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Die politische Lage bis 68 n. Chr.

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Im Rom des Jahres 51 n. Chr., zu der Zeit von Domitians Geburt, saß der vorletzte Vertreter der julisch-claudischen Dynastie auf dem Thron, der als Kaiser Claudius in die Geschichte einging.

Tiberius Claudius Drusus Nero Germanicus, wie sein offizieller Name lautete, galt lange als körperlich und geistig zurückgeblieben, da ihn besonders in seiner Kindheit und Jugend hartnäckige Krankheiten quälten, die seine Entwicklung behinderten. Folgen wir den antiken Quellen, sprach selbst seine Mutter, die jüngere Antonia, von ihm als von einem Menschen, den die Natur nur begonnen, aber nicht vollendet habe, „und wenn sie jemand für besonders dumm hielt, sagte sie, er sei blöder als ihr Sohn Claudius“1.

So hatte er vor allem als Kind keinen leichten Stand. Die ganze Familie schämte sich seiner und verbarg ihn lange vor den Blicken einer neugierigen Welt. Als man ihn jedoch nicht länger im Palast verstecken konnte, da die ersten öffentlichen Ämter seiner harrten – er war immerhin Mitglied des Kaiserhauses –, stellte sich bald heraus, dass Claudius so zurückgeblieben gar nicht war. Er, der im privaten Kreis wegen seines Stotterns zu einer vernünftigen Konversation nicht fähig zu sein schien, zeichnete sich draußen durch fundierte Reden und sicheres Auftreten aus, was besonders seinen Großonkel, Kaiser Augustus, in Erstaunen versetzte. Sollte man sich in diesem Menschen etwa getäuscht haben? Schlummerten in ihm vielleicht sogar Begabungen, die man bislang nur noch nicht entdeckt hatte?

In jedem Fall hätte niemand vorauszusagen gewagt, dass der vermeintlich behinderte Claudius den Thron der Caesaren besteigen und dort keineswegs zu den schlechtesten Reichsverwaltern gehören würde.

Als Claudius 10 v. Chr. geboren wurde, herrschte Kaiser Augustus. Als er 23 Jahre alt war, folgte jenem dessen Stief- und Adoptivsohn Tiberius auf den Thron (14–37 n. Chr.). Und im Jahr 37 n. Chr. fiel die Regentschaft schließlich Gaius Caligula zu, Claudius’ jungem Neffen, der sich bald zu einem Tyrannen schlimmster Prägung entwickelte und vor allem potentielle Thronrivalen mit abgrundtiefem Hass verfolgte.

In dieser für ihn hoch gefährlichen Zeit besann sich Claudius wieder der Rolle des schwachsinnigen Trottels, die er zum Selbstschutz am Hofe des Verwandten so überzeugend zu spielen wusste, dass ihn dieser weitgehend unbehelligt ließ.

Als dann Caligula 41 n. Chr. einer Palastrevolte zum Opfer fiel, gelangte Claudius durch eine Reihe für ihn glücklicher Umstände auf den Thron. An seiner Inthronisierung maßgeblich beteiligt war Agrippa I., König der Juden, der sich gerade zu einem Freundschafts- und Staatsbesuch in Rom aufhielt. Ihm gelang es, den zögernden Claudius, der sich nach dem Attentat auf seinen Neffen im Palast hinter einem Vorhang versteckt hatte, um von den revoltierenden Prätorianern nicht entdeckt zu werden und das Schicksal Caligulas zu teilen, zur Annahme der Kaiserkrone zu überreden.

Einmal zu Amt und Würden gelangt, fand Claudius bald zu seiner schon früher gelegentlich unter Beweis gestellten Selbstsicherheit zurück. Bescheidenheit und würdiges Benehmen sicherten ihm die Volksgunst, die er allerdings durch manche Ungeschicklichkeit ebenso rasch wieder verlor.

Wie seine beiden Vorgänger Tiberius und Caligula regierte er anfangs umsichtig und gerecht, ließ sich aber bald durch Einflüsterungen schlechter Ratgeber beeinflussen. Weniger als die seines Neffen artete jedoch seine Tyrannis aus, vielleicht, weil er es vorzog, sich nach und nach von den Regierungsgeschäften zurückzuziehen und das Schicksal Roms und der Römer anderen zu überlassen.

Seine große Leidenschaft waren Frauen, deren berüchtigste Vertreterinnen er als Ehefrauen in sein Bett holte: Die leidenschaftliche Messalina, die ihm zwei Kinder, Britannicus und Octavia, gebar und der der Volksmund einen unmoralischen Lebenswandel nachsagte. Angeblich verdingte sie sich als Prostituierte in Roms Lupanaren und war dort als Liebesdienerin äußerst begehrt. Und die ehrgeizige Agrippina, seine Nichte, von der man außer einer übertriebenen Strebsamkeit nichts Nachteiliges zu berichten wusste. Doch soll sie immerhin ihren zweiten Gatten, Gaius Crispus, vergiftet haben, um sich seines unermesslichen Vermögens zu bemächtigen.

Agrippinas fast krankhafter Ehrgeiz war es dann auch, dem ihr kaiserlicher Gemahl und schließlich sie selbst zum Opfer fielen. Sie brauchte seinen Platz für Nero, ihren in die Ehe mitgebrachten nichtswürdigen Sohn.

Allzu bereitwillig überließ Claudius, wie gesagt, das Regieren anderen, seiner Frau Agrippina und den beiden Freigelassenen Pallas und Narcissus, um sich ganz seiner wahren Neigung und vermeintlichen Bestimmung, der Geschichtsschreibung, zu widmen. Der Ältere Plinius zitierte ihn sogar mehrmals in dieser Hinsicht als Autorität.

In der Tat scheinen seine historischen Kenntnisse und Betrachtungen überragend gewesen zu sein. Er verfasste Geschichtswerke über Etrurien, Karthago und Rom (Letzteres begann mit den Wirren nach Caesars Ermordung), die einen regen Geist erkennen lassen. Seine Bildung entsprach dem Ideal der Zeit. So beherrschte er Latein und Griechisch fließend nebeneinander. Aber womit, wenn nicht mit Geschichte, Literatur und Kunst, hätte er, den man stets von allen Staatsgeschäften fern gehalten und nie auf seine Rolle als Kaiser vorbereitet hatte, sich auch beschäftigen sollen?

Er starb 54 n. Chr. im Alter von 63 Jahren wahrscheinlich an Gift, das ihm seine vierte Gattin, Agrippina, in einem Pilzgericht – er liebte Pilze über alles – hatte verabreichen lassen. Sein Stiefsohn Nero bemerkte später, Pilze müssten eine Götterspeise sein, da sie Claudius zum Gott befördert hätten …

Nicht Britannicus, sein leiblicher Sohn, sondern Nero, den er auf Agrippinas Drängen an Sohnes statt angenommen hatte, folgte ihm auf den Thron. Er war jung, zu jung, um die wachsende Last eines sich noch immer vergrößernden Reiches tragen zu können, und er war zu verwöhnt, um zu begreifen, dass es einem Herrscher gut ansteht, sich zu bescheiden und sich mehr um das allgemeine als um das eigene Wohl zu kümmern. Nach den albtraumhaften Erfahrungen mit Tiberius und Caligula ging Rom und besonders seine oberste Schicht erneut einer Schreckensherrschaft entgegen.

Wie bei den genannten Vorgängern ließ sich Neros Regierungspolitik zunächst gewaltfrei an. Er war von keinem Geringeren als dem Philosophen Seneca, unter dem in Rom die Lehre der Stoa zu letzter Vollendung reifte, erzogen worden, und Nero zeigte sich besonders von dem Aufsatz De clementia seines berühmten Lehrers angetan. So äußerte er angeblich, als er einmal das Todesurteil eines Verbrechers bestätigen musste: „Oh, hätte ich doch nie schreiben gelernt!“

Doch leider hatte die Philosophie nie zu seinen bevorzugten Lernfächern gehört. Seine Mutter erachtete sie für einen künftigen Kaiser als überflüssig, ja verderblich, und verpflichtete Seneca, sich insofern gegenüber seinem Schüler zurückzuhalten. Überhaupt hatte die Kaiserin in der Erziehung ihres Sohnes versagt, obwohl sie dessen negative Eigenschaften erkannt haben musste. Wurde der Junge von Seneca getadelt, lief er zur Mutter, die ihn in übertriebener, ja blinder Liebe in Schutz nahm. Sein eigener Vater, Gnaeus Domitius Ahenobarbus, hatte anlässlich der Glückwünsche zur Geburt des einzigen Kindes, das er mit Agrippina hatte, geäußert: „Unmöglich kann von mir und der ein gutes Früchtchen stammen.“2 Eine prophetische Voraussage, die sich nur allzu bald bewahrheiten sollte.

Doch noch war es nicht soweit. Zunächst erkannte Nero, dass er wegen seiner Unreife der ihm zugefallenen Aufgabe noch nicht gewachsen war. So war er dankbar, dass ihm seine Mutter die Regierungsverantwortung weitgehend abnahm. Sie empfing Gesandtschaften und ließ auf die kaiserlichen Münzen neben dem Bildnis ihres Sohnes das eigene prägen. Vieles erinnerte an die Zeit nach Augustus’ Tod, als dessen Witwe Livia Drusilla glaubte, in den Staatsgeschäften mitmischen zu müssen, wenn auch ihr Sohn, Kaiser Tiberius, ein über 50-jähriger reifer Mann mit langjähriger Regierungserfahrung war. „Die Lage Roms schien sich nun zu wiederholen: Der an die Spitze der Staatsführung gelangte Adoptivsohn, daneben die Mutter, deren Einfluss allerdings, da der jetzige Herrscher, ein 17-jähriger Jüngling, Wachs in den Händen einer dominierenden Frau war, ein ganz anderes Gewicht bekam als seinerzeit unter Livia“3. Agrippina trug übrigens, seit ihr Gatte Claudius sein Stiefkind Nero an Sohnes statt angenommen hatte, den Titel Augusta, und war damit nach Livia die zweite Frau der römischen Geschichte, der dieser zuteil geworden war.

„Umgewandelt war von nun an der Staat“, stellt der Geschichtsschreiber Tacitus fest, „und alles war einer Frau hörig, die nicht mutwillig wie Messalina mit Rom ihr Spiel trieb. Stark und gleichsam männlich war die Knechtschaft. Nach außen hin gab sie sich streng, häufig auch hochmütig; in ihrem Privatleben aber verstieß sie nur dann gegen Sitte und Moral, wenn es dem Erhalt ihrer Herrschaft diente.“4

Schon lange duldete die römische Gesellschaft, dass Frauen auf die Politik ihrer Männer einwirkten, verwehrte ihnen aber noch immer beharrlich, in der Öffentlichkeit in Erscheinung zu treten. Wäre es ausschließlich nach Agrippina gegangen, hätte sich auch das geändert. So erschien eines Tages eine Gesandtschaft aus Armenien, der eine Audienz beim Kaiser gewährt wurde. Schon schickte sich die hohe Frau an, sich neben ihrem Sohn niederzulassen. Die Zeugen dieser Szene hielten den Atem an. Selbstbewusst näherte sich die Kaiserin „dem Tribunal, und niemand wagte, sie aufzuhalten, als Seneca geistesgegenwärtig Nero einen Wink gab, dass er seiner Mutter entgegengehen müsse. Die Sitzung wurde aufgehoben, der Skandal vermieden, aber dieser Zwischenfall war das Vorspiel einer langen Krise …“5 Es verwundert kaum, dass das Verhältnis von Mutter zu Sohn und umgekehrt daraufhin merklich abkühlte.

Aber da war noch ein weiterer Thronanwärter, Britannicus, der leibliche Sohn des verblichenen Fürsten, dessen bloße Gegenwart dem jungen Nero ein Dorn im Auge war. Ihn benutzte Agrippina als Druckmittel, was ihrem Sohn nicht entging und dessen Entschluss, sich von dem lästigen Nebenbuhler zu befreien, beschleunigte. Gehorchte das „Früchtchen“ nicht, ließ die gestrenge Mutter durchblicken, werde sie es ebenso schnell stürzen, wie sie es erhoben habe, und an seiner statt den wahren Erben auf den Thron setzen, eben jenen ungeliebten Sohn des Kaisers Claudius, Britannicus. Ausführlich schildert Sueton, wie Nero den unglücklichen Stiefbruder – angeblich aus Eifersucht auf dessen schöne Stimme – bei einem Gastmahl vergiftete und bei strömendem Regen ohne jegliche Feierlichkeit beisetzen ließ. Der Giftmord wurde vom gerissenen Kaiserlein übrigens als epileptischer Anfall mit tödlichem Ausgang „betrauert“.

Nero glaubte, seiner Stellung noch weitere Opfer schuldig zu sein. Unter dem Einfluss seiner Geliebten und späteren Gattin, der römischen Adligen Poppaea Sabina, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, selbst Kaiserin zu werden, beschloss er, sich der lästigen Mutter zu entledigen. Aber wie sollte sie beseitigt werden, ohne dass die Tat Verdacht erregte? Etwa durch Gift an der Tafel des Sohnes? War nicht schon Britannicus auf diese Weise ums Leben gekommen, und hätte dort ein wie zufällig erscheinender Tod der Augusta nicht erst recht für Gerede gesorgt? Im Übrigen war bekannt, dass die äußerst kluge und vorsichtige Frau seit Jahren durch die Einnahme von Gegengiften vor jedem Giftanschlag gefeit war. Ein Versuch wäre also wenig Erfolg versprechend gewesen. Würde man sich für den Tod durch das Schwert entscheiden? Fände sich aber überhaupt jemand, der zur Ausführung des Attentats bereit war? Agrippina war immerhin die Tochter des überaus beliebten Feldherrn Germanicus, dessen Andenken in Rom noch sehr lebendig war.

Nero war nahe daran, seinen Plan aufzugeben, und hätte ihn nicht Poppaea Sabina immer wieder gehänselt und ihn ein Muttersöhnchen genannt, hätte er von seinem Vorhaben wahrscheinlich ganz abgelassen. Ein Mündel nannte sie ihn zudem scherzhaft, einen, der nicht nur keine Herrschaft, sondern nicht einmal die Freiheit besäße, sich von seiner ungeliebten Octavia, Kaiser Claudius’ Tochter, scheiden zu lassen, um sie, die Königin seines Herzens, zu heiraten. „Missfällt dir etwa meine Gestalt oder der Ruhm meiner Ahnen? … Oder liegt es daran, dass deine Mutter nur eine Schwiegertochter zu ertragen vermag, die gegen ihren Sohn arbeitet?“ Lieber wolle sie weit weg von Rom leben, wo sie „des Imperators Schmach doch nur zu hören und nicht tagtäglich mit ansehen müsse“. Ihre Vorwürfe verstand sie durch Tränen geschickt zu untermauern, und es trat keiner gegen ihre Hetze auf, „da … niemand glaubte, Neros Hass gegen“ Agrippina „werde sich bis zum Mord steigern“6.

So wurde endlich ein Anschlag auf die Mutter verübt, die sich demonstrativ hinter ihre Schwiegertochter Octavia gestellt hatte. Nero hatte dazu Anicetus, den Flottenbefehlshaber von Misenum, einen üblen Freigelassenen, in seinen Plan eingeweiht und mit der Ausführung des Vorhabens beauftragt. Dieser schlug vor, Agrippina auf hoher See zu ermorden, weil dort kein Unfall unmöglich sei und niemand auf den Gedanken käme, einem Verbrechen zuzuschreiben, was die Naturgewalten verschuldet hätten. Sollte dennoch je ein Verdacht aufkommen, könnte Nero ja, um seine Sohnesliebe zu bekunden, der verunglückten Mutter einen Tempel und Altäre weihen. Er wolle ein Schiff bauen, das durch eine besondere Vorrichtung mitten auf dem Meer auseinander bräche und die Nichtsahnende in die Tiefe zöge.

Unter dem Vorwand, sich mit ihr nach manchen Unstimmigkeiten versöhnen zu wollen, lud der Kaiser die Mutter nach Baiae, dem bekannten Nobelbadeort der römischen Aristokratie am Golf von Neapel, zu einem opulenten Abendessen ein. Agrippina überwand ihr anfängliches Misstrauen und folgte der Einladung, obwohl ihre Spitzel sie gewarnt hatten.

Das Essen zog sich in die Länge. Als die Nacht hereingebrochen war, verabschiedete sie sich von ihrem Sohn, bestieg das für sie bereitgestellte Schiff, das sie nach Hause bringen sollte, mit wenigen Vertrauten. Die Nacht war sternenklar, und an Bord herrschte große Ausgelassenheit wegen der gelungenen Versöhnung,

Man hatte erst eine kurze Strecke zurückgelegt, als auf ein verabredetes Zeichen hin das mit Blei beschwerte Vordeck krachend einstürzte. Wie durch ein Wunder wurde die Kaiserin von den Seitenwänden ihres Ruhebetts geschützt und erlitt nur leichte Verletzungen. Todesmutig schwamm die tapfere Frau ans Ufer, wo Fischer sie aus dem Wasser zogen und in ihr nahe gelegenes Landhaus brachten.

Natürlich hatte sie erkannt, welchem plumpen Schauspiel sie aufgesessen war. Ein Schiffsunglück in unmittelbarer Nähe der Küste bei völliger Windstille und ohne dass Felsen oder andere Schiffe beteiligt gewesen wären! Da mochten Dümmere an Zufall glauben. Doch Agrippina war zu klug zu zeigen, dass sie die Situation durchschaute. Sie könnte sich, so dachte sie, am besten vor einem weiteren Anschlag schützen, wenn sie die Unwissende spielte. So ließ sie ihrem Sohn durch einen Boten ausrichten, er solle trotz des Schreckens, den ihm ihr Unfall verursacht habe, seinen Besuch bei ihr verschieben. Denn sie bedürfe jetzt dringend der Ruhe. Dann verband sie ihre Wunden, stärkte sich mit einem Heilmittel und wartete ab.

Mehr Angst als seine Mutter, die ihrem Tod tapfer entgegensah, hatte der nichtswürdige Sohn. Er kannte sie gut. Sie konnte keinen Augenblick daran zweifeln, wem dieser „Unfall“ zuzuschreiben war. „Gleich wird sie kommen und sich furchtbar rächen“, jammerte er. Er ließ seine Erzieher, darunter Seneca, rufen. Bis heute weiß die Wissenschaft nicht, ob dieser in Neros Mordplan wirklich eingeweiht gewesen war. Roms bedeutendster Freund der Weisheit schlug angeblich vor, Anicetus möge befohlen werden zu vollenden, was er begonnen habe.

„Wenn du gekommen bist, um mich zu besuchen“, schleuderte die furchtlose Frau ihrem Mörder entgegen, „dann melde, ich habe mich erholt. Bist du aber gekommen, um mich zu töten, dann weigere ich mich zu glauben, mein Sohn habe den Muttermord befohlen.“

Es bedurfte, so heißt es, vieler Hiebe, ehe Agrippina tot war. Übrigens hatten sie einst die Astrologen, von ihr über Neros Schicksal befragt, gewarnt: „Er wird Kaiser sein und seine Mutter umbringen.“ Darauf soll sie erwidert haben: „Mag er mich töten, wenn er nur herrscht!“7

Wenn ihn auch schwere Gewissensbisse plagten, ließ Nero seiner Sinnlichkeit jetzt freien Lauf, unkontrolliert von der strengen Agrippina. Der „Orest der Kaiserzeit“ gestand oft, dass er vom Schatten seiner Mutter und den Geißeln und brennenden Fackeln der Furien umgetrieben werde. Er soll sogar versucht haben, durch ein von Magiern vollzogenes Opfer Agrippinas Geist heraufzubeschwören und zu versöhnen. Es war vergeblich. An der Lebenden hatte er gelitten. Die Tote wurde er nicht los.

Neros Herrschaft artete bald völlig aus. Verkleidet suchte er Bordelle auf, besuchte mit seinen Spießgesellen üble Spelunken, plünderte Läden und belästigte Frauen. Ein Senator, der sich gegen den vermummten Kaiser erfolgreich wehrte, wurde gezwungen, Hand an sich zu legen. Seneca versuchte, seinen Schützling von Begierde und Ausschweifung abzulenken und führte ihm Acte, eine ehemalige Sklavin, zu, die ihn wohl als einzige Frau wirklich liebte. Doch bald wurde er ihrer Zärtlichkeit überdrüssig und wandte sich ganz der raffinierten Poppaea Sabina zu, die in den kommenden Jahren sein Leben und Handeln beherrschte.

Als nächste in der Reihe von Neros „Feinden“ trat die erst 22-jährige Octavia 62 n. Chr. die vorzeitige Reise in den düsteren Hades an. Schweigend hatte sie die Ausschweifungen ihres Gatten ertragen, geschützt von ihrer Schwiegermutter, die sich mit allen Mitteln gegen eine Scheidung ihres Sohnes von seiner Frau wehrte. Jetzt, da diese tot war, war die junge Frau ganz auf sich allein gestellt – und sie war verloren. Zunächst wegen Unfruchtbarkeit, dann paradoxerweise wegen Ehebruchs, Abtreibung einer Leibesfrucht und Hochverrats angeklagt, wurde sie in der Tradition des julisch-claudischen Kaiserhauses, das mit allen unliebsamen Frauen so verfahren war, auf die Insel Pandateria weit vor der Küste Neapels verbannt, wohin ihr Nero auf Poppaeas Betreiben hin bald ihre Mörder nachschickte. Sie öffneten ihr, die um ihr junges Leben flehte, gewaltsam die Adern und verbrühten sie, da das Blut nicht fließen wollte, in einem kochenden Bad. Poppaea brachten sie das abgeschlagene Haupt, das diese mit Genugtuung betrachtete, nicht ahnend, dass auch ihre Tage gezählt waren.

Die Ermordung dieser Unschuldigen war keineswegs Neros letzte Schandtat. Er, der sich gern als großer Künstler aufspielte und als Gott ansah, ärgerte sich über die schmutzige Stadt, die er beherrschte und die seine Sinne beleidigte. Er verachtete die grauen Paläste, die er geerbt hatte. Er beklagte sich über ein Rom, das ohne jeden Plan gewachsen war, und beschloss, die Stadt ein zweites Mal zu gründen und in Neropolis umzubenennen.

Am 18. Juli 64 brach im Circus Maximus ein Feuer aus, das sich rasch ausbreitete und tagelang in der Stadt wütete. Zu zwei Dritteln wurde sie dem Erdboden gleich gemacht. Wohnhäuser, Tempel, Kunstwerke, unermesslich war der materielle Schaden, den die Flammen anrichteten, abgesehen von den Tausenden von Menschen, die verbrannten, erstickten, obdachlos, von herabstürzenden Trümmern erschlagen oder in den überfüllten Straßen zu Tode gequetscht wurden. Die Geschichtsschreiber Tacitus, Sueton und Cassius Dio beschuldigen Nero übereinstimmend der Brandstiftung und ständigen Erneuerung des Feuers.8 Er habe Rom neu aufbauen lassen wollen und vom Dach des Hauses des Maecenas, wohin er sich in Sicherheit gebracht habe, sein Werk bewundert und, sich selbst auf der Leier begleitend, Verse über die Zerstörung Trojas geschmiedet. Der Kaiser tat alles, um von sich abzulenken: Er öffnete seine Gärten und alle öffentlichen Gebäude für die Obdachlosen, ließ auf dem Marsfeld Zeltstädte errichten und in der Umgebung Roms Lebensmittel requirieren. Den schlimmen Verdacht wurde er dennoch nicht los. Da suchte er nach einem Sündenbock und fand ihn „in jenen, die, dem Volk wegen ihrer Schandtaten verhasst, Christianer genannt werden …“9. Sie verfolgte er nun mit all den Grausamkeiten, die einem absolutistischen Herrscher der damaligen Zeit zur Verfügung standen, und leitete damit die Reihe blutigster Christenverfolgungen ein, aus denen nach etwas mehr als 300 Jahren die Anhänger dieser neuen Lehre paradoxerweise als Sieger hervorgehen sollten.

Mit großer Freude machte sich Nero an den Wiederaufbau seiner Wirkungsstätte, die er ganz nach seinen künstlerischen Vorstellungen gestaltete. Jede andere Stadt des gewaltigen Römerreichs wurde gezwungen, ihr Scherflein beizutragen. Prächtig erhob sich Rom gleich einem Phönix aus der Asche, und jedermann war bald überzeugt, dass es gesünder, reicher und schöner wieder auferstanden war.

Das prachtvollste Gebäude wurde allerdings Neros „Goldenes Haus“, eine Villa mit weitläufiger Parklandschaft am Fuße des Esquilin, deren Reste noch heute einen Eindruck der vergangenen Herrlichkeit vermitteln. Die Anlage bedeckte ein Gebiet, das einst viele tausend Arme bewohnt hatten, die der Kaiser kurzerhand enteignet hatte. Der Umfang und die prächtige Ausstattung des Palastes rissen Nero zu wahren Begeisterungsstürmen hin. „Endlich beginne ich zu leben wie ein Mensch“10, soll er bei seinem Einzug geäußert haben. Dem imposanten Anwesen war allerdings keine lange Lebensdauer bestimmt. Schon Vespasian gab das Areal gewissermaßen dem Volk zurück. Er ließ es weitgehend einebnen und an seiner Stelle das gewaltige Amphitheatrum Flavium, heute als „Colosseum“ bekannt, errichten. Dieses sollte sich zum Symbol des alten Rom schlechthin entwickeln.

Auch Poppaea Sabina starb eines gewaltsamen Todes. Gerechterweise muss man sagen, dass Nero, der sie durch einen Tritt in den Unterleib ins Jenseits beförderte, ihren Tod nicht gewollt hatte. Verspätet war der Kaiser von einem Rennen nach Hause zurückgekehrt und von seiner schwangeren Frau angeblich mit heftigen Vorwürfen empfangen worden. Nero, bislang kinderlos – eine von Poppaea geborene Tochter war noch als Säugling gestorben – war tief betroffen. Er hatte sich sehnlichst einen Erben gewünscht. Er ließ den kostbaren Leichnam einbalsamieren und bestellte ein prunkvolles Leichenbegängnis. Kurze Zeit später traf er einen jungen Mann, der Poppaea Sabina zum Verwechseln ähnlich sah. Er wurde kastriert und Nero in offizieller Zeremonie angetraut. Daraufhin ging ein Witz durch Rom: „Ach, hätte doch Neros Vater auch nur eine solche Frau umarmt!“11

Das Jahr 65 brachte eine weit verbreitete Verschwörung zu Tage, in die auch Seneca und der Dichter Lucan verwickelt gewesen sein sollen. Neros Rache war so grausam, dass bald das Gerücht aufkam, er habe gelobt, den gesamten Senatorenstand auszurotten. Lucan, Seneca und Petronius, der „Schiedsrichter des guten Geschmacks“, die alle zu den engsten Vertrauten der kaiserlichen Majestät gehörten, erhielten den Selbstmordbefehl. In ruhiger Gelassenheit öffneten sie sich die Pulsadern. Viele andere wurden hingerichtet oder verbannt. Der römische Widerstand gegen Nero war dadurch aber nicht gebrochen.

66 n. Chr. reiste der Kaiser, wie bereits erwähnt, nach Griechenland, um an den Olympischen Spielen teilzunehmen und die Griechen, die allein er seiner und seiner Kunst für würdig erachtete, mit seinem Gesang zu verwöhnen. Er musste seinen Aufenthalt schon 67 jäh beenden, nachdem Berichte von Aufständen und neuen Verschwörungen zu ihm gedrungen waren. Stolz zeigte er in Rom seine 1808 Trophäen, die er in Griechenland gewonnen hatte.

Im März 68 verkündete der gallische Statthalter Iulius Vindex die Unabhängigkeit Galliens. Als Nero auf dessen Kopf 2.500.000 Sesterzen aussetzte, verkündete Vindex unbeeindruckt: „Wer mir den Kopf des Nero bringt, bekommt den meinigen dafür.“12 Im April traf die Nachricht ein, Galba, der Befehlshaber der in Spanien stationierten Truppen, habe sich mit Vindex verbündet und marschiere auf Rom. Nero floh, ausgerüstet mit einem Dolch, zu den Servilischen Gärten an der Straße nach Ostia. Keiner seiner Prätorianer hatte sich bereiterklärt, ihn zu begleiten. Auf Empfehlung eines seiner Freigelassenen begab er sich in dessen Landhaus an der Via Salaria, wo er sich im Keller, in eine verschmutzte Tunika gekleidet, verbarg. Dort erreichte ihn die Nachricht, der Senat habe ihn zum Staatsfeind erklärt und angeordnet, ihn „nach der Vorfahren Brauch“ zu bestrafen. Er wollte wissen, was das bedeute, und erfuhr, dass man den Verurteilten nackt in eine Gabel spanne und dann mit Ruten zu Tode peitsche. Entsetzt wollte sich Nero daraufhin den mitgebrachten Dolch ins Herz stoßen. Er prüfte die Spitze und fand sie unangenehm scharf. Aller Mut verließ ihn. „Qualis artifex pereo“13, jammerte er. „Welch ein Künstler geht mit mir zu Grunde!“ Er beschloss, das Sterben noch eine Weile zu verschieben. Am nächsten Morgen gab es aber kein Entrinnen mehr. Er hörte Pferdegetrampel. Die Häscher des Senats hatten ihn aufgespürt. Zaghaft stieß er sich den Dolch in den Hals. Der Freigelassene führte ihm die zitternde Hand.

Seine verschmähte Geliebte Acte begrub seine Asche in den Grabgewölben der Familie der Domitier.14

Ein guter Teil des Volkes freute sich über seinen Tod. Aber viele, besonders die armen Leute, die mit seiner Herrschaft zufrieden waren, hatte er sie doch weitgehend unbehelligt gelassen, trauerten um ihn und waren geneigt, den Gerüchten zu glauben, die behaupteten, er sei gar nicht tot, sondern erkämpfe sich gerade seine Rückkehr nach Rom. Als er aber nicht mehr kam, fanden sie sich allmählich mit seinem Hinscheiden ab und streuten noch lange Blumen auf sein Grab.

Solcher Art waren die äußeren Verhältnisse, unter denen Domitian aufwuchs. Ob die flavische Familie von Neros Schandtaten, vor allem vom Stadtbrand Roms, betroffen war, ist nicht bekannt. Dass sie beschämend arm war, wurde bereits erwähnt. Allerdings dürfte sich ihre finanzielle Lage gebessert haben, als Vespasian wieder Truppenführer wurde.

Trifft Suetons Behauptung zu, der junge Domitian sei dem ehemaligen Prätor Clodius Pollio und vielleicht auch seinem späteren Nachfolger Nerva sexuell gefällig gewesen?15 Wollte er mit dem Verkauf seines Körpers vielleicht sogar das Familienbudget aufbessern? Wir wissen es nicht. Jedenfalls versichert der antike Biograf Suetonius, Pollio habe hin und wieder einen von Domitian eigenhändig geschriebenen Brief gezeigt, in dem jener dem Prätor eine Nacht versprach. Da aber gerade dieser antike Geschichtsschreiber für den Klatschcharakter seiner Überlieferung bekannt ist und nachweislich versucht hat, durch pikante Geschichtchen seinen grauen Berichten ein wenig Farbe zu verleihen, sollte diese Behauptung nicht überbewertet werden.

Es gibt ansonsten keine Anzeichen dafür, dass Domitian unter Neros Herrschaft aus der Rolle fiel. Sein Leben scheint vielmehr eintönig dahingeflossen zu sein, bis es mit Neros Ende eine jähe Wende erfuhr.

Domitian. Der römische Kaiser und seine Zeit

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