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Berlin-Mitte, Neue Reichskanzlei | 20.04.1945, 19.30 h

Der Tag, an dem Heinrich Himmler seinen Führer zum letzten Mal sah, war der vierte Tag mit schönem Wetter in Folge. Und zugleich dessen Geburtstag. Für den Reichsführer-SS die Krönung eines rabenschwarzen Tages. Am Vormittag hatte es einen der schwersten Bombenangriffe des gesamten Krieges gegeben, und jetzt, wo es ans Eingemachte ging, kam die Nachricht, die Rote Armee habe die Vororte bereits erreicht. Deutlicher hätte sich der herannahende Untergang nicht ankündigen können.

Doch Heinrich Himmler, 44 Jahre, nur 1,71 Meter groß und kurzsichtig, hatte vorgesorgt. Er hatte einen Trumpf im Ärmel. Einen, von dem er glaubte, dass er stechen würde. Dass er stechen musste. So mir nichts, dir nichts abtreten, kam für den Herrn über die KZs, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hatte, nicht infrage. Dazu war sein Überlebenswille viel zu groß. Und seine Skrupellosigkeit, von der er einmal mehr Gebrauch zu machen gedachte.

Er würde retten, was zu retten war, sich den Alliierten als Mittelsmann andienen. Am Vorabend, an dem er mit Champagner auf den Führer angestoßen hatte, war der erste Schritt dazu getan worden. Und weitere würden zweifelsohne folgen. Immerhin, so sein Kalkül, waren Zehntausende von Juden immer noch in seiner Hand. Ein Pfund, mit dem sich wuchern ließ. Und das sich bestens dazu eignete, als generös und kompromissbereit dazustehen. Das heißt, falls die Alliierten mitspielen würden. Aber daran hegte Heinrich Himmler keinen Zweifel.

»Zeit, sich auf die Socken zu machen, was, Reichsführer?« Im Begriff, in seine gepanzerte Limousine Marke Mercedes Benz W 150 mit dem Nummerschild ›SS-1‹ zu steigen, blieb Himmler unverrichteter Dinge stehen. Nicht etwa, weil er übermäßig viel Zeit gehabt hätte, sondern weil er den Spott, der in der Stimme hinter ihm mitschwang, nicht so einfach auf sich sitzen lassen wollte. »Wer weiß, vielleicht schnappt die Falle ja schon in ein paar Stunden zu.«

»Zu Ihrer Information, Bormann –«, fuhr Himmler den stiernackigen, ihm in puncto Skrupellosigkeit zumindest ebenbürtigen Privatsekretär Hitlers an, »dies hier ist keine Flucht, sondern der Versuch, die Sache des Führers bis zum letzten Atemzug …«

»Und wozu dann die Eile?«, warf Bormann höhnisch ein, gänzlich unbeeindruckt von dem Höllenlärm, den der sowjetische Granathagel, die Kanonen der T-44-Panzer und die Stalinorgeln verursachten. »Sie wissen doch: Beim Endkampf um Berlin ist der Führer auf jeden Mann angewiesen.«

Himmler nahm seine Brille ab, rieb sie am Ärmel seines Ledermantels und setzte sie wieder auf. Dieser Bormann mit seiner vulgären Visage war ihm schon immer suspekt gewesen. Am heutigen Tage mehr denn je. »Mag sein«, gab er gelassen zurück, während sein Adjutant zum wiederholten Male auf die Uhr schaute. »Aber jeder ist doch am besten dort aufgehoben, wo er für die Sache des Führers am nützlichsten ist.«

»Oder die eigene«, kommentierte Bormann süffisant, ohne Himmler auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Und fügte hinzu: »Je nachdem.«

»Was soll das heißen?«, giftete Himmler und warf dem mit Hakenkreuzbinde und Parteiuniform bekleideten Reichsleiter wütende Blicke zu. »Schon mal davon gehört, dass mich der Führer den getreuen Heinrich genannt hat?«

»Umso wichtiger, Ihre Treue zum Führer einmal mehr unter Beweis zu stellen.«

»Und wie?«

»Indem Sie mir das da aushändigen«, ließ die Antwort von Hitlers Privatsekretär nicht lange auf sich warten, während er den Blick wie zufällig auf Himmlers Aktentasche richtete. »Damit nur ja nichts in falsche Hände gerät.«

Himmlers Griff um die Tasche verstärkte sich, und die Zornesader an seinem Hals schwoll an. Doch bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, kam ihm Hitlers braune Eminenz zuvor. »Befehl des Führers!«, schnarrte er, ohne sich an der erbosten Miene des Reichsführers im Geringsten zu stören. »Keinerlei Akten von Brisanz mehr hinaus aus der Reichskanzlei. Ab sofort.«

Wäre unweit der Reichskanzlei nicht gerade eine Katjuscha-Rakete detoniert, hätte Himmler seinem Kontrahenten vermutlich einen Fausthieb verpasst. »Haben Sie den Verstand verloren, Mann!«, brüllte er über das Krachen, Heulen und die dumpfen Detonationen hinweg, die mit jeder Minute näherkamen, in der er sich mit dem größten Speichellecker weit und breit herumschlagen musste. »Und überhaupt: Was glauben Sie eigentlich, wen Sie hier vor sich haben?«

Martin Bormann, ebenfalls 44, Reichsleiter und Sekretär des Führers, gab sich keine Mühe, mit seiner Antipathie hinterm Berg zu halten. »Einen, der den Führer in der Stunde der höchsten Not seinem Schicksal überlässt. Um es dezent auszudrücken.«

»Vorsicht, Bormann. Sie spielen mit dem Feuer.«

»Wenn das hier einer tut, dann Sie. Was glauben Sie, würde der Führer dazu sagen, wenn er erfährt, dass Sie sich gestern Abend mit einem Vertreter des Jüdischen Weltkongresses getroffen haben? Um quasi in allerletzter Minute noch ein bisschen auf lieb Kind zu machen. Mal ehrlich, Himmler: Glauben Sie wirklich, mit so was könnten Sie Ihren Kopf noch aus der Schlinge ziehen?«

Heinrich Himmler, Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei, Befehlshaber des Ersatzheeres und Innenminister des Deutschen Reiches, blieb die Luft weg. Derartiges war ihm schon lange nicht mehr untergekommen.

Und eine solche Unverfrorenheit auch nicht.

Wo hatte dieser Zuchtbulle bloß seine Informationen her?

»Ins Schwarze getroffen, stimmt’s?«, spöttelte Bormann, während Himmlers Adjutant den Motor demonstrativ aufheulen ließ. »Wusste ich’s doch, dass wir uns verstehen.«

»Und wenn nicht?«

»Dann, lieber Himmler, bleibt mir nichts anderes übrig, als den Führer von Ihren – gelinde gesagt – Eskapaden in Kenntnis zu setzen.«

»Dafür werde ich Sie zur Verantwortung ziehen, Bormann.«

»Lieber nicht!«, erwiderte der Reichsleiter barsch und wippte auf den Absätzen hin und her. »Und jetzt die Aktentasche, und zwar schnell.«

Himmler riss den Mund auf, um Bormann nach allen Regeln der Kunst zusammenzustauchen. Doch daraus wurde nichts. Die Einschläge und Detonationen wurden immer heftiger und hallten wie ein vielfältiges Echo im Ehrenhof wider. Just in dem Moment, als Himmler seinem Jähzorn Luft machen wollte, schlug in unmittelbarer Nähe eine Granate ein. Der Reichsadler über dem Eingang löste sich aus seiner Verankerung und zerbarst mit lautem Krachen auf den Stufen.

»Die Aktentasche, Reichsführer«, wiederholte der Reichsleiter mit tonloser Stimme, während sich Himmler von den Trümmerteilen, dem gespenstisch erleuchteten Hof und dem mit Einschusslöchern übersäten Portal nicht losreißen konnte. »Oder wollen Sie es tatsächlich darauf ankommen lassen?« Nein, das wollte der mit Abstand meistgefürchtete Scherge des NS-Regimes nicht. Er wollte nur eines: Überleben. Raus hier. Solange noch eine Chance bestand.

Und so konnte sich Martin Bormann, Hitlers braune Eminenz, jeden weiteren Kommentar sparen. Gerade einmal eine Viertelminute sollte vergehen, bis Himmler ihm seine Beute überlassen und sich auf den Rücksitz geworfen hatte, um anschließend mit quietschenden Reifen Richtung Wilhelmplatz zu verschwinden.

Martin Bormann hingegen nahm sich Zeit. Wieder zurück im Bunker, zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, warf die Aktentasche auf den Tisch und schloss hinter sich ab. Pech gehabt!, schoss es ihm durch den Kopf, als er den Inhalt der Mappe genauer unter die Lupe nahm. Depeschen, Notizen und jede Menge Krimskrams. Schon komisch, was dieser Brillen-Heini so alles mit sich rumschleppte. Von konspirativem Material keine Spur. Bormann fluchte. Mit einer derartigen Ausbeute brauchte er bei Hitler gar nicht erst aufzukreuzen.

Doch dann, als er den Inhalt von Himmlers Tasche sorgsam durchforstet hatte, fiel Bormanns Blick auf die Seitentasche, aus der die Ecke einer schwarzen Ledermappe herausragte. Bormanns Miene hellte sich auf, und sein Jähzorn verflog im Nu.

Im fahlen Licht der Lampe, die der Detonationen wegen immer heftiger hin und her schaukelte, muteten die SS-Runen auf dem Einband wie ein Menetekel an, und Bormann musste sich überwinden, die Mappe aufzuklappen. Doch er wäre nicht der gewesen, für den man ihn hielt, hätte er dieser Versuchung widerstehen können.

Er sollte es nicht bereuen.

Die Akte mit der Aufschrift ›Gruppe W 45‹, das erste einer Reihe streng geheimer Dokumente, war ein wahrer Schatz, und während Bormann sie in seinem Schreibtisch verschwinden ließ, brach ein Lachen aus seinem Mund hervor.

Es sollte ihm jedoch vergehen.

Schneller, als er es sich hatte vorstellen können.

Odessa-Komplott

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