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Kiew/Ukraine, Babi-Yar-Schlucht | 29.09.1941, 17.55 h

Am Tag, als das Morden begann, wurde Nikolai 15. Als es zu Ende ging, war er zum Greis geworden.

Und das binnen einer Viertelstunde.

Es war kalt an diesem Abend, und der Wind, welcher über das Brachland in der Nähe der Friedhofsmauer fegte, ließ Nikolai Borodin frösteln. Dies hier war ein unwirtlicher Ort. Kein Platz zum Verweilen. Der Vorhof des Todes. Wäre es nach ihm gegangen, hätten Vater und er sich aus dem Staub gemacht. Wie so viele, die der Aufruf vom Vortag in Furcht und Schrecken versetzt hatte. Doch Vaters Wille war nun einmal Gesetz. Und dagegen kam er mit seinen 15 Jahren nicht an.

Der dunkelhaarige, schlaksige und in sich gekehrte Junge schüttelte den Kopf, wischte seine Nickelbrille am Hemdsärmel ab und setzte sie umständlich wieder auf. Menschen, so weit das Auge reichte. Tausende, wenn nicht gar Zehntausende, die zum Sammelpunkt strömten. Nikolai erschauderte. Dies alles hier war so unwirklich, so beklemmend, dass einem der Atem stockte. Wäre Vater nicht gewesen, dem es gar nicht schnell genug gehen konnte, hätte er auf der Stelle das Weite gesucht.

Doch dazu war es längst zu spät. Unter den Argusaugen der Miliz, die sie mit Hohn überschüttete, reihten sich der 15-jährige Gymnasiast und sein Vater in die Warteschlange ein. Der Ton war rau, hasserfüllt, und die ukrainischen Handlanger der SS trieben sie zur Eile an.

Gepäck abgeben – weiter.

Mäntel aus – weiter.

»Schuhe ausziehen – auf geht’s, Judenbastard, sonst mach ich dir Beine! Hosen runter – oder hörst du schlecht?«

Nikolai sah sich Hilfe suchend um. Und hielt entsetzt den Atem an.

Sein Vater wehrte sich. Und nicht nur das. Er gab dem Milizi­onär Kontra. Der wiederum, ein stiernackiger Schlägertyp, schien nur darauf gewartet zu haben, zückte den Gummiknüppel und drosch auf den 53-jährigen Rabbiner ein.

Nikolai war wie erstarrt. Er konnte es einfach nicht glauben. Niemand rührte einen Finger. Das konnte, das durfte einfach nicht sein. Obwohl seine Leidensgenossen Tausende und die Milizionäre lediglich Dutzende zählten, war Jitzchak Borodin, Rabbiner der Hyzalka-Synagoge, der Wut seiner Peiniger hilflos ausgeliefert.

Das galt auch für seinen Sohn. Denn in dem Moment, als er seinem Vater zu Hilfe eilen wollte, wurde Nikolai gepackt, zu Boden gerissen und getreten, dass ihm fast die Luft wegblieb.

Wie er es geschafft hatte, wieder auf die Beine zu kommen, wusste er hinterher nicht mehr. »Davai, davai!«, dröhnte es in seinen Ohren, und so rappelte sich Nikolai auf, tastete nach seiner Brille und stolperte davon. Wohin, war ihm anfangs gleichgültig, doch als er die Gewehr­salven hörte, die von den Wänden der nahen Schlucht widerhallten, traf es ihn wie der Blitz.

Nikolai Borodin, 15 Jahre, wohnhaft in der Schyljanska-­Straße, war ein aufgeweckter Junge. Und überdurchschnittlich intelligent. Und da dem so war, dämmerte ihm, was nun geschehen würde. Was ihn daran hinderte, sein Heil in der Flucht zu suchen, war allein die Tatsache, dass er sich ein derartiges Ausmaß an Barbarei nicht vorstellen konnte.

Das konnte, das durfte einfach nicht sein.

Nur Sekundenbruchteile später wurde er eines Besseren belehrt. »Keine Müdigkeit vorschützen!«, fuhr ihn die hohntriefende Stimme an, auf Deutsch, wie Nikolai feststellte. Doch der SS-Obersturmführer hatte sich den Falschen ausgesucht.

Nikolai blieb einfach stehen, setzte seine Brille auf und starrte den schwarz Uniformierten unverwandt an. Totenkopfmütze, SS-Runen, Pistole und eine Miene, aus der die personifizierte Niedertracht sprach – ein Mann zum Fürchten. Aber nicht für Nikolai. Er hatte nichts zu verlieren. Und so trat er gegenüber dem Uniformierten auch auf. »Warum tun Sie das?«, fragte er, während eine weitere Gewehrsalve durch die Schlucht hallte und sich mit dem Wehklagen seiner Landsleute, die an ihm vorbei in die Schlucht eskortiert wurden, vermischte.

Der SS-Obersturmführer stutzte, fing sich jedoch wieder und setzte ein Lächeln auf, das den passionierten Sadisten verriet. »Ein ukrainischer Untermensch, der Deutsch spricht!«, spottete er und zündete sich eine Zigarette an. »Welch eine Überraschung.«

»Zu Ihrer Information – meine Mutter ist Deutsche.«

»Rassenschande, aha.«

»Auch dann, wenn meine Eltern 1920 geheiratet haben?«

Wenn Nikolai gehofft hatte, der SS-Mann würde zur Pistole greifen, sah er sich getäuscht. Die Wolfsaugen unter den wie Unkraut sprießenden Brauen blitzten kurz auf, das war alles. Für den Moment jedenfalls. »Gerade dann, Hurenbankert, gerade dann!«, knurrte der SS-Mann, während er seinen Schulterriemen zurechtzurrte, die Zigarette austrat und so tat, als sei nichts gewesen. Danach zeigte er auf seine Schulterklappen. »Hast du überhaupt einen Schimmer, mit wem du es hier zu tun hast?«

»Mit einem Obersturmführer der SS«, antwortete Nikolai mit Blick auf die Schulterklappen der tadellos sitzenden Uniform.

»Und was will uns das sagen, Untermensch?«

Nikolai stöhnte innerlich auf. Herr, mach ein Ende, flog es ihm durch den Sinn.

Als könne er Gedanken lesen, packte ihn der Obersturmführer am Kragen, schlug ihm ins Gesicht und rammte ihm das Knie in die Magengrube. Mit Blut­geschmack im Mund brach Nikolai zusammen. Um ihn herum nichts als schemenhafte Gestalten, Gespenster im Laufschritt, die Hände hinter dem Kopf. »Meine Brille, meine Brille!«, ächzte Nikolai, während ihm Blut aus Mundwinkeln und Nase rann. Sein Kiefer tat höllisch weh, und obwohl er hart im Nehmen war, wurde ihm speiübel. »Wo in Gottes Namen ist meine …«

Die Antwort auf seine Frage, durch eine weitere Gewehrsalve untermalt, ließ nicht lange auf sich warten. »Da hast du deine Brille«, hörte er die Stimme des Obersturmführers sagen, während er auf allen vieren im Staub herumkroch. Kaum war sie verklungen, nahm er dieses Geräusch wahr. Ein Knacken, begleitet von splitterndem Glas. Ein Laut, der keinerlei Zweifel mehr offenließ. »Und gute Reise.«

Viel Muße, über diese drei Worte nachzugrübeln, blieb Nikolai nicht. Was nun geschah, lief wie im Zeitraffer ab, mit rasender, unwiderstehlicher Geschwindigkeit. Zuerst war da der Arm, der ihn emporriss und den Serpentinenweg in die Schlucht hinunterschleifte. Er gehörte zu einem hinkenden SS-Mann, der Nikolai wie ein Stück Vieh traktierte. Und dann weitere Gewehrsalven, gellende Schreie, inständiges Flehen. Kommandorufe, Flüche und jede Menge Fußtritte. Auch und gerade in seinem, Nikolai Borodins, Fall.

In Gedanken immer noch bei seiner Brille, taumelte der 15-Jährige voran. Weder imstande, etwas zu erkennen, noch dazu, etwas zu fühlen oder zu sagen. Außerstande, die Welt, seine Peiniger oder seine Glaubensbrüder, die sich widerstandslos zur Schlachtbank treiben ließen, zu verstehen.

Außerstande, überhaupt etwas zu verstehen.

Keine fünf Minuten später, am Rande der frisch ausgehobenen Grube, aus der noch vereinzeltes Wimmern drang, hatte es Nikolai Borodin geschafft. Sein Weg schien beendet, und das in nicht einmal 15 Minuten. Was fehlte, war ein Kommandoruf, eine Gewehrsalve und die immerwährende Dunkelheit, die auf das Krachen der Karabiner folgen würde.

Die Hände auf die Oberschenkel gepresst, kniete Nikolai am Boden, auf den Lippen ein Gebet, das Vater ihn gelehrt hatte. Wieso er auf die Idee kam, sich einfach in die Grube fallen zu lassen, wusste er hinterher nicht mehr, aber immerhin kam sie, und dann auch noch zur rechten Zeit.

Nämlich Sekundenbruchteile, bevor das Erschießungskommando auf die am Boden knienden Männer, Frauen und Kinder feuerte.

Und auf einen Greis namens Nikolai Borodin.

Wenig später, als sich der Obersturmführer über die Grube beugte, um sich von der Effektivität des Erschießungskommandos zu überzeugen, war der

15-Jährige unter einem Berg von Leichen begraben. Doch er blieb verschont. Zum einen, weil die Henker des Mordens für heute überdrüssig waren und es nicht für nötig hielten, ihre Opfer mit mehr als nur einer hauchdünnen Schicht Sand zu bedecken. Und zum anderen, weil er ein Bild zu fassen bekam, das aus der Brusttasche des Obersturmführers gerutscht war.

Glück im Unglück sozusagen.

Doch das sollte Nikolai Borodin, wohnhaft in der Schyljanska-Straße, erst viel später bewusst werden. Für den Augenblick, der ihm länger als ein Jahrhundert vorkam, hatte er genug damit zu tun, sich tot zu stellen, die Dunkelheit abzuwarten und in ihrem Schutz das Weite zu suchen.

Odessa-Komplott

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