sich weder von Birtes blödem Grinsen noch von Gerds Pokerface einschüchtern. „Das ist schlecht für das Kind, mein Kind. Ich werde alles aufbieten, was mir möglich ist, um das zu verhindern!“ Claudias Stimme klang fester, als sie gehofft hatte. „Ich habe nach unserer Trennung zugestimmt, dass es das Beste für Nina ist, bei dir zu wohnen. Du kannst deine Arbeit flexibel einteilen, und es ist für ein Kind optimal, immer einen Ansprechpartner zu haben. Nur werde ich es nicht zulassen, dass du Nina die leibliche Mutter nimmst. Darauf kannst du Gift nehmen.“

Birte grinste frech, während Gerd schmalllippig lächelte. Claudias Puls dröhnte in ihren Ohren und sie zählte erneut stumm bis zehn.

„Gut, wenn du es so willst. Dann geht es eben nur auf die harte Tour“, konstatierte Gerd und stand auf. Das Zeichen für Claudia, dass ihre Anwesenheit keine Sekunde länger in diesem Haus erwünscht und das Gespräch beendet war.

Ihr Versuch, miteinander zu reden, war gescheitert.

Selbst wenn sie nicht erreicht hatte, was sie für das Richtige hielt, ließ sie sich nicht aufhalten. Gerd und Birte sagten ihr den Kampf an.

Dann eben Kampf, dachte sie, mit welchen Mitteln auch immer.

Die Kopfschmerzen begannen, als Gerd die Tür hinter ihr ins Schloss fallen ließ, kaum dass sie die Schwelle überschritten hatte. Sie wuchsen schlagartig, als sie mit großen Schritten auf ihren Wagen zuging und sich innerlich aufgewühlt und erschöpft hinter das Steuer gleiten ließ. Sie wurden unerträglich, während sie den Motor startete und gezwungen langsam die Einfamilienhaus-Idylle verließ.

Mit erhöhtem Adrenalinspiegel und rasendem Puls fuhr Claudia an überfüllten Biergärten vorbei, aus denen fröhliches Gelächter und Gesprächsfetzen durch das geöffnete Fenster zu ihr ins Fahrzeuginnere drangen. Im Vorbeifahren warf sie kurze Blicke auf Kellner, die Teller und Tabletts geschickt zwischen den Bänken hindurchjonglierten, hier einen Bierkrug und dort eine dampfende Pizza abluden.

Ein schönes Bild, doch Claudia wusste, dass nichts und niemand sie davon überzeugen könnte, anzuhalten und einzukehren.

Sie lenkte ihren SUV geradewegs nach Hause, zu dem kleinen Wochenendhäuschen ihrer Eltern am See, das sie nach der Trennung von Gerd bezogen hatte.

Ihre Eltern hatten es seit einer halben Ewigkeit nicht mehr genutzt.

Es lag am Rand eines Tannenwäldchens, und die Fahrtwege zum Präsidium, zu ihren Eltern und – das war das Wichtigste – zu Nina dauerten mit dem Auto kaum mehr als eine Viertelstunde.

Mit ihrem Vater und einigen Freunden hatte sie die Hütte, wie die Familie sie nannte, ausgebaut und lebte nun dort. Ihre Mutter war bei der liebevollen Dekoration des neuen Heims behilflich gewesen. Ein großer Raum diente als Wohnzimmer und beherbergte eine Küchenzeile, sie besaß ein kleines Schlafzimmer, ein winziges Bad mit Dusche und einen Raum für Nina.

Die Hütte war ein heimeliger Rückzugsort ganz nach Claudias Geschmack.

Hier war es warm und gemütlich. Hier fühlte sie sich wohl – und Nina auch.

Nina – sie ließ sich ihre Tochter nicht wegnehmen, niemals. Sie war ihre Mutter.

Was fiel Gerd und Birte überhaupt ein?

Langsam wichen Hilflosigkeit und Niedergeschlagenheit, die Claudias Gefühle bestimmten, seit sie den Inhalt des Anwaltsschreibens kannte, und die der grausige Fund in Barnerts Wohnung verstärkt hatte, einer grenzenlosen, kalten Wut.

Wer war sie, dass sie sich so etwas bieten ließ?

Das machte niemand mit ihr, nicht mit Claudia Heims.

Mit dem nächsten Wimpernschlag hatten sich die Kopfschmerzen verflüchtigt.

Unter schweren Schatten

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