Читать книгу Unter schweren Schatten - Ute Christoph - Страница 4
Prolog
ОглавлениеZu Beginn, ganz am Anfang, war er nicht allein gewesen. Das wusste er genau. Aber an diese Zeit erinnerte er sich nicht mehr, so sehr er sich auch bemühte. Er fühlte, dass sie ihm etwas Lebensnotwendiges genommen, etwas aus ihm herausgerissen hatten.
Besonders schlimm fühlte es sich an, wenn er nicht brav gewesen war und Mama ihn bestrafen musste. Dann war dieses Gefühl übermächtig und er bekam üble Bauchschmerzen.
Erst gestern hatte Mama ihn wieder bestrafen müssen. Denn er war sehr böse gewesen.
Er war mit der ersten Morgensonne aufgewacht und hatte sich kräftig die blauen Augen gerieben, bevor ihm bewusst wurde, dass heute ein ganz besonderer Tag war – sein Geburtstag.
Das war aufregend. Es gab ein Geschenk von der Geburtstagsfee, wie zu Weihnachten vom Christkind.
Sein kleines Herz begann schneller zu schlagen. Vielleicht hatte Mama Kuchen und Kerzen für ihn besorgt.
Er schlug die Bettdecke ordentlich zurück, so, wie Mama es ihm gezeigt hatte, und schlüpfte in die vor seinem schmalen Kinderbett im Wohnzimmer stehenden abgewetzten Mickey Mouse-Pantoffeln, die er mit Mama auf dem Flohmarkt gekauft hatte. Während er dem Vogelgezwitscher vor dem Fenster lauschte, tapste er noch ein wenig schlaftrunken durch die Diele mit dem alten, knarrenden Holzboden und anschließend über die kalten, grauen Küchenfliesen in das angrenzende Schlafzimmer seiner Mama.
Neben ihr räkelte sich ein Mann. Mama hatte häufig Besuch, fast jede Nacht. Viele Männer kannte er, doch diesen hatte er noch nie gesehen.
Er hätte sich gern an Mamas warmen, weichen Körper gekuschelt, den Daumen in den Mund gesteckt, obwohl er jetzt schon vier Jahre alt war, und einfach nur friedlich dagelegen, bis Mama wach wurde. Aber Mama hatte ihm verboten, zu ihr ins Bett zu kommen, wenn ein Mann bei ihr lag.
Daher schloss er leise die Schlafzimmertür, schlurfte in die Küche und kletterte auf seinen Stuhl am Tisch. Er stützte seinen Kopf in die kleinen Hände, baumelte mit den Beinchen und musterte neugierig den in Geschenkpapier gewickelten Karton mit der riesigen dunkelblauen Schleife.
Was mochte die Geburtstagsfee ihm wohl gebracht haben? Vielleicht das knallrote Feuerwehrauto, das neben der schwarzglänzenden Eisenbahn im Spielwarengeschäft stand? Oder den orangefarbenen Müllwagen, den er im Schaufenster zwischen den vielen bunten LKW entdeckt hatte, als Mama ihn dort zurückließ, während sie in das Haus mit den roten Lampen und den roten Herzchen ging.
Er hätte das Geschenk so gerne aufgemacht, doch das mochte Mama nicht. Sie wollte dabei sein, wenn er die Geschenke der Geburtstagsfee oder vom Christkind auspackte.
Neben dem Karton lag ein eckiger, in Folie geschweißter Kuchen. Er betrachtete die Verpackung, auf die das Bild eines saftigen Schokoladenkuchens gedruckt war.
Den aß er am liebsten.
Mama würde die Folie aufreißen und den Kuchen vorsichtig herausnehmen, damit er nicht bröselte, vier Kerzen hineinstecken und sie anzünden. Und vielleicht würde sie sogar ein Lied für ihn singen.
Wann sie wohl aufstand?
Manchmal las Mama ihm eine Geschichte vor. Das machte sie allerdings nicht sehr oft. Wenn er ein bisschen Glück hatte und sie gut gelaunt war, vielleicht läse sie ihm heute vor.
In den Geschichten wohnten Kinder mit ihrer Mama und ihrem Papa zusammen, manche mit einem Bruder oder einer Schwester. Und einige Kinder hatten sogar beides.
Er hatte keinen Papa, keinen Bruder und auch keine Schwester. Nur Mama und Onkel Rolf. Onkel Rolf war Mamas Bruder. Warum er mit ihnen zusammenlebte, wusste er nicht.
Er wünschte sich sehr, dass Mama vor seinem Onkel zu ihm in die Küche kam. Ohne Onkel Rolf war alles schöner.
Er mochte Onkel Rolf nicht. Wie hätte er ihn auch mögen können? Onkel Rolf war grausam und gemein.
Und er tat ihm weh.
Plötzlich lehnte Mama verschlafen im Türrahmen, verschränkte müde die Arme vor der Brust und lächelte ihn erschöpft an. Der fremde Mann schlurfte an ihr vorbei, schenkte dem Jungen ein fades Grinsen und durchquerte die Küche. Als er die Wohnungstür öffnete, knarrte diese laut. Das tat ein bisschen weh in seinen Zähnchen. Dann fiel die Tür ins Schloss.
Endlich war er allein mit Mama. Das fühlte sich gut an.
„Guten Morgen, mein kleiner Mann. Alles Gute zum Geburtstag“, sagte Mama mit ihrer rauchigen Stimme, die jetzt ganz weich klang.
Er rutschte rasch von seinem Stuhl, rannte zu ihr und umarmte sie fest.
„Nicht so stürmisch, mein Liebling. Mama hat ganz schäbige Kopfschmerzen.“
Und sie roch komisch – nach diesem roten Saft, den sie Rotwein nannte, und nach etwas, wonach sie immer roch, wenn sie mit einem der Männer in ihrem Schlafzimmer gewesen war.
Aber Mama durfte nicht merken, dass ihm das nicht gefiel. Sonst wurde sie böse. Wenn Mama böse wurde, schimpfte sie laut, raufte sich die langen, blonden Locken und schrie, dass sie ein besseres Leben verdiente und gar nicht wüsste, warum sie mit allem so bestraft würde.
Meinte sie mit allem auch ihn?
Er wollte keine Strafe für Mama sein. Er wollte, dass sie lachte und ihn in ihre warmen, weichen Arme schloss. Er wollte, dass sie liebe Sachen zu ihm sagte und ihn in ihrer Umarmung beschützte.
„Möchtest du dein Geschenk auspacken?“ fragte sie jetzt, fasste ihn an der Hand und ging mit ihm zum Tisch zurück.
Er nickte, setzte sich brav an seinen Platz und ließ wieder die Beine baumeln. Er war sehr aufgeregt.
„Zapple nicht so rum. Das macht mich ganz nervös“, sagte Mama, und ihre Stimme klang ein wenig gereizt.
Er bewegte sich nicht mehr.
„Na, dann pack mal aus. Lass sehen, was die Geburtstagsfee dir gebracht hat.“ Mama nahm den eingeschweißten Kuchen in beide Hände und riss die Folie auf. Sie stürzte den Kuchen aus der Verpackung auf das Holzbrett, das immer am Kühlschrank lehnte und steckte vier kleine Kerzen hinein. Dann nahm sie eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug aus der Tasche ihres Morgenmantels. Bevor sie die Kerzen anzündete, pickte sie sich mit ihren langen, roten Fingernägeln eine Zigarette aus der knittrigen Packung und schob sie zwischen ihre Lippen. Die Spitze der Zigarette glomm auf.
Er hasste den muffigen Gestank und den graublauen Qualm, der unangenehm in seinen Augen brannte. Aber im Moment war es ihm fast egal – denn gleich erfuhr er endlich, was in seinem Geburtstagspäckchen auf ihn wartete.
Er knibbelte ungeschickt die Schleife auf und zupfte ungeduldig mit seinen kleinen Fingern das Papier mit den lustigen Trompeten und Trommeln von dem Karton. Und dann sah er das Foto auf der Pappe. Es war das Feuerwehrauto.
„Du grinst ja wie ein Honigkuchenpferd“, sagte Mama leise und tätschelte kurz seinen Kopf.
Er öffnete den Karton, nahm das Auto zärtlich in beide Hände und betrachtete es. Er öffnete die Türen, zog die gelbe Leiter aus und drehte sie vorsichtig. „Das habe ich mir so gewünscht“, flüsterte er andächtig.
„Das ist schön“, antwortete Mama, erhob sich und nahm zwei Teller aus dem Küchenschrank.
Sie öffnete die quietschende Schublade mit dem leicht angelaufenen Besteck und kramte nach einem Messer. Dann setzte sie sich wieder.
„Puste die Kerzen aus und wünsch dir was“, sagte Mama. „Du darfst aber niemandem verraten, was du dir gewünscht hast. Sonst geht es nicht in Erfüllung.“
Er kniete sich auf seinen Stuhl und beugte sich über den Kuchen. Dann holte er so tief Luft, wie er nur konnte, und pustete, bis die Flammen erloschen waren und grauer Rauch von den Kerzen aufstieg.
„Das hast du gut gemacht“, lobte Mama, leckte Daumen und Zeigefinger und kühlte damit die Dochte, dass es zischte.
Er strahlte über das ganze Gesicht, lief zu ihr und kletterte auf ihren Schoß.
„Du bist schwer geworden. Lange kann ich dich nicht mehr auf den Schoß nehmen“, klagte Mama und seufzte tief. „Aber du bist ja jetzt schon ein großer Junge.“
Er lächelte sie an, kuschelte sich an ihre Brust und legte seinen Kopf an ihre Schulter.
Das tat gut.
„Du tust mir weh. Steh auf!“ fuhr Mama ihn an.
Er hatte sich so sehr gewünscht, ein bisschen mit ihr zu schmusen, auch wenn sie so komisch roch. Aber sie wollte das nicht.
Also rutschte er von ihren Knien auf den Fußboden. Dabei fiel der Morgenmantel auseinander, und er starrte erschrocken auf die vielen blauen Flecke an ihren sonst ganz weißen Oberschenkeln.
Mama ignorierte seinen Blick. Sie stand auf, hob den alten Wasserkocher von der Basisstation, hielt ihn unter den Kran über der Spüle und ließ Wasser in das Gerät laufen. Sie klatschte es sorglos auf die Basisstation zurück und stöpselte den Stecker ein. Dann drückte sie auf den roten Knopf. Während sie ungeduldig wartete, dass das Wasser heiß wurde, nahm sie zwei Tabletten aus einer Schachtel auf dem Regal neben der Spüle, warf sie in eine Tasse und goss das kochende Wasser darüber.
Mama nannte das Katerfrühstück. Solange der denken konnte, schlürfte sie dieses Katerfrühstück fast jeden Morgen.
Nun schnitt sie zwei Stücke Kuchen ab, legte sie auf die Teller und schob einen davon zu seinem Platz. Der Schokoladenduft stieg ihm angenehm in die Nase und er spürte, wie sein Magen knurrte. Er war hungrig.
„Nun iss deinen Geburtstagskuchen“, sagte sie ein bisschen ungeduldig.
Er lief schnell zurück zu seinem Stuhl, kletterte hinauf und kniete sich auf die Sitzfläche. Er beugte sich nach vorn und griff nach seinem Kuchenstück. Dabei stieß er gegen die Tasse mit den Tabletten und dem heißen Wasser, das sich nun über den Tisch ergoss und auf Mamas Oberschenkel tropfte.
Sie sprang auf und warf dabei den Küchenstuhl um.
„Was bist du nur für ein ungeschickter Junge“, schrie sie aufgebracht.
Ja, das war er – ungeschickt. Solche Dinge passierten ihm ständig. Er war kein gutes Kind. Das wusste er.
„Es tut mir leid“, wisperte er und beeilte sich, zu ihr zu laufen, um sie zu drücken.
„Geh weg! Womit habe ich das nur verdient?“
Mama raufte sich das lange, blonde Haar. „Womit habe ich das verdient?“ sagte sie noch einmal und sah ihn wütend an.
Er wusste, was jetzt kam. Er war böse gewesen. Jetzt musste Mama ihn bestrafen.
„Geh zu Onkel Rolf“, befahl sie scharf.
Er schluckte.
„Mama, bitte nicht. Ich bin ein böser Junge, aber ich will nicht zu Onkel Rolf, nicht heute. Bitte nicht!“ wisperte er ängstlich.
Er spürte, wie sein Magen zusammenschrumpfte und ihm übel wurde. Er wollte sich nicht übergeben. Es war doch sein Geburtstag.
„Allein werde ich mit dir nicht fertig. Geh zu Onkel Rolf!“ sagte sie.
Er hätte so gern von seinem Kuchen genascht. Aber jetzt war ihm schlecht. Er hatte keinen Hunger mehr. Der Kuchen war ihm egal.
Langsam, ganz langsam, durchquerte er die Diele, machte vor der Tür zu Onkel Rolfs Schlafzimmer halt und legte zögerlich die Hand auf die Klinke.
„Muss ich es noch mal sagen?“ hörte er Mama in der Küche fragen – mit einem Ton in ihrer Stimme, der keinen Widerspruch zuließ.
Kopfschüttelnd zog er die Klinke herunter, schob die Tür auf und schloss sie leise hinter sich zu. Dann zog er seinen Schlafanzug mit den kleinen, braunen Bambis aus, faltete ihn, so, wie Mama es ihm gezeigt hatte, und schlüpfte zu Onkel Rolf unter die Bettdecke.