Читать книгу Ich bin ein Berliner - Uwe Siegfried Drogoin - Страница 5
Frühjahr 1964
ОглавлениеSchwermut lag bleiern über dem Land und der nahende Frühling verschleierte die Nacht mit dichtem Nebel. Die innerdeutsche Grenze lag drohend und still inmitten der breiten Schneise, die man im Herbst1961 willkürlich in den Wald geschlagen und der Natur und dem Land tiefe Wunden beigebracht hatte. Dabei hatte der Staatsratsvorsitzende Ulbricht noch wenige Wochen vor dem 13. August `61 lauthals verkündet:
„Es hat niemand die Absicht eine Mauer zu errichten“.
Nun war sie zwischen den beiden Teilen Berlins doch gebaut worden und die Grenze der DDR zur Bundesrepublik Deutschland hatte man durch eine breite Todeszone hermetisch abgeriegelt. Die Arbeiter- und Bauernmacht ergriff drastische Maßnahmen, damit der ständig zunehmende Strom an Flüchtlingen vom armen Osten in den reichen Westen nicht das Land an Menschen ausblutete.Überall auf dieser Schneise leuchteten noch hell die Stümpfe der gnadenlos gefällten Bäume aus dem Boden. Von eilig aus vorgefertigten Betonplatten errichteten Wachtürmen aus konnte man bei klarer Sicht das Grenzgelände nach beiden Seiten hin für gut einen Kilometer einsehen. Die Türme standen Unheil verkündend in angemessenen Abständen, wie Fremdköper in der Natur herum und sollten den Grenzsoldaten Schutz vor der Witterung und vor allem einen besserten Überblick über das Gelände ermöglichen.Gelegentlich verirrte sich ein Reh im Gestrüpp des ausgelegten Stacheldrahtes, der später für einen hohen, schwer überwindbaren Zaun, bereitgelegt worden war. Die Wetterprognosen versprachen zwar in der nächsten Zeit sonnige Tage, doch davon war augenblicklich noch nicht viel zu spüren und die Kälte durchdrang die wetterfeste Tarnkleidung. Zwei Grenzer liefen gemächlich ihren Wachbereich ab und unterhielten sich leise. Sie wussten, dass der Nebel die Stimmen weiter tragen konnte, als ihnen lieb war. Ralf Lewandowski, der Ältere von beiden, stammte aus dem Erzgebirge und Rico Lang, der jüngere, kam aus Freital bei Dresden. Hier im Berliner Raum nahm man gerne junge Rekruten aus Sachsen, weil man bei ihnen im Verwandtenoder Bekanntenkreis weniger Westeinflüsse zu befürchten hatte. Rico war mit dem achtzehnten Lebensjahr zum aktiven Wehrdienst eingezogen und gleich nach der Grundausbildung zur Grenzkompanie eingeteilt worden. In der Grundausbildung hatte man ihn vor dem Klassenfeind gewarnt und ihm eingeschärft, dass es eine Ehre sei sein Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Die Grenztruppen bekamen auch einen besseren Sold, als die normalen „Sandlatscher“, so nannte man die Motschützen scherzhaft in der Armee. Beide Männer hatten die Aufgabe Doppelschleife zu laufen und zu zweit den zugewiesenen Grenzabschnitt lückenlos zu überwachen. Auf der anderen Seite der Grenze lag Westberlin, die Frontstadt des Westens, die mit Rundfunk und Fernsehen weit in die DDR einstrahlen konnte und rund um die Uhr Informationen in den Osten sendete. „Hast du gestern das Fußballspiel Eintracht Frankfurt gegen Herta BSC gehört“? wollte der Ältere wissen. „Nein, für die Bundesliga interessiere ich mich nicht so sehr. Ich bin mehr Dynamo Dresden Fan“ entgegnete der Junge, der nicht wusste, ob ihn sein Kamerad für den Staatssicherheitsdienst aushorchen wollte. Halt, da war doch etwas? Beide hielten abrupt inne und erschauerten, denn ein deutliches Knacken ließ sie aufhorchen. In etwa sechzig Metern tauchte verschwommen eine Person aus dem Nebel auf, die sich leicht gebeugt den Grenzanlagen näherte. Noch ehe Rico Lang etwas sagen konnte, schrie Ralf Lewandowski: „Halt, stehen bleiben“! und gleich darauf: „Stehen bleiben, oder ich schieße“. Im nächsten Augenblick peitschten Schüsse durch die Nacht. Dann war es gespenstisch still. Die Person hielt augenblicklich inne und fiel langsam nach der Seite um, so dass die beiden herbeieilenden Grenzer sein Gesicht sehen konnten. „Mein Gott“, murmelte Lewandowki, „der sieht mir nicht aus, wie ein Klassenfeind. Der ist ja noch ein halbes Kind“. Beide blickten in das schmerzverzerrte Gesicht eines jungen Mannes. „Sag jetzt nichts, was dir später leid tun könnte“, schnurrte Lewandowski aufgewühlt den Grenzverletzer an, der ihm wütend entgegen gezischt hatte:„Ihr Schweine habt mich erschossen“. Blut quoll aus seiner linken Schulter. Der rote Fleck auf der leichten Winterjacke wurde zusehends größer, dann verlor der Getroffene das Bewusstsein. Rico wurden die Knie weich. Er jammerte: „Du hast ihn erschossen, du hast ihn erschossen. Musstest du gleich scharf schießen“? Das war sein erster Fall einer Festnahme und er stellte sich vor, was wäre, wenn er der Flüchtling gewesen wäre? Nein, lieber nicht nachdenken, der Fremde wäre ohnehin im Stacheldraht hängen geblieben und dann wäre es richtig schlimm für ihn gekommen.Vielleicht wäre er auch auf eine Mine getreten, dann ist es so schon besser und wir konnten ihn von seinem Vorhaben abhalten. Solche Grenzverletzungen mussten unverzüglich telefonisch an die vorgesetzte Dienststelle gemeldet werden. Lewandowski eilte zum Telefon und meldete mit bewegter Stimme den Vorfall. Er bemühte sich um einen militärisch sachlichen Ton: „Eine erwachsene männliche Person wurde durch Schüsse am Verlassen der Republik gehindert und dabei schwer verletzt“. „Es besteht Lebensgefahr“, fügte er mit trockener Kehle hinzu. Die Stimme versagte ihm den Dienst.Eine halbe Stunde später hielt ein Militärjeep russischer Bauart vor dem Wachturm. Der Diensthabende Offizier und ein Militärarzt eilten geradewegs in das Zimmer, in welches die beiden Grenzer den Fremden getragen hatten. Er lag auf einer Pritsche und war noch immer ohne Besinnung. Der Militärarzt untersuchte den Verletzten. Der Puls war zwar schwach, doch der Mann lebte noch. „Er muss sofort operiert werden, sonst stirbt er“, entschied der Arzt. Der Offizier forderte über Telefon mit der höchsten Dringlichkeit einen Hubschrauber an. Als die Sonne hoch am Himmel stand, fiel ein metallischer Gegenstand dumpf klirrend in die Nierenschale auf dem Operationstisch.Die Chirurgen in der Charité` hatten unter Aufbietung aller ihrer Fähigkeiten die Kugel aus der Lunge des jungen Mannes entfernt und dabei festgestellt, dass einige Sehnen und Muskeln stark in Mitleidenschaft gezogen wurden. Der Chefarzt schnaufte wütend: „Das wäre beinahe schief gegangen. Da hat sich wieder mal einer einen fetten Orden verdient“. Als er den Mundschutz abgenommen hatte, wischte er sich den Schweiß von der Stirn und ärgerte sich über den sinnlosen Schließbefehl seiner Regierung.Trotzdem auch er der Einheitspartei angehörte, war er mit diesen Praktiken an der Grenze nicht einverstanden.Im Stab der Grenztruppen hatte man inzwischen die Personalien des Mannes aufgenommen, die bei ihm gefunden wurden. Vorsorglich wurden die Eltern informiert, dass ihr Sohn, als er im Begriff war die Republik zu verlassen, durch Schüsse lebensgefährlich verletzt wurde. Routinemäßig wurde eine Akte mit folgenden Personalien angelegt:
Name: Nagel Thorben
Geboren: am 9. Februar 1943 in Falun, Schweden
Adresse: Berlin Köpenick
Vater: Nagel Alfred
Mutter: Nagel Hilda, geborene Andersson,
Schwedin
Festnahme: am 14. März 1964
Straftatbestand: versuchte Republikflucht
Gesundheitszustand: schwere Schulterverletzung durch einen Schuss aus einer automatischen Waffe.
Von nun an wurde ein präzise arbeitender Staatsapparat in Gang gesetzt, der die Strafverfolgung des Grenzverletzers zur Folge haben sollte. Als Thorben aus der Narkose aufwachte, fragt er sich, wo bin ich? „wie komme ich hier her? wie sollte es nun weiter gehen? Würde er sein geliebtes Mädchen wohl jemals wiedersehen“? Er empfand tiefe Trauer und Niedergeschlagenheit, weil seine Lebensträume in einer Nacht wie ein Luftballon zerplatzt waren. Eins war ihm nun sonnenklar: es würde nun nichts mehr so sein, wie es war.