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Lehrter Bahnhof, britischer Sektor | 09.45 h

Man musste eine Menge Fantasie aufbieten, um in der ausgebrannten Ruine am Spreebogen den einstigen Berliner Vorzeigebahnhof zu erkennen. Anstelle der Glasfassade gähnte ein leerer Schlund, und von der Halle, dem einstigen Prunkstück, war nur noch das Stahlgerippe übrig. Ein Eindruck, wie er trostloser nicht hätte sein können.

Eins stand jedoch fest: Von Ruinen, Trümmerbergen und Bombenkratern durfte er sich nicht unterkriegen lassen. Und vom Kohldampfschieben auch nicht. Sonst hätte er sich ja gleich eine Kugel verpassen können. Sydow steckte sich seine letzte Lucky Strike an und sog das Aroma genüsslich ein. Obwohl der Krieg der Vergangenheit angehörte, war er immer noch allgegenwärtig. Damit musste er leben. Wie die übrigen, gut drei Millionen Berliner auch. Kaum etwas zu beißen, abgelegte Klamotten, stundenweise Strom und Gas – noch lange kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken.

Ruinen hin oder her.

Begleitet vom Lärm einer MiG-9, die im Tiefflug über den zerstörten Reichstag donnerte, zwängte sich der knapp 1,90 Meter große Kriminalhauptkommissar durch den Pulk der Pendler, Schwarzhändler und Stadtstreicher, die sich vor dem Hauptportal herumdrückten, und betrat die weitläufige Bahnhofshalle. »Na, Sydow – auch schon da?«, rief ihm Bechtel, Fotograf bei der Spurensicherung, schon von Weitem zu. »Wohl von der schnellen Truppe, was?«

»Klar doch«, antwortete Sydow, vergrub die Hände in den Taschen und rang sich ein Lächeln ab. Es gab Tage, da konnte einem der agile, stets gut aufgelegte Kugelblitz mit seinem Gewusel auf den Wecker gehen. Angesichts der Stimmung, in der er sich befand, kam ihm seine flapsige Art jedoch wie gerufen. »Und du, rasender Reporter – auf dem Weg ins Präsidium?«

»Haarscharf kombiniert«, erwiderte Bechtel mit todernster Miene. »Und weißt du auch, warum? Reiner Selbsterhaltungstrieb. Oder Schiss vor einem gewissen Tom Sydow. Komischer Patron.« Bechtel, exakt so groß wie sein berühmtes Vorbild, setzte sein Heinz-Rühmann-Grinsen auf. »Der hätte die Fotos nämlich am liebsten bereits vor dem Mord.«

»Sehr witzig, Kurt.« Sydow zog an seiner Lucky Strike. »Im Ernst: schon irgendwelche Erkenntnisse?«

Ein Schatten legte sich über Bechtels Gesicht. »Dein Job«, antwortete er gedämpft. »Unter uns: Eine derart übel zugerichtete Leiche habe ich seit Langem nicht mehr gesehen.«

»So schlimm?«

»Schlimmer, als es sich Mylord vorstellen können.« Bechtel pausierte und sah Sydow fragend an. »Haste vielleicht eine Fluppe für …«

»Meine letzte, Kurt. Bedauerlicherweise. Sonst noch was?«

Bechtel zuckte die Achseln. »Weiblich, blond, rotes Kleid, Stöckelschuhe, knapp 30 – am besten, du schaust sie dir mal an, Tom.«

»Kann’s kaum erwarten. Und die Fotos?«

»Siehst du!«, rief Bechtel mit gespielter Entrüstung aus. »Wenn dieser Sydow kein Sklaventreiber ist, will ich doch glatt Josef Stalin …«

»Bitte nicht der, Kurt.«

»Einverstanden, Mylord. Spaß beiseite: um zehn im Präsidium – okay?«

»Nichts wie ran, Held der Arbeit. Oder ab nach Sibirien.«

»Dann doch lieber in die Dunkelkammer«, gab Bechtel schlagfertig zurück, tippte mit dem Zeigefinger an die Hutkrempe und trollte sich. »Mach’s gut, Tom. Und Kopf hoch!«

»Du auch, Kurt. Bis nachher«, rief ihm Sydow hinterher, drehte sich um und wandte sich den Gleisen zu. Außer einer Handvoll Reisender, die einem Vorortzug entstiegen, herrschte nicht übermäßig viel Betrieb, weshalb es Sydow nicht schwerfiel, seinen Kollegen Krokowski von der Spurensicherung unter dem Schild mit der Aufschrift ›Gleis II‹ zu entdecken.

»Guten Morgen, Herr Kriminalhauptkommissar von Sydow«, lautete die Begrüßung des gerade einmal 20-jährigen Strebertyps aus Heiligensee.

»Den Kriminalhauptkommissar können Sie sich sparen, Krokowski, und das von sowieso!«, entgegnete Sydow, dem das Oberprimanergetue des Kriminalassistenten in spe gewaltig auf den Wecker ging. So was von übereifrig, devot und effizient hatte die Welt noch nicht gesehen. Im Stillen fragte er sich, wie lange es noch dauern würde, bis diese Witzfigur in Knickerbockern Polizeipräsident werden würde. Bis zu einer mäßig gelungenen Kopie von Sherlock Holmes hatte es Krokowski ja immerhin geschafft. »Kann es sein, dass ich Ihnen das schon hundertmal gesagt habe?«

Krokowski fummelte an seiner Fliege Marke Theo Lingen herum und näselte: »Wie der Herr Kriminal… äh … wie Sie wünschen, Herr Sydow«, stammelte er, machte einen Bückling und fügte rasch hinzu: »Wenn Sie mir dann wohl bitte folgen würden, Herr Krimi…«

»Mit Vergnügen, Herr Kriminalassistent zur Anstellung.«

Als Krokowski den Zinnsarg öffnete, in dem der Leichnam lag, kam es Sydow fast hoch. Die Tote sah schlimmer aus als befürchtet. Schwer vorstellbar, dass dieser Torso einmal ein Mensch gewesen war. Und doch war dem so. Dank Theo Lingen dem Zweiten, der zwei Schupos angefordert hatte, um Gaffer auf Distanz zu halten, war er wenigstens ungestört.

Unter den gegebenen Umständen das einzig Wahre.

Tom Sydow schnappte nach Luft. Wenn jemand so viel hinter sich hatte wie er, gab es eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Entweder man war ein Nervenbündel oder durch nichts mehr zu erschüttern. Obwohl er sich der letzteren Spezies zurechnete, wandte Sydow den Blick schnell wieder ab. So etwas war ihm bis jetzt noch nicht untergekommen. Keine Frage. Um diesen Anblick zu ertragen, musste man verdammt hartgesotten sein.

Oder jede Menge Glimmstängel parat haben.

Da er damit jedoch nicht aufwarten konnte, warf Sydow seine Kippe achtlos auf das Gleis, beugte das Knie und betrachtete den Leichnam aus der Nähe. »Mannomann«, ächzte er, während sein Magen spürbar rebellierte. »Fundort?«

»Auf den Gleisen unterhalb der Invalidenstraße. In etwa 100 Meter von hier.« Für seine Verhältnisse hörte sich Krokowski ausgesprochen geknickt an.

»Überfahren?«

Krokowski nickte und schlug seinen Notizblock auf. »Von einer Rangierlok«, antwortete er, heilfroh, sich ablenken zu können. »Beim Lokführer handelt es sich um einen gewissen Ernst Pawelka«, sprudelte es aus ihm hervor. »Zurzeit wohnhaft in Berlin-Kreuzberg, Blücher­straße …«

»Wo steckt denn eigentlich der Leichenfledderer?«, würgte Sydow den Redeschwall von Theo dem Zweiten brüsk ab.

»Doktor Peters?«, gab Krokowski pikiert zurück, ohne jeden Sinn für schwarzen Humor. »Kann noch dauern. In der Pathologie herrscht anscheinend Hochbetrieb.«

»Na schön«, brummte Sydow, klappte den Sargdeckel zu und rappelte sich mühsam auf. »Dann tun Sie mir den Gefallen, Krokowski, und schaffen die Tote ins Leichenschauhaus. Die beiden Schupos da vorne können ja mit anpacken.«

»Ganz wie Sie wollen«, nörgelte Krokowski, winkte die Polizisten heran und gab ihnen ausführliche Instruktionen. Nicht eben begeistert ließen die Schupos den Redeschwall über sich ergehen, wuchteten den Sarg hoch und trugen ihn weg. Krokowski folgte ihnen auf dem Fuß.

»Und dieser Pawelka?«, rief ihm Sydow hinterher.

»Einen kurzen Moment, bitte. Ich gebe ihm Bescheid.«

Der Mann, von dem die Rede war, saß mit hängendem Kopf auf einem Gepäckwagen und starrte Löcher in die Luft. Er war noch größer als Sydow, mindestens 50 Kilo schwerer und trug einen schwarzen Drillich­anzug mit der Aufschrift ›DR‹. Auf Krokowskis Bitte, sich zu Sydow zu begeben, zeigte er zunächst keinerlei Reaktion, blickte dann jedoch auf und setzte sich in Bewegung. Bis er die 20 Meter Distanz hinter sich gebracht hatte, verging eine halbe Ewigkeit, und selbst dann, als er Sydow gegenübertrat, schien er mit den Gedanken woanders zu sein.

»Ernst Pawelka, nehme ich an?«, fragte Sydow den rußgeschwärzten Koloss, allem Anschein nach total von der Rolle.

Der Angesprochene nickte.

»Tom Sydow, Kripo Berlin. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, hätte ich noch ein paar Fragen.«

Mit einer Geste, die sowohl Verlegenheit als auch Zögern ausdrückte, fuhr Pawelka mit dem Daumen über das unrasierte Kinn. Auf eine Antwort wartete der Kommissar indes vergebens.

»Sehr schön.« Sydow, nicht einer der Geduldigsten, ließ sich davon jedoch nicht anstecken, setzte sein Strahle­mannlächeln auf und sagte: »Meinem Kollegen von der Spurensicherung zufolge handelt es sich bei Ihnen um denjenigen, der … der den Leichnam gefunden hat.« Sydow ließ ein paar Sekunden verstreichen, bevor er hinzufügte: »Richtig?«

»Gefunden ist vielleicht nicht das richtige Wort«, rang sich Pawelka endlich zu einer Antwort durch. »Überrollt vielleicht schon eher.«

»Hm.« Um Pawelka, der offenbar einen Heidenrespekt vor ihm hatte, nicht unnötig unter Druck zu setzen, legte Sydow eine erneute Kunstpause ein. Woraufhin er ergänzte: »Scheißgefühl, stimmt’s?«

Der Koloss dankte es ihm mit einem gequälten Lächeln. »Kann man wohl sagen«, flüsterte er, die Augen auf die Stelle gerichtet, wo die junge Frau unter die Lok geraten war. »Und dann noch aus heiterem Himmel.«

Froh, einen Aufhänger gefunden zu haben, tat es Sydow seinem Gesprächspartner gleich. Im Lärm einer Lautsprecherdurchsage, die sich auf den Vorortzug gegenüber bezog, ging seine Frage unter, weshalb er gezwungen war, sie kurze Zeit später zu wiederholen. »Aus heiterem Himmel?«, entgegnete er, was nicht wie eine Frage, sondern wie die Wiederholung von Pawelkas Äußerung klang.

»So ziemlich.«

»So ziemlich?«, echote Sydow, dem diese Verhörmethode nicht übermäßig behagte. An des Pudels Kern würde er früher oder später rühren müssen, ungeachtet seines Mitgefühls. »Wie darf ich das verstehen?«

Das personifizierte Elend namens Pawelka dachte angestrengt nach, kaum imstande, den Blick von der knapp 100 Meter entfernten Stelle abzuwenden. »Weil sie nicht runtergesprungen ist!«, brach es plötzlich aus ihm hervor.

Sydow, der ahnte, worauf das Gespräch hinauslaufen würde, gab sich dennoch betont gelassen. Schon wieder eine Frage, die keine ist, dachte er verstimmt. »Das bedeutet, sie wurde hinuntergestoßen.«

Der Koloss nickte. »Von einem Kerl mit Schmiss und Bürstenschnitt. Langer Lulatsch, so um die 30.«

»Bei lebendigem Leibe?«

»Lebendiger ging’s gar nicht«, taute Pawelka langsam auf. »Ich war vielleicht noch 50 Meter entfernt, da ging da droben auf der Invalidenstraße das Gerangel los.«

»Das heißt, Täter und Opfer haben sich in die Haare gekriegt?«

»Harmlos gesagt, Herr Kommissar. Aufeinander losgegangen sind die, da war alles zu spät. Wie Max Schmeling und Joe Louis.«

»Irgendetwas, das Ihnen besonders …?«, hakte Sydow nach, während der Rest seiner Frage vom Pfiff der Lokomotive auf dem Bahnsteig gegenüber übertönt wurde. Die Abfahrt des Zuges in Richtung Moabit stand offenbar kurz bevor.

Doch Pawelka verstand ihn auch so. »Schon möglich«, fuhr er nach kurzer Bedenkzeit fort. »Kurz bevor die Keilerei so richtig losging, hat die Frau diesem Kerl irgendwas in die Hand gedrückt.«

»Und was?«

Pawelka wog bedächtig das Haupt, nahm seine Schirmmütze ab und starrte das Futter an, als könne er darauf die Antwort ablesen. »Sah mir nach einem Brief aus. Oder einem Formular. Oder einem Stoß Blätter.« Der Koloss kratzte sich nachdenklich hinterm Ohr. »Bürokram jedenfalls.«

»Sonst noch was von Bedeutung?«

»Na ja, wie man’s nimmt.« Zum ersten Mal während der Vernehmung sah Pawelka den Kommissar richtig an, begleitet von einem weiteren Pfiff der Lokomotive.

Sydow zog die Brauen hoch, sagte jedoch nichts.

»Es dreht sich um die Frau, Herr Kommissar«, tastete sich Pawelka langsam vorwärts, während seine Pranken die Schirmmütze krampfartig umschlossen. »An der ist mir nämlich vor allem eins aufgefallen.«

»Und das wäre?«

»Dass es eine Nutte war.«

»Eine was?«

»Eine von den Barmherzigen Schwestern, Herr Kommissar«, trumpfte Pawelka merklich auf. »An denen herrscht ja wohl derzeit kein Mangel.«

In Gedanken bei der Kleidung der Toten, war Sydow plötzlich nachdenklich geworden. »Und woher wollen Sie das wissen?«

»Zum einen, weil man hier mit der Zeit einen Blick für so was bekommt. Und außerdem kenne ich sie.« Pawelka sah Sydow fragend an. »Hätten Sie vielleicht mal einen Glimmstängel …«

»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Also: Woher ist Ihnen die Dame bekannt?«

»Aus der Bahnhofskneipe.«

»Schon mal mit ihr zu tun gehabt?«

»Ich? Wo denken Sie hin, Herr Kommissar!«, entrüstete sich der Koloss. »Da bräuchte ich mich nicht mehr nach Hause zu trauen.«

Sydow, der sich ernsthaft fragte, welchen Hausdrachen Pawelka sich angelacht hatte, trat bis auf Armlänge an ihn heran. »Und ihr Name?«

»Lili Marleen.«

»Hören Sie zu, Pawelka, wenn Sie mich auf den Arm …«

»Ihr Spitzname, Herr Kommissar«, warf der Koloss be­schwichtigend ein, übertönt vom Geräusch des anfahrenden

Zuges auf Gleis eins. »Für unsereins mit Sicherheit eine Nummer zu groß. Ami-Nutte. Ohne eine Stange Camel lief da gar nichts. Was Besseres sozusagen.«

»Und wo hat sie ge…« Weiter kam Sydow nicht, und hätte er nicht jenes Quäntchen Instinkt besessen, dem er bereits eine Menge zu verdanken gehabt hatte, wäre das Leben von Ernst Pawelka aus Kreuzberg keinen Pfifferling mehr wert gewesen. Dass der blonde Hüne am Abteilfenster mit seiner Luger Parabellum umgehen konnte, merkte man ihm an. Die Andeutung eines Lächelns im Gesicht, zielte er auf Pawelkas Hinterkopf, seiner Sache offenbar sicher. Doch er hatte nicht mit einem gewissen Tom Sydow gerechnet. Der nämlich schrie laut: »Runter!«, stürzte sich auf den Koloss und riss den Zweieinhalb-Zentner-Mann zu Boden. Der Schuss ging ins Leere, der zweite auch, und ehe der Kahlkopf sein Ziel wieder fixieren konnte, hatte der Zug den Bahnsteig bereits passiert.

Sichtlich unter Schock, rappelte sich Pawelka auf. »Und … und wer war das, Herr Kommissar?«, stammelte er.

Die Waffe im Anschlag, ließ Sydow sie wieder im Halfter verschwinden, trat an die Bahnsteigkante und sah dem Zug hinterher. »Jemand, dem Sie so schnell nicht wieder über den Weg laufen sollten«, sprach er in gedämpftem Ton. »Und der offenbar eine Menge zu verlieren hat.«

Odessa-Komplott

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