Читать книгу Unter schweren Schatten - Ute Christoph - Страница 8
4
ОглавлениеTina stapelte schmutzige Kaffeetassen in die vor Geschirr fast überquellende Spülmaschine, gab einen Tab in die Spülkammer und ließ geräuschvoll die Tür einrasten, bevor sie das Programm wählte und das Gerät sich leise Wasser zog. Sie stemmte beide Hände in die Hüften, reckte ausgiebig ihren schmerzenden Rücken und gähnte mit weit aufgerissenem Mund. Kasper tapste auf sie zu und stupste mit seiner samtweichen Schnauze gegen ihr Bein. „Ich bin zu müde, Kasper. Michael spielt gleich mit dir“, tröstete Tina den Labrador und tätschelte liebevoll den schwarzen Kopf.
Seit dem Vorfall im Wald vor zwei Wochen schlief sie schlecht. Grübeleien drängten sich ihr auf, drehten sich ihrem Kopf in Endlosschleifen, bis ihr schwindelig wurde, und hielten sie wach. Wenn die Müdigkeit sie schließlich überwältigte und sie endlich einschlief, kamen die quälenden Bilder, Albtraumbilder – tiefste Schwärze, Blitze und Donner, eiskalter, die sommerliche Kleidung durchdringender Regen, grelles Scheinwerferlicht und das Gesicht mit den tiefblauen Augen, von dem sie inzwischen wusste, dass es Stefan Barnert gehörte. Und dann schrak sie schweißgebadet aus diesen Bildern auf.
Er hatte direkt hinter ihr gesessen. Allein die Vorstellung, dass ihr ein Fremder in ihrem eigenen Wagen unbemerkt so nah gewesen war, ließ sie schaudern. Was wäre passiert, wenn sie ihn entdeckt hätte? Wenn sie ihn etwa im Rückspiegel gesehen hätte? Oder ihn atmen gehört hätte?
Eine Gänsehaut kroch langsam ihre Wirbelsäule hoch und breitete sich über Rücken und Arme aus.
Sie zermarterte sich das Gehirn, warum dieser Barnert sich heimlich in ihr offenes Auto geschlichen hatte, während sie und der fremde Mann eifrig damit beschäftigt gewesen waren, den schweren Ast von der Fahrbahn zu schaffen.
Wieso war dieser Barnert mitten in tiefster Nacht und bei dem gefährlichen Gewitter in dem gespenstischen Wald herumgelaufen? Warum hatte er sich in ihren Audi gesetzt, bewegungslos und stumm, ohne sich bemerkbar zu machen und ohne sie anzugreifen?
Oder war das sein Plan gewesen? – sie zu einem abgelegenen Haus zu lotsen und ihr dort wer weiß was anzutun, wenn sie nicht plötzlich gerast wäre wie eine Irre. Hatte sie ihn damit verwirrt? Und was hätte er getan, wenn in dieser Nacht die Straße nicht durch einen Ast versperrt gewesen wäre und sie nicht hätte anhalten müssen? Wäre er wieder nach Hause spaziert?
Eine alles umklammernde, dumpfe Angst beherrschte ihre Gefühle und tanzte in ihren Träumen, und die Fragen, deren Antworten keine Rolle spielten, wanderten durch ihren Kopf und raubten ihr Ruhe und Schlaf.
Ihr Mann Michael betrat die Küche, zog sie in seine Arme und wiegte sie sanft hin und her. „Schatz“, flüsterte er zärtlich in ihr Ohr. „Du schläfst unruhig, bist müde und gehst trotzdem zur Arbeit, als wäre nichts passiert. Was hältst du davon, dir ein paar Tage frei zu nehmen? Ich meine, du musst das Erlebte erst einmal verarbeiten. Und ich glaube, es wäre hilfreich, wenn du dabei professionelle Unterstützung in Anspruch nimmst. Was du erlebt hast, ist traumatisch.“
Tina seufzte. „Ich war der Meinung, allein mit der Geschichte fertigzuwerden. Aber es stimmt leider – ich schaffe das nicht allein. Ich schlafe nicht und wenn mir vor lauter Müdigkeit dann doch die Augen zufallen, schlafe ich unruhig. Ich bekomme das selbst mit, glaub mir. Ich grüble viel und kann mich im Büro nicht oder nur sehr schwer konzentrieren. Am schlimmsten ist allerdings, dass ich Angst habe, allein irgendwohin zu gehen. Und es wird immer schlimmer statt besser.“
Als es plötzlich an der Haustür klingelte, schrak sie zusammen – trotz Michaels schützender Umarmung, in der er sie nach wie vor wiegte. Sie lächelte gequält. „Ja, ich muss wirklich etwas tun“, murmelte sie und schüttelte gedankenverloren den Kopf, während sie auf ihrer Unterlippe herumkaute. Michael drückte beruhigend ihre Oberarme, verließ mit Kasper die Küche und öffnete die Haustür. Tina schlurfte ihnen mit gebeugtem Rücken hinterher.
Er hielt einen großen Blumenstrauß in der Hand – der Fremde, mit dem sie in der Gewitternacht den Ast zerlegt und neben die Leitplanke gezerrt hatte und dessen Namen sie immer noch nicht kannte. Er sah das Paar mit einem sympathischen Lächeln an.
Michael bat den Mann mit einer Geste, ins Haus zu kommen. Kasper begrüßte den Neuankömmling, indem er neugierig seine Hosenbeine beschnupperte.
„Kasper, aus!“ rief Tina schärfer als beabsichtigt und zog den verschüchterten Labrador am Halsband zu sich.
„Schon gut. Ich mag Hunde, Frau Hellmann“, sagte der Fremde und reichte erst Tina und dann Michael die Hand. Dann wandte er sich erneut an die junge Frau. „Ich bin hier, um mich zu erkundigen, wie es Ihnen geht“, erklärte er und überreichte Tina die Blumen. „Mein Name ist übrigens Robin Meerbaum.“
„Nach eurem gemeinsamen Erlebnis solltet ihr nicht mehr „Sie“ zueinander sagen“, regte Michael an. „Geht doch schon mal ins Wohnzimmer.“ Er tätschelte Tinas Arm, nahm ihr den riesigen Strauß ab und begab sich in die Küche.
Tina versuchte ein freundliches Lächeln. Es mutierte zu einem schiefen Grinsen. „Tina“, sagte sie dann. „Und das ist Michael, mein Mann.“ Sie wies in die Richtung, in die Michael verschwunden war.
„Und? Wie geht’s dir?“ fragte Robin, als sie den Wohnraum betraten und sich auf den Sesseln niederließen. Kasper legte sich neben Robin und ließ sich von ihm das weiche Fell kraulen, als Michael mit den ansprechend in einer Vase arrangierten Blumen zu ihnen stieß. Er stellte den Strauß am Tischrand ab und begab sich erneut in die Küche, um mit einer Flasche Wein und drei Gläsern zurückzukehren.
Robin nickte Michael kurz dankend zu und konzentrierte sich dann wieder auf Tina, die schmerzlich das Gesicht verzogen hatte.
„Ganz ehrlich? Mir geht es schlecht, sehr schlecht“, gab sie dann zu. „Ich kann an nichts anderes mehr denken als an die Ereignisse dieser Nacht. Die Vorstellung, dass dieser Barnert hinter mir gesessen hat und ich nichts davon mitbekommen habe. Mich quälen Albträume, was er wohl mit mir anstellen wollte. Ich grüble ständig, schlafe wenig und bin immerzu unruhig.“
„Das ist nachvollziehbar.“ In Robin Meerbaums Stimme schwang eine Menge Empathie mit. „Hast du schon einmal darüber nachgedacht, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Traumata – und darum handelt es sich bei Dir – sollten mit professioneller Unterstützung bearbeitet werden.“
Tina nippte an ihrem Glas Wein, bevor sie antwortete. „Du wirst es kaum glauben, aber genau darüber haben Michael und ich grade gesprochen, als du bei uns geschellt hast. Ich bin inzwischen davon überzeugt, dass eine Therapie die einzige Möglichkeit ist, um meinen inneren Frieden irgendwann einmal wiederzufinden.“ Sie atmete schwer. „Du warst zwar nicht bei mir im Wagen. Aber du hast gesehen, dass dieser Stefan Barnert hinter mir saß. Hast du keine Albträume?“
Robin schüttelte den Kopf. „Nein, die habe ich Gott sei Dank nicht. Aber das ist erklärbar. Ich arbeite seit fast zehn Jahren als Psychologe beim Jugendamt. In dieser Zeit habe ich so viel Schreckliches gesehen und so viele unfassliche Situationen erlebt, dass mich nicht mehr sehr viel schockieren kann.“
„Das ist in meinem Beruf als Fremdsprachenkorrespondentin natürlich nicht der Fall. Und im Augenblick muss ich sagen ‚leider‘. Mich macht diese Nacht wirklich fertig. Michael hat mir geraten, einige Tage frei zu nehmen. Und das habe ich auch vor. Ich werde morgen früh um sofortigen Urlaub bitten und mir dann direkt einen Therapieplatz suchen.“
„Puhh“, machte Robin. „Bei einem Psychologen wirst du von heute auf morgen keinen Termin bekommen. Die haben alle sehr lange Wartezeiten und du musst dich zwischen zwei und sechs Monaten gedulden – mindestens. Klar, die werden ja auch von den Kassen bezahlt.“
Tina stöhnte auf.
„Es gibt Alternativen“, beruhigte sie Robin schnell. „Wenn du bereit bist, selbst etwas Geld in die Hand zu nehmen und schnelle und gute Hilfe suchst, kann ich dir die Kontaktdaten einer wirklich guten Heilpraktikerin für Psychotherapie geben“, bot er dann an. „Die Methoden, mit denen sie arbeitet, sind sehr effektiv.“
Tina brauchte nicht lang nachzudenken. Sie benötigte Hilfe – und das möglichst schnell. „Ja“, sagte sie, „bitte. Hast du eine Karte von dieser Frau dabei? Mir jetzt am Telefon eine nach der anderen Absage zu holen, weil die Praxen überfüllt sind, wäre für mich nicht gut.“
Robin nickte. Er zog eine knallbunte Brieftasche aus seinem knitterfreien Jackett, suchte nach der Visitenkarte der Therapeutin und reichte sie Tina.
„Das“, begann Michael und hob sein Glas, „das ist ein schöner Grund zum Anstoßen. Auf deine Hilfe, Robin, eine neue Freundschaft und auf eine unbeschwerte, glückliche Zukunft.“
„Dein Wort in Gottes Ohr“, antwortete Tina und lächelte.
Die drei Gläser stießen klirrend aneinander.
Eine Stunde später notierte Tina ihren Termin – den Termin, der ihr Leben von Grund auf verändern sollte.