Читать книгу Unter schweren Schatten - Ute Christoph - Страница 7
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ОглавлениеDraußen krachte es wieder einmal. Blitz und Donner – wie Boten des jüngsten Tages. Der Regen klatschte aus düsteren Wolkenbergen schwer gegen die hohen Fensterscheiben, spülte den Straßenstaub vom Glas auf die Fensterbank und verteilte ihn von dort aus über die Fassade des alten Gebäudes. Die Spannung in den Wolken schien sich direkt über dem Polizeipräsidium zu entladen.
Kommissar Dirk Plock warf immer wieder einen Blick auf den vollgekritzelten Notizblock vor sich, während er seiner Chefin ausführlich Bericht erstattete.
„Der Typ war bislang völlig unauffällig“, erklärte er gerade. „Arbeitet als Mechaniker in einer kleinen Autowerkstatt. Ich hab‘ heute ziemlich lange mit seinem Chef gesprochen. Der hat mir erzählt, dass der Kerl ein erstklassiger Mitarbeiter ist. Einer, der seine Arbeit immer gründlich macht und immer pünktlich, ruhig und zuverlässig ist. Schiebt, ohne zu murren, massig Überstunden, wenn es nötig ist, weil zu viele Aufträge reinkommen. Gut für den Chef. Der musste so keinen einzigen Auftrag ablehnen oder Kunden vertrösten. Unser Mann ist extrem pingelig und ordnungsliebend. Völlig schleierhaft, wie der so austicken konnte.“ Plock hob die Achseln. „Kaffee?“ fragte er dann, lief die wenigen Schritte zur Kaffeemaschine und füllte Claudia Heims‘ Tasse bis zum Rand, als diese nachdenklich nickte.
„Habt ihr bei den Nachbarn irgendetwas in Erfahrung gebracht, das uns weiterhilft?“ wollte Heims wissen und runzelte die Stirn, als sie bemerkte, wie viel Kaffee Plock in ihre Tasse geschüttet hatte.
Er ignorierte den vorwurfsvollen Blick und wog bedächtig den Kopf hin und her. „In der Gegend ziehen die meisten Leute ein und aus. Da nimmt keiner großen Anteil am Leben seiner Nachbarn. Allerdings behaupten die Familien aus Barnerts Haus, dass neben seiner Mutter ein älterer Herr mit in der Wohnung lebte. Den hat das Einwohnermeldeamt dort auf jeden Fall nicht verzeichnet. Ansonsten sagen alle einstimmig über Barnert, dass er immer sehr freundlich grüßt, wenn er im Treppenhaus jemandem über den Weg läuft, sich aber auf keine Unterhaltung einlässt. Wenn es stimmt, was die Nachbarn sagen, hat er nie Besuch und geht außer zur Arbeit nur sehr selten aus dem Haus.“
Claudia Heims fuhr sich durch das kurze, platinblondgefärbte Haar und ließ die Hand flach auf ihrem Hinterkopf liegen. In dieser Position konnte sie am besten nachdenken.
Was wussten sie bis jetzt über Stefan Barnert? Gut – seinen Namen. Den hatte er ihnen widerstandslos bei seiner unkomplizierten Festnahme genannt, ebenso wie seine Geburts- und Kontaktdaten. Aber ansonsten hatte er nichts gesagt, keine einzige Frage beantwortet. Und er schien dieses eiserne Schweigen nicht brechen zu wollen.
Warum trieb sich dieser bisher vollkommen unauffällige Mann plötzlich mitten in tiefster Nacht bei einem gefährlichen Unwetter im Wald herum und schlich sich dann unbemerkt in Tina Hellmanns Wagen? Was war der Auslöser gewesen, der ihn dazu gebracht hatte, mit seiner Unauffälligkeit zu brechen, auffällig zu werden?
„Das macht alles bisher überhaupt keinen Sinn. Wir müssen in seine Wohnung. Wir brauchen einen Durchsuchungsbefehl.“ Plock starrte sie an, während er sich mit Zeige- und Mittelfingern die pochenden Schläfen massierte.
„Läuft schon“, erwiderte Heims knapp und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf die neue, noch sehr dünne Akte: Stefan Barnert, zweiunddreißig, wohnhaft in derselben Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war, keine Vorstrafen. Wie jeder Durchschnittsbürger ein paar Knöllchen wegen zu schnellen Fahrens oder Falschparkens, sonst nichts. Er ging einer geregelten Arbeit nach – völlig normal.
Sie musterte die Fotos, die die Kollegen von ihm gemacht hatten, bevor sie ihn nach dem Verhör, das keins gewesen war, zurück in die Zelle brachten – tiefblaue Augen in einem schmalen, athletischen Gesicht, eine gerade, wohlgeformte Nase, volle Lippen, lockiges, dunkles Haar, gepflegter Drei-Tage-Bart.
Hübscher Kerl. Nur die Augen – ausdruckslos. Vielleicht ein bisschen gleichgültig? Oder eher traurig?
Heims raufte sich wieder die Haare und verharrte in der Bewegung, als die Hand ihren Hinterkopf erreichte. Das alles machte bislang wirklich keinen Sinn. Doch möglicherweise fanden sie etwas in seiner Wohnung, das sie endlich weiterbrachte.
Ohne ein Klopfen wurde stürmisch die Bürotür aufgestoßen.
„Hier – der Durchsuchungsbeschluss.“ Eine Assistentin mit üppiger Oberweite, tief ausgeschnittenem Shirt und zu kurzem Rock betrat das Zimmer und reichte Heims einen Briefumschlag.
Na, wenigstens das bekommt sie hin, dachte Heims und verzog unmerklich die Mundwinkel. „Danke“, sagte sie knapp und an Plock gewandt setzte sie hinzu: „Das wird uns hoffentlich weiterbringen.“
„Wer begleitet Dich außer mir?“ wollte ihr Mitarbeiter wissen.
„Jens und Peter“, antwortete die Kommissarin, schlüpfte in ihre Jacke und griff nach ihrer Tasche.
*
Es war nicht eine der schönsten Gegenden der Stadt, in der Barnert zuhause war. Er wohnte in einer Straße mit wenig Grün, aber unzähligen einfallslosen Mehrfamilienhäusern aus den 60er Jahren, deren klobige Balkone zur Straße zeigten und auf denen die Bewohner die unterschiedlichsten Pflanzen zogen. Heims registrierte bunte Sonnenschirme und kitschige Blumenkästen, in deren Erde zwischen üppig blühenden Geranien Solarleuchten steckten, sowie das atonale Geklapper eines Windspiels, das sie nicht orten konnte. Die Eingangstür des Hauses, in dem Barnert lebte, war nur angelehnt.
Ein neugieriges Augenpaar folgte den Beamten durch den knapp geöffneten Türspalt im ersten Stock, als sie mit dem Mann vom Schlüsseldienst in das Obergeschoss des Hauses stiegen, wo Stefan Barnert mit seiner Mutter und einem Mann lebte. Niemand hatte bei einem ihrer zahlreichen Anrufe den Hörer abgenommen. Auch auf das mehrfache Klingeln an der Haustür hatte niemand reagiert.
Heims schlug mit der geschlossenen Faust kräftig gegen die schäbige Tür, die mehrmals überstrichen worden war, wie die Kommissarin an den untertellergroßen Flecken abgeblätterter Farbe erkannte.
Aus der Wohnung drang kein Laut. Niemand schien daheim zu sein.
„Öffnen“, wies sie den Schlüsseldienst knapp an, der sich wie aufs Stichwort an der Tür zu schaffen machte und das Schloss innerhalb weniger Sekunden knackte. Die Polizisten zogen Einweghandschuhe aus ihren Hosentaschen, stülpten sie über ihre Hände und betraten nacheinander die Diele.
Die Beamten wandten sich dem ersten Raum auf der rechten Seite zu, einer aufgeräumten Küche mit blankgeputzten Fliesen und abgenutzten Möbeln, die vor mehr als drei Jahrzehnten modern gewesen waren. Auf vier alten Küchenstühlen, die ordentlich um den Tisch in der Mitte des Raums platziert waren, lagen orangefarbene Sitzkissen mit verblassten Blumenmustern. Die Küchenschränke waren irgendwann einmal weiß gewesen. Jetzt überzog sie ein leichtes Gelb, als wenn in diesem Zimmer zu viel geraucht worden war. Doch die Luft roch frisch, nach irgendeinem Raumspray.
Lavendel, schätzte Heims. Hier rauchte schon lange niemand mehr.
In der kleinen, vollkommen kalkfreien Spüle unter einem Fenster mit fadenscheinigen Gardinen wartete kein Geschirr darauf, gespült zu werden, nicht einmal eine Tasse oder ein Löffel. Die schwarz und rot gesprenkelte Arbeitsplatte und der Tisch waren blitzblank, keine Krümel, keine Kaffee- oder sonstigen Flecken. Auf der Fensterbank ließ ein Kaktus traurig seine tiefroten Blüten hängen, die einzige Pflanze im Raum.
„Ziemlich altes Mobiliar, sehr spartanisch eingerichtet, aber alles pingelig sauber“, fasste Plock zusammen.
Heims nickte nachdenklich. „Dirk, wir sehen uns in den anderen Zimmern um“, schlug sie vor. Sie war sich nahezu sicher, dort ebenfalls auf alte Möbel und die in der Küche vorherrschende Ordnung zu stoßen. „Peter, Jens, ihr nehmt euch die Küche gründlich vor.“
Heims und Plock durchquerten die Küche und öffneten den benachbarten Raum.
„Eindeutig das Zimmer einer Frau“, stellte Plock fest, „nicht das von Barnert.“
Heims zog die Brauen hoch. „Ich will erst seins sehen. Davon verspreche ich mir am meisten.“
Plock nickte bestätigend.
Sie passierten Jens und Peter, die in alten Papieren aus den Küchenschubladen stöberten. Der hölzerne Boden knarrte unter ihren Füßen, als sie die Diele durchquerten. Heims öffnete die Tür zu einem der beiden verbleibenden Räume.
Das Tageslicht schien durch die geschlossenen, zartgrünen Vorhänge auf einen einfachen Schreibtisch mit zugeklapptem Laptop, einen billigen Kleiderschrank, ein zugedecktes Bett und ordentlich gefaltete Kleidung auf einem Stuhl, der nicht zum Rest des Mobiliars passte. Hinter der Zimmertür quetschte sich ein weißes, deckenhohes Regal mit Büchern und Zeitschriften an die Wand.
Heims hatte sich geirrt. Die Möbel in diesem Raum waren nicht so alt wie die in der Küche. Zu modern für den alten Mann, der hier ebenfalls leben sollte. Das musste folglich Barnerts Zimmer sein.
Sie zog die Einweghandschuhe zwischen ihren Fingern stramm und nahm die Kleidung vom Stuhl. Ja, das waren Hose und Hemd eines jungen Mannes. Sie ging zu dem Schreibtisch unter dem Fenster und öffnete die erste Schublade. Akkurat aufeinandergestapelte, weiße Blätter lagen neben einer Schale mit einem Kugelschreiber, einem Bleistift und einem Füllfederhalter. Eine Flasche mit Korrekturflüssigkeit, ein Bleistift und ein Radiergummi vervollständigten das Ensemble. Heims nahm sich die nächste Schublade vor – ein Set verschiedenfarbiger Klebezettel, einige Schreibhefte und eine kleine, offene Pappschachtel mit Büroklammern. Das dritte Schubfach war leer.
Sie schaute Plock an. „Das scheint in der Tat ein sehr ordentlicher Mensch zu sein. Wenn der in seinem Job genauso pingelig ist, dann kann ich mir gut vorstellen, dass sein Chef so voll des Lobes über ihn war.“
„Das ist verrückt.“ Plock kratzte sich am Kopf und sah irgendwie ratlos aus.
„Was? Dass ein derart gewissenhafter und ordnungsliebender Mensch so was Schräges macht, wie in einen fremden Wagen einzusteigen?“
Plock nickte bestätigend.
„Vielleicht ist nicht er, sondern seine Mutter dieser Ordnungsfetischist.“
„Und räumt bei ihrem zweiunddreißigjährigen Sohn die Schubladen auf? Kann ich mir nicht vorstellen.“
Heims zog die Lippen zwischen die Zähne. Schweigend öffnete sie den Kleiderschrank – auf der Stange reihten sich nach Farben sortierte Hemden und Shirts aneinander. In den Fächern stapelten sich wie mit dem Lineal gefaltete Hosen und Unterwäsche. Seine Socken verwahrte Barnert in einer IKEA-Aufbewahrungsbox.
Alles sehr unauffällig, wenn man von der peniblen Ordnung absah.
Dieser Fall ist wie ein lieblos aufgewickeltes Wollknäuel, das sich nicht entwirren lässt, dachte die Kommissarin. Ich muss irgendwie ein Ende zu fassen kriegen. Ich brauch einen Pack-an. Sie hatte all ihre Hoffnungen auf die Hausdurchsuchung gesetzt. Doch selbst die schien sie keinen Millimeter weiterzubringen.
„Ach, du Scheiße! Das gibt’s doch nicht! Das kann nicht wahr sein!“ Jens‘ Stimme, in der Heims neben Überraschung einen unterdrückten Ekel ausmachte, zerriss die eingetretene Stille wie ein Pistolenschuss.
„Claudia! Dirk! Kommt her! Wir haben was gefunden!“
Die Kommissare warfen sich einen kurzen Blick zu und hasteten zurück in die Küche.
Jens und Peter standen bewegungslos vor dem geöffneten Gefrierschank, aus dem sie ein Schubfach herausgezogen hatten.
„Was? Was habt ihr gefunden?“ fragte Claudia. Ihre Kollegen versperrten ihr die Sicht auf das, was sie augenscheinlich geschockt hatte.
„Ich habe dafür keine Worte. Guck selbst“, gab Jens zurück, trat ein paar Schritte zur Seite und starrte weiter mit totenblassem Gesicht in die offene Schublade.
Heims trat neben ihn und folgte seinem Blick. Sie hatte schon viel in ihrer Laufbahn als Polizistin gesehen. Aber das, was sich ihr nun bot, ließ ihr das Blut in den Adern stocken. Sie spürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken und schnappte nach Atem.
Oh, mein Gott.
Sie sah auf die bleichen Unterarme einer Frau, die Hände mit den blutrot lackierten, langen Fingernägeln wie im Gebet aneinandergelegt.