Читать книгу Ich bin ein Berliner - Uwe Siegfried Drogoin - Страница 6
Wie alles begann
ОглавлениеAnfang September des Jahres 1935 war im Berliner Stadtteil Tempelhof schon wieder das geschäftige Treiben der Großstadt im vollen Gange. Die Urlaubszeit hatte nur eine kurze Atempause gewährt. Die Schrebergärten wurden nur noch an den Wochenenden angefahren und wer sich eine Reise an Nord- oder Ostsee hatte leisten können, war wieder in der Stadt eingetroffen. Der Sommer neigte sich langsam dem Ende zu und in manchen Nächten lag schon leichter Nebel über den Wiesen der Stadt. Es war ein schöner Sommer gewesen und jeder empfand ein bisschen Melancholie bei dem Gedanken, dass nun bald die kältere Jahreszeit beginnen würde. Der erste Tag des neuen Schuljahres im Schiller - Gymnasium war gekommen. Die Lehranstalt hatte nur Jungenklassen. Das Mädchengymnasium befand sich streng getrennt in einer Nebenstraße, damit die Schüler nicht durch die Begegnung mit dem anderen Geschlecht vom Lernen abgehalten wurden. Das Schulgebäude, ein Bau aus den Gründerjahren Berlins, war mit seinen schönen roten Backsteinen, hohen hellen Klassenzimmern und großen, schön geschwungenen Fenstern wie ein großes „U“ angelegt. In der Mitte dieses Gebäudekomplexes befand sich der Schulhof mit einigen weit ausladenden Kastanienbäumen, deren Blätter schon teilweise gelbe bis braune Flecken hatten und die allgemeine Laubfärbung ankündigten. Nach den Sommerferien sollte die Klasse 12b die letzte Etappe bis zum Abitur zurücklegen. Bevor der Schulbetrieb wieder einsetzte, fanden sich alle Schüler auf dem Hof vor der Schule ein und warteten, bis das Vorklingeln ertönte. Zurückblickend wurde ausgetauscht, was jeder in den großen Ferien, die in jedem Falle zu kurz waren, erlebt hatte. Und eigentlich war man auch froh, dass die Tage wieder geordnet zugingen und der untätige Urlaubstrott ein Ende hatte. Der Schulhof war in einzelne Segmente unterteilt und jede Klasse hatte ihren angestammten Stellplatz. An normalen Unterrichtstagen gingen die Schüler zu Beginn der großen Pausen im Gänsemarsch auf den Schulhof hinaus und hielten sich an ihren zugeordneten Plätzen auf. Diese Ordnung hatte den Vorteil, dass die große Zahl von Schülern von der Schulleitung perfekt beobachtet und kontrolliert werden konnte. Harald, ein neuer Schüler, wartete etwas abseits vom Standort seiner zukünftigen Klasse 12b. Er sollte in diesem Jahr neu hinzukommen, hielt sich aber noch zurück, bis das Klingelzeichen die Schüler, wie in jedem Jahr, am ersten Schultag zur Eröffnungsfeier in die Aula rief. Die Aula befand sich in der ersten Etage direkt über der Turnhalle als schöner Festsaal mit einem flexiblen Stuhlbestand und einer kleinen Bühne. Auf der linken Seite der Bühne war ein Rednerpult aufgestellt, welches an der Vorderseite das Schulwappen trug. Rechts daneben saßen die Mitglieder der Schulleitung an einem langen Tisch. Vor dem Pult war ein Fahnenständer auf dem Fußboden befestigt, bei dem sowohl die Reichsals auch die Berliner Flagge eingesteckt waren. Nachdem sich alle Schüler laut klappernd und schwatzend auf ihren Plätzen niedergelassen hatten, trat der Direktor, Herr Dr. Scholz, an das Pult: „ Meine Herren, ich bitte sie um Disziplin und Aufmerksamkeit, denn bei allem Verständnis für ihre Wiedersehensfreude mit ihren Klassenkameraden und der Schule wollen wir das neue Schuljahr beginnen. Ich begrüße zuerst die neuen Klassen mit all ihren hoffnungsvollen Talenten und nicht zuletzt auch die Alteingesessenen“. Er erläuterte traditionell die straffe Schulordnung und versuchte die heranwachsenden jungen Männer dafür zu motivieren für sich und ihr Vaterland im Unterricht beste Ergebnisse zu erzielen. „Sie sind die Zukunft unseres Reiches und ich erwarte von ihnen, dass sie sich dieser Verantwortung bewusst stellen. Geben sie ihr Bestes, damit unser Volk und unser Führer stolz auf sie sein können“. In dieser Schule arbeiteten mehrere Lehrer, die den Schülern eine hohe Lernmotivation vermitteln konnten. Dadurch wurde im Maßstab der Reichshauptstadt ein überdurchschnittlich hohes Wissensniveau gehalten. Nach der großen Ansprache gingen die Schüler geordnet in ihre Klassenräume.Als Harald in das Klassenzimmer kam, nahm zunächst keiner Notiz von seiner Anwesenheit, bis der Klassenlehrer, Herr Neumann, in den Raum trat und den Neuen vorstellte: „Das ist ab heute euer neuer Mitschüler Harald Eisenstein“. Zu Harald gewandt wünschte er: „Viel Erfolg und gutes Gelingen in der letzten Klasse. Setzen sie sich erst einmal auf die hintere Reihe. Alfred sie, als Klassensprecher, werden Harald nachher einen Platz zuweisen“. Damit war das Organisatorische zur Einführung des Neuen abgeschlossen. Alfred, der Klassenprimus der Zwölften, galt als hoch begabt, hatte ausgezeichnete Noten und galt als der körperlich Stärkste unter den Jungen. Als Klassensprecher vertrat er die Klasse nach außen. Nach innen richteten sich alle nach seiner Meinung. Die Klasse war ein intelligentes Rudel und Alfred der Leitwolf.
Harald Eisenstein hatte eine lange Krankheit hinter sich. Die Ärzte hatten den Eltern geraten, die unterbrochene Klassenstufe noch einmal zu beginnen, damit der Anschluss an den anspruchsvollen Lehrstoff bis zum Abitur nicht zu schwer würde. Herr Neumann verkündete den Stundenplan und ermahnte alle noch einmal ihr Bestes zu geben, damit bei den Abiturprüfungen gute Ergebnisse erzielt werden konnten. „Dass alle das Ziel schaffen werden, steht für mich außer Frage“, betonte er, „doch sie sollen es auch mit guten Ergebnissen abschließen“. Er kannte seine Klasse gut und traute ihnen eine Menge zu. In der Horde Jungen, wo alle starke Persönlichkeiten sein wollten, musste jeder täglich den Rang seiner Popularität neu erkämpfen. So wurde Harald gleich am ersten Tag auf die Probe gestellt. „Hast du Kraft“? wollten die Mitschüler wissen. Auf alle Fälle war nun eine neue Rangverteilung fällig. Der Neuling, mit sympathisch weichen Gesichtszügen und einer schlanken Figur konnte doch, vom ersten Eindruck her, in der internen Hierarchie der Jungen nur auf den hinteren Plätzen landen. So forderte ihn der ständige Herausforderer und Rivale Alfreds, Georg auf: „Wenn du testen willst, welchen Platz du künftig in der Klasse einnehmen willst, sollten wir unsere Kräfte per Armhebel messen“. Nach anfänglichem Zögern willigte Harald ein, er wollte ja nicht als Schlappschwanz angesehen werden. Die anderen Jungen waren freudig gespannt auf den Kampf und richteten sofort in der grossen Pause eine Schulbank her. Da war gleich zu Schulbeginn richtig etwas los. „Wie wird sich der Neue einordnen lassen“? lautete die spannende Frage. „War er ein Kämpfer oder war er so sanft, wie seine Augen“? Harald hatte bisher noch nicht viel gesagt, aber nun stellte er die Bedingungen: „Wer den Handrücken des Anderen auf den Tisch drückt, hat gewonnen. Und wer gewonnen hat, tritt gegen den Stärksten an“. So kühn hatte noch keiner vor ihm gesprochen und die Allgemeinheit war widerwillig bereit, Haralds Forderungen zu akzeptieren. Die Devise hieß: „Erst mal abwarten, dann konnte man ja weiter sehen“. Georg war der ewige Zweite hinter Alfred. Mit breiten Schultern und einem geschmeidigen Gang demonstrierte er, weit hin sichtbar seine Kraft und sportliche Fitness. Sein eckiger Kopf und seine blonden Haare verliehen ihm ein nahezu seemännisches Aussehen. Beide Jungen streiften langsam die rechten Ärmel hoch, so dass man auch die Muskeln sehen konnte, wenn sie sich anspannten. Georg genoss sichtlich den Augenblick, so konnte er allen Anderen wieder einmal zeigen, wasfür ein toller Kerl er war. Er lächelte lässig und überlegen: „Diesem Milchgesicht werde ich von Anfang an Respekt beibringen“. Als beide bereit waren, setzen sie sich an der vorbereiteten Schulbank gegenüber und gaben sich die Hand. Georg begann sofort mit aller Macht zu drücken, doch Alfred rief dazwischen: „Halt, Schorsch, ich gebe das Kommando und erst dann wird gedrückt. Nun noch einmal zur Ausgangsstellung“. Beide Kampfhähne setzten sich wieder in die Ausgangsstellung zurecht, dann rief Alfred ein kurzes „los“! Dieses Mal hielt Harald dem Druck Georgs stand. So sehr sich auch Georg mühte, er brachte Harald nicht zum Nachgeben. Die Angelegenheit schien unentschieden auszugehen. Nun wurde es für Alfred interessant. Wenn er dem Bullen Georg so lange standhielt, musste der noch mehr drauf haben. Bring` die Sache zu Ende Schorsch“ schnurrte er Georg an, „dieses Milchgesicht wirst du doch wenigstens schaffen“. Georg drückte was er konnte, ihn packe die Wut und er lief hochrot an. Seine Kräfte drohten langsam zu erlahmen, da merkte er, wie sein Gegenüber den Druck noch erhöhen konnte. Er dachte nur noch an die Blamage der Niederlage, doch dann war sein Arm zu nichts mehr fähig. Wie ein entsicherter Hebel kippte er um. Der Oberarm wurde ihm fast aus der Kugel gerissen. Sein Arm tat verdammt weh, doch schlimmer war die Blamage verloren zu haben. Erschrocken über seine Niederlage, blickte er sich um, ob nicht einer der Umstehenden schadenfroh lachte. Er brachte nur anerkennend heraus: „Du bist ja ein richtig harter Brocken, ich hätte nicht gedacht, dass ich heute verliere. Vielleicht habe ich heute nur eine schlechte Tagesform erwischt. Ich fordere für später eine Revanche“. Harald hatte zwar gewonnen, doch richtig glücklich war er dabei nicht. Instinktiv fühlte er, dass er sich ab jetzt einen Feind geschaffen hatte. Die Umstehenden schwiegen betreten, denn keiner wollte sich mit dem Bullen Georg anlegen. Ein überschwänglicher Beifall für den Sieger musste also ausfallen. „Du bist überraschend gut“, erkannte Alfred an. „Ruh erst mal deinen Arm aus und dann trittst du nach der nächsten Stunde gegen mich an, doch das wird schwerer werden, das verspreche ich dir“. Der ins Zimmer hinzugekommene Fachlehrer für Kunstgeschichte, Herr Uhlig, hatte die letzte Phase des Kampfes noch miterlebt doch nicht eingegriffen, nur verständnisvoll gelächelt. Er kannte es, es war ein immer wiederkehrendes Ritual, die Neuverteilung der Rangfolge unter den halbwüchsigen Jungen, die stolz auf ihre Körperkräfte sind. „Nun wenden wir uns einem Fach zu, was für die Menschwerdung des Affen genauso wichtig war, wie körperliche Stärke, nämlich die Kunst“, begann er. „Harald, kommen sie doch gleich mal vor die Klasse und zeichnen sie aus dem Gedächtnis ein Pferd. Sie werden sehen, wie schwierig es ist, ohne Vorbereitung und ohne Modell eine solche Aufgabe zu lösen. Und dabei denken wir alle, wir haben einen hohen Stand der Zivilisation erreicht“. Harald nahm die weiße Kreide, begann an der Wandtafel zu malen und der Lehrer fuhr in seinen Ausführungen fort, ohne auf Haralds Arbeit zu achten. „Wir werden sehen, was aus der Aufgabenstellung herausgekommen ist und wie wir bei dieser, so einfach erscheinenden Arbeit versagen“, mit diesen Worten wandte er sich der Tafel zu und schaute verblüfft an die Wand. Mit wenigen Strichen hatte Harald ein Pferd auf die Tafel gezeichnet und die Bewegungsabläufe eines Galopps klar herausgehoben. „Harald“, begann Herr Uhlig verblüfft, „Sie werfen meine ganze schöne Theorie über den Haufen. Warum sind sie so gut“? Alfred gab einen Laut der Bewunderung ab. „Da haben wir uns ja ein richtiges Schätzchen eingefangen“, raunte er, "mal sehen, was der noch für Überraschungen im Ärmel hat“. Die Stunde ging zu Ende, doch ehe der mit Spannung erwartete neue Kampf ausgetragen werden konnte, musste die Schulbank wieder vorbereitet werden. Eilfertig räumten die zwei Schüler in der ersten Reihe ihren Platz und stellten die Stühle bereit. Schon während des Unterrichts wurde über den bevorstehenden Kampf getuschelt. Würde der Neue auch noch den Alfred schaffen oder er erhielt eine vernichtende Niederlage? Alfred hatte bisher Jeden geschafft und so war man sich allgemein sicher, wie der nächste Kampf enden würde. Schnell räumten die Umstehenden das Feld, so dass die Rivalen gegenüber zum Sitzen kamen. Beide angehenden Männer waren mit etwa eins achtzig gleich groß. Haralds Erscheinung war eher schlank und gereift, Alfred dagegen, wirkte eher mehr jugendlich stämmig und kantig. „Du kannst wählen, welchen Arm du nehmen willst, ich werde dich in jedem Falle schlagen, einer muss nur noch das Startzeichen geben“, verkündete Alfred. Die Gegner nahmen sich bei den Händen und sahen sich fest in die Augen. Aus der Menge ertönte es mehrstimmig: „auf die Plätze, fertig, los“. Harald wusste, wenn er Alfred schaffte, hatte er die gesamte Klasse gegen sich. So drückte er zum Anfang so stark er konnte, um die Kraft des Anderen auszuloten. Als Alfred gegenhielt, nahm er allmählich den Druck zurück. Alfred bemerkte diese Taktik und war zunächst irritiert, dann ließ auch er in seinem Druck nach. Nach außen hin taten beide so, als ob ihnen vor Anstrengung die Adern aus dem Hals kamen. In dieser Stellung verharrten beide, bis das Klingelzeichen zur nächsten Stunde ertönte. So mussten der Kampf ohne Entscheidung abgebrochen werden. Ein Raunen ging durch die Reihen: „Dieses Milchgesicht hätte doch tatsächlich fast den Klassenprimus auch noch geschafft“. Das war eine echte Überraschung. Georg ärgerte sich nun nicht mehr so sehr über seine Niederlage, denn keiner hatte vermutet, welche Muskeln dieser Junge mit dem sanften Blick gegenhalten konnte. Alfred traf sich mit Harald auf dem Heimweg. Dieser Junge war ihm vom ersten Augenblick her sympathisch gewesen. Er konnte es nicht erklären, aber hier spürte er eine gewisse Seelenverwandtschaft, fühlte sich zu Harald hingezogen. „Du gefällst mir“, begann Alfred das Gespräch, „wollen wir uns nachher mal treffen“? „Ich bin dazu bereit, aber ich habe erst einmal meine häuslichen Pflichten zu erledigen. Da meine Eltern ein kleines Geschäft für Künstlerbedarf am Tempelhofer Damm betreiben, muss ich meine Mittagsmahlzeit selbst zubereiten und gelegentlich im Laden aushelfen“. Die beiden trafen sich dann am späten Nachmittag und hatten sich viel zu erzählen. „Warum haben wir uns nicht früher schon mal gesehen“? wollte Alfred wissen, „wir waren doch bisher in der gleichen Schule doch nur in unterschiedlichen Klassenstufen“? Die Antwort darauf wussten beide nicht. So entspann sich zwischen den halbwüchsigen Jungen eine beginnende Freundschaft. Alfred änderte am nächsten Tag die Sitzordnung, so dass Harald auf der Schulbank neben ihm zum Sitzen kam. In der Folgezeit erwies sich Harald als ein überaus begabter Schüler, dem Klassenbesten, Alfred, nahezu ebenbürtig. Alfred, der Sohn vermögender Eltern, die in besten Wohnlagen Berlins eine Reihe von Mietshäusern besaßen, genoss das Leben in vollen Zügen. Er war klug, sah mit seinem glatten braunen Haaren recht gut aus und hatte, trotz beträchtlicher monatlicher Zuwendungen durch die Eltern, ständig Geldsorgen. Harald war ein zielstrebiger Bursche, der zwar auch intelligent war, aber mehr Talent für die schöngeistigen Fächer aufbrachte. Harald malte gern und viel. Schon früher konnte er sich bei den Schulkameraden mit seinen Portraits ein paar Mark dazu verdienen. Gelegentlich half er bei einer befreundeten Familie aus, die am Tempelhofer Damm, nahe dem S-Bahnhof einen Kolonialwarenladen hatten. Er begleitete den Verkäufer zur Großmarkthalle und half beim Auf- und Abladen der Obst- und Gemüsekisten. So verdiente er sich etwas Geld, um die Familienkasse zu entlasten. Die Wintermonate boten sich bei den zwölften Klassen traditionell an, Tanzunterricht in Gesellschaftstänzen zu nehmen. Es gehörte einfach zum guten Ton, dass Eltern, die etwas auf sich hielten, ihre halbwüchsigen Kinder zur Tanzstunde schickten. In Berlin gab es zu dieser Zeit mehrere berühmte Tanzschulen, die auch Nachwuchs für den nationalen und internationalenTurniertanz ausbildeten. „Ich habe eine gute Tanzschule empfohlen bekommen“, begann Alfred eines Tages. Mein Vater hat über seine ausgezeichneten Beziehungen im benachbarten Neukölln ein angesehenes Haus ausgemacht“. Hier sollten die beiden jungen Männer der Weiblichkeit auf eine angenehme Art näher kommen. Der Gesamtkurs umfasste zehn Wochentage, jeweils Donnerstag von achtzehn bis zweiundzwanzig Uhr zuzüglich Mittel- und Abschlussball, jeweils an den entsprechenden Wochenenden. Wegen des späten Endes in den Nachtstunden mussten die Eltern die schriftliche Einwilligung zur Teilnahme einreichen. Die Tanzlehrer und die Polizei duldeten in diesem Punkt keine Ausnahmen. Das Tanzlehrer Ehepaar: „Wir bringen den jungen Herren nun bei, wie sich ein Gentleman gegenüber einer Dame verhält, wie man stilvoll am Tisch sitzt und wie man sich bei gesellschaftlich wichtigen Empfängen verhält“. Einige Grundbegriffe hatten beide Jugendlichen schon aus dem Elternhaus mitbekommen, doch hier wurde die Vollendung gemäß Knigge gelehrt. Alfred fand das am Anfang etwas übertrieben, doch Harald hielt ihm entgegen: „Mit erfolgreichem Abschluss eines Studiums könnten wir zur geistigen Elite der Nation zählen und da muss man etwas auf sich halten und Etikette wahren“. Irgendwo hatte er diesen Grundsatz einmal gelesen. „Gutes Benehmen ist immer von Vorteil“.Harald wurde durch die Tanzpartnerinnen mehrfach wegen seines Namens gefragt, ob er Jude sei, doch ohne zu zögern antwortete er: „Ich gehöre keiner besonderen Konfession an, ansonsten aber glaube ich an Gott“. Damit waren die Fragen im Allgemeinen beantwortet. Ganz wohl war ihm nicht bei dem Gedanken: „Warum musste er sich immer seiner Herkunft wegen rechtfertigen“?
Das Jahr nahm mit Aufgaben und Prüfungen seinenLauf und beide Freunde konnten sich bei der Erarbeitung des Lehrstoffes auf wunderbare Weise ergänzen. Schließlich war die Schule zu Ende und die Mühen schienen sich gelohnt zu haben. Alle Schüler der Zwölften hatten die Prüfungen mit Erfolg abgeschlossen und so kam der Tag der Zeugnisausgabe und der Urkundenverleihung heran. Beide Jungen hatten sich verabredet, gemeinsam zu dem erwarteten Zeremoniell zu erscheinen und ihre besten Anzüge aus dem Schrank geholt. Schließlich bekam man nicht alle Tage das begehrte Abiturzeugnis überreicht. Herr Neumann, ihr Klassenlehrer, empfing die festlich gekleideten Herren in ihrem Klassenzimmer und beglückwünschte jeden Einzelnen für seinen gelungenen Abschluss. Die große Feierstunde wurde unter Einbeziehung aller Lehrer und Schüler in der Aula abgehalten und begann mit einer Darbietung des Schulchores, der Beethovens „Freude schöner Götterfunken“ aus seiner Neunter Symphonie sang. Anschließend hielt der Direktor Dr. Scholz eine flammende Rede von Vaterland und Stolz und von Anstrengungen des deutschen Volkes, welches sich verteidigen müsse. Schließlich wurden alle fertigen Abiturienten zum Zeugnisempfang auf die Bühne gerufen, nur Harald nicht. Alfred wandte sich fragend an den Freund: „ Du hast doch auch bestanden, oder nicht“? Harald war genauso erstaunt, wie die Anderen, aber er blieb auf seinem Platz sitzen und wartete geduldig, dass etwas passierte. Es konnte sich nur um einen Irrtum handeln, er war doch einer der Besten gewesen und hatte in fast allen Fächern glänzend abgeschnitten.Die Feier nahm ihren Lauf, doch warum bekam ausgerechnet er sein ehrlich verdientes Zeugnis nicht? Er traute sich auch nicht zu fragen, weil plötzlich eine furchtbare Unsicherheit in seinen Gliedern saß. „Frag` du doch mal, warum ich nicht aufgerufen wurde“, bat er seinen Freund. Alfred wollte es nun genauer wissen und meldete sich wegen des offensichtlichen Versehens zu Wort. Doch ehe er den ersten Satz beendet hatte, zog ihn ein Lehrer zur Seite und macht ihm klar, „Harald ist eines deutschen Abiturzeugnisses nicht würdig, weil sein Vater Jude ist“. „Hast du das gewusst“, wollte Alfred von Harald wissen. Harald saß da, wie ein Häuflein Unglück: „Mir ist plötzlich bitter kalt, ich will nur noch weg von hier“. Er verließ die Veranstaltung, ohne sich zu verabschieden, in ihm kochte es gewaltig und er fühlte nur noch Wut und Verzweiflung. Irgendetwas war in dieser Welt nicht in Ordnung und ausgerechnet er musste darunter leiden, dass sein Vater nicht arischer Abstammung war. Zu Hause gab es heftige Diskussionen. Die Eltern glaubten nicht, dass die Schule das Zeugnis zurückhielt, nur weil Harald einen jüdischen Vater hatte. Es musste noch einen anderen Grund geben. Hatte er nicht zielstrebig genug gelernt oder sich daneben benommen? Warum hatten seine Eltern so plötzlich kein Vertrauen mehr zu ihm? Harald verstand die Welt nicht mehr. Aber sollte er darum gleich seinen Vater verdammen, nur weil die große Politik und der Führer es so wollten? Alfred kam gleich nach Ende der Veranstaltung zu Haralds Eltern und klärte den Zweifel auf. Ihm tat es in der Seele weh, dass sein Freund für all die Arbeit und Mühen leer ausgehen sollte. Doch offen zu opponieren hatte er nicht gewagt, weil er dann leicht mit in den zu erwartenden Sog hinein gezogen würde. In solchen unsicheren Zeiten hielt man manchmal lieber die Klappe, ehe man sich die Zunge verbrannte. Man hatte ja schon einiges gehört, dass jüdischen Menschen das Leben schwer gemacht wurde und in der Öffentlichkeit verstärkt eine systematische Herabsetzung betrieben wurde. Im Stadtteil Mitte hatten braune Horden mehrere Läden jüdischer Händler demoliert und mit Hakenkreuzen beschmiert. In Berlin Neukölln hatten sie ein ganzes Kaufhaus angebrannt. Besonders krasse Nachrichten kamen aus Bayern, wo jüdische Mitbürger aus ihren Häusern getrieben wurden. Doch in der letzten Zeit waren die Nachrichten spärlicher geworden und einige munkelten schon, dass die Gerechtigkeit gegen diese Elemente siegen werde. Alfred schlug kurzerhand vor: „Nun machen wir erst mal Ferien. Wir haben da eine befreundete Familie in Schweden. Die würden sich freuen, wenn wir einige Wochen bei ihnen verbringen. Über die Finanzen brauchst du dir keine Sorgen zu machen, erstens sind diese Leute nicht arm und zweitens werden uns meine Eltern unterstützen“. Harald willigte schweren Herzens ein, er wollte erst einmal alles um sich herum vergessen. Alfred übernahm die schriftliche Anfrage per Post und binnen einer reichlichen Woche war die positive Bestätigung da.
Falun, der 11. Juni 1935
Lieber Alfred,
Du weißt, dass Deine Familie bei uns immer herzlich willkommen ist.Auch für Deinen Schulfreund wollen wir gute Gastgeber sein.Bereite ihn auf das Landleben vor, denn hier ist das Leben einfacher, als im schönen Berlin und die Uhren gehen hier anders, als bei Euch. Momentan ist sehr viel Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern, aber wir werden noch genügend Zeit miteinander verbringen können.
Liebe Grüße auch an Deine Eltern
Lars und Annegret Lindgreen
In der Abschlusskonferenz der Schulleitung des Gymnasiums kam der Fall Haralds nochmals zur Sprache. Einige Lehrer fanden die Entscheidung des Direktors nicht richtig, zumal der Junge die Sympathien aller auf seiner Seite hatte. Doch der Direktor Dr. Scholz blieb in seiner Entscheidung hart. Der Klassenleiter der ehemaligen 12b, Herr Neumann, hörte sich die fadenscheinigen Gründe an, warum man Harald das Abschlusszeugnis verweigert hatte, doch er wollte sich damit nicht abfinden. Sein Protest fand im Stillen statt. Schließlich ging es um die Zukunft eines begabten jungen Mannes, der weiter keine Verbrechen begangen hat, als dass sein Vater Jude war. Er fand einen Grund nach Dienstschluss länger zu bleiben, um das Zeugnis nachträglich noch ausliefern zu können. Geschrieben hatte er es zusammen mit den anderen, doch der Direktor hatte es vor der allgemeinen Übergabe unter Verschluss genommen. Nun kam es darauf an, in den Besitz des Dokumentes zu gelangen, ohne dass es jemand merkte. Herr Neumann wusste, dass es kriminell war, was er nun tat. Trotz heftiger Bedenken, wollte er begangenes Unrecht wieder gut machen und brach in das Büro des Direktors ein. Wenn jemand dahinter kam, konnte er seinen Beruf an den Nagel hängen.Das Büro des Direktors, gleich neben dem großen Lehrerzimmer im ersten Stock, war bei dessen Abwesenheit immer verschlossen. Der Klassenlehrer besorgte sich einen stabilen Dietrich und öffnete vorsichtig die kleine Verbindungstür. Er betrat mit klopfendem Herzen den ehrenwerten Raum, mit dem übergroßen Bild des letzten Kaisers und den schön geschwungenen Möbeln, die allesamt nach dem Pfeifentabak des Inhabers rochen. Im hinteren Teil des Raumes befanden sich die Unterlagen für Lehrer und Schüler in einer Registratur sauber nach Anfangsbuchstaben der Nachnamen abgeheftet. Die Schubfächer dieses Archivs waren abgeschlossen, doch er wusste, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden. Oft genug hatte er zugeschaut, wie und wo die Sekretärin des Direktors die Schlüssel verwahrte. Halt! da war doch ein Geräusch? Wie elektrisiert hielt er in seinen Bemühungen inne und wagte nicht zu atmen. Richtig, der Hausmeister kam mit schweren Schritten den Gang entlang und rief: „Ist da noch jemand“? Im leeren Haus hallten Schritte und Rufe deutlich wider. Er wollte offensichtlich das Haus abschließen. Als niemand antwortete, ging er schließlich wieder nach unten.Dann war alles wieder still und der Lehrer nahm erneut seine Suche auf. Der vierte Schieber war der richtige. Hier waren alle Schüler mit dem Anfangsbuchstaben –E – abgelegt und nach Klassenstufen geordnet.Er nahm das Zeugnis von Harald Eisenstein heraus und schloss alles wieder sorgfältig ab. Doch wie verhielt er sich, wenn der Verlust bemerkt wurde? Dieser Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Jetzt, wo er sicher sein konnte nicht gestört zu werden, konnte er diese Aufgabe doch auch besser und auch unauffälliger beenden. In aller Ruhe schloss er die Registratur wieder auf, suchte nach einem unausgefüllten Zeugnisformular und schrieb das Dokument mit größter Sorgfalt ab. Nun musste auch noch ein Stempel auf das Papier, sonst war es nicht rechtswirksam. Auch die Stempel waren im Schreibtisch sicher verwahrt, doch zum Glück war er an dieser Stelle offen. Nach reichlichen zwanzig Minuten besah Herr Neumann sein Werk und war mit sich zufrieden. Doch halt, die Unterschrift des Direktors fehlte noch. Der Chef unterzeichnete immer mit einem undefinierbaren Gekrakel, was nicht im Entferntesten an seinen Namen erinnern konnte. Der Lehrer musste also diesen Schwung in der Schrift erst üben. Nach mehreren Anläufen und einigen vollgeschmierten Blättern kam sein Namenserkennungszeichen der Unterschrift des Direktors sehr nahe. Nicht ohne ein ungutes Gefühl in der Magengegend beendete er seine Urkundenfälschung und besah sich seine Arbeit. Dieses Exemplar war vom echten in keiner Weise zu unterscheiden. Nun zum Abschluss noch das Schulsiegel darauf. Dieses Detail hätte er fast vergessen. Ein Blick auf dem Schulhof... der Hausmeister war nicht zu sehen. Herr Neumann schloss alles wieder sorgfältig ab, packte die vollgeschmierten Übungsblätter ein und verließ über den Hinterausgang die Schule. Festen Schrittes und in der Überzeugung größeres Unrecht verhindert zu haben, ging der Lehrer nach Hause, steckte das Zeugnis in einen neutralen Umschlag und schickte den Brief ohne Absender an Herrn Harald Eisenstein. Wie groß war die Überraschung, als Harald einen Tag später sein Zeugnis in der Hand hielt. Haralds Mutter hatte die Post aus dem Briefkasten genommen und den Umschlag von allen Seiten betrachtet. Nichts deutete auf den Inhalt und seinen Absender hin. „Harald, du hast Post“, rief sie ins Haus. Als der Junge den Brief öffnete, lüftete sich das Geheimnis. „Irgendjemand muss mich mögen“, strahlte Harald. Er hielt nun, wenn auch verspätet, seinen verdienten Lohn für die Jahre angestrengter Arbeit in den Händen. Als Alfred von dem Brief hörte, war seine spontane Reaktion: „Das war bestimmt der Neumann. Wenn das der Scholz wüsste, würde er fristlos entlassen werden“.