Читать книгу Ich bin ein Berliner - Uwe Siegfried Drogoin - Страница 8
Ferien auf dem Land
ОглавлениеDie Lindgreens hatten sich komplett vor dem Haus versammelt und erwarteten die Gäste mit großem Hallo und den Worten, „Herzlich willkommen, fühlt euch bei uns wie zu Hause“ und das war ehrlich gemeint. Das Empfangskomitee Lars und Annegret Lindgreen, Großvater Björn und die Söhne Thoralf und Söhren warteten vor der Haustür auf die beiden Deutschen. Lars und Annegret waren schon viele Jahre mit Alfreds Eltern befreundet und schon mehrmals mit großem Interesse in Berlin zu Gast gewesen. Dagegen liebte Alfreds Vater Schwedens unendliche Weiten. Als leidenschaftlicher Jäger faszinierte ihn die unberührte Natur und nahezu ein Dutzend Trophäen in Nagels guter Stube zeugten von seinem Jagdglück. Falun, am Rande der für die Schweden beliebten Region Dalarna gelegen, Ausgangspunkt vieler interessanter Ausflüge in Natur und Kultur des Landes, hatte für Touristen eine äußert günstige geografische Lage. Durch die Kupfergewinnung und Verhüttung musste das Schienen- und Straßennetz zur Stadt ordentlich ausgebaut sein, um die anfallenden Massen transportieren zu können. Allgegenwärtig war hier das riesige Loch der Grube. Das Anwesen der Lindgreens lag in der Nähe des Sees Runn, der in seiner längsten Ausdehnung etwa fünfzehn Kilometer maß, viele kleine Buchten und Inseln hatte und nahezu bis zur nächsten Kreisstadt Borlänge reichte. Die beiden Deutschen hatten schon bei ihrer Anreise einen kleinen Eindruck von der Schönheit dieses Fleckens Erde erhalten. Großvater Björn war neugierig: „Ich will mal sehen, wie die beiden Deutschen aussehen, was sie zu berichten haben und wie sie die neusten technischen und politischen Entwicklungen in Europa beurteilten“. Der Großvater wusste aus Erzählungen der Lindgreens, dass die beiden jungen Männer recht intelligente Kerle seien und kürzlich ihr Abi mit Bravur geschafft hätten. Der Familienbesitz der Lindgreens bestand aus einem großen Bauernhof mit einer ansehnlichen Anzahl von Tieren und einem respektablen Stück Land. Die beiden Gäste hatten sich vorgenommen in der Landwirtschaft mitzuhelfen und dadurch die Gastfreundschaft mit eigener Muskelkraft zu vergelten.Zur Begrüßung mussten die Beiden einen kräftigen Aquavit auf Ex austrinken. Man erhob hier das Glas, alle sagten das magische Wort „Skol“ wie bei uns das „Prost“ und der eisgekühlte Inhalt wurde in einem Zug ausgetrunken. Harald und Alfred schüttelten sich wegen des hohen Alkoholgehaltes des Getränkes und alle müssten über die verdutzten Gesichter der Neulinge lachen. „Nun geht es wieder an die Arbeit“, mahnte Lars Lindgreen, „die Bauern hier im Norden müssen jede Minute des Sommers nutzen. Da muß die Feldarbeit und die Einbringung der Ernte konzentriert erledigt werden“. Wenig später zeigte eine Magd den beiden Deutschen ihre Unterkunft. Ihr Zimmer war gemütlich im Bauernstil eingerichtet. Die Betten hatten ein Gagenetz als Himmel, der die Mücken im Sommer abhalten sollte. Die Bettstellen waren lustig mit kleinen Röschen und bunten Blättern bemalt. Sicher war das in den langen Wintermonaten die einzige vorzeigbare Natur. Sie sortierten ihre mitgebrachten Sachen in die Schränke ein, erfrischten sich am nahe gelegenen Brunnen und erwarteten die gemeinsame Abendmahlzeit.Vater Lars Lindgreen kam später hinzu, er hatte als Familienoberhaupt das tägliche Tischgebet zu sprechen. Erst wenn das Gebet gesprochen war, hatte die Tischgesellschaft das Recht mit dem Essen zu beginnen, so war es hier Brauch: „Komm Herr Jesus, segne unsere Mahlzeit und schenke uns und unseren Gästen Zufriedenheit“. Alfred und Harald kannten das aus ihren Familien nicht, aber die hiesige Zeremonie gefiel ihnen. Nun mussten sie berichten, wie die Reise verlaufen war und was es im fernen Deutschland Neues gab. Großvater Björn kannte sich in Geschichte aus und frotzelte, dass ja dieses Deutschland beinahe eine schwedische Kolonie geworden wäre. Er spielte auf die Expansionspläne des Königs Gustav Adolf von Schweden im Mittelalter an. Alfred brachte Haralds Benachteiligung anlässlich der Abschlussfeier ins Gespräch und Lars Lindgreen entgegnete, dass dieser Antisemitismus ja eine richtige Modekrankheit in ganz Europa sei. Er beruhigte Harald, dass die Lindgreens gute Christenmenschen seien und somit Nächstenliebe und Toleranz Andersdenkenden gegenüber oberste Gebote seien. „Mach´ dir keine Gedanken, hier bist du vor solchen Dingen sicher“. Mit diesen Worten verabschiedete er sich, um zu Bett zu gehen. Und zu den beiden Ankömmlingen, die ihre Hilfe angeboten hatten: „Geht auch zeitig schlafen, damit wir am nächsten Tag sehr früh mit der Arbeit beginnen können“. Er wusch sich am Brunnen mit glasklarem und kaltem Wasser und verschwand in seinem Schlafgemach. So wie er, taten es auch die beiden halb erwachsenen Söhne Thoralf und Söhren, die wie der Vater, richtige Naturburschen waren. Auch Großvater Björn verließ das Haus für heute und lud die beiden Neulinge schmunzelnd ein: „Besucht mich in den nächsten Tagen, aber vergesst es nicht“. Als letztes ging Annegret zu Bett, nachdem sie zusammen mit der Magd den Haushalt in Ordnung gebracht hatte. Die Sonne ging ja nicht vollständig unter, sie wanderte des Nachts etwas zaghaft am Horizont entlang, um in den Morgenstunden wieder in voller Pracht und Schönheit den Tag zu beleuchten. Am nächsten Tag in aller Frühe krähte ein Hahn so kräftig, als wollte er als lebender Wecker seinen Dienst mit aller Würde versehen, die ihm zu Gebote stand. Es war unmöglich bei solch einem Lärm weiter zu schlafen. Kurze Zeit später stellten sich die Lindgreens am Brunnen an, um sich am kalten Wasser den Schlaf aus den Augen zu waschen. Alfred und Harald beeilten sich, um nicht als Außenseiter da zustehen. Alfred nahm einen Eimer und schüttelte den Inhalt lachend über Haralds Rücken: „Jetzt sind wir auch solche Naturburschen, wie die anderen, also nicht zimperlich sein“. Annegret hatte inzwischen die Brote und einen warmen Malzkaffee auf den Tisch gebracht. Nach einem kräftigen Frühstück gingen alle an das Tagewerk. Der Gastgeber nahm die beiden neuen Helfer mit und ging zu den Kühen. Sie mussten als erstes mit Nahrung und Wasser versorgt und ausgemistet werden. Vater Lars begrüßte jede Kuh persönlich mit Namen und hatte an jeder Box ein gutes Wort parat. Anfangs rümpften die beiden Stadtkinder die Nase über die angeblich gesunden ländlichen Gerüche, aber sie gewöhnten sich schnell an die Duftnoten der Tiere. Die Kühe mussten anders behandelt werden, als die Schweine. Die Schafe wurden auf karge Weiden getrieben, die keinen anderen Tieren Nahrung geben würden, doch den Schafen genügte es immer noch.Da die Helfer nun in ihre Aufgaben eingewiesen waren, konnte sich der Hausherr anderen Arbeiten zuwenden und überließ den jungen Männern die Erledigung. Gegen Mittag traf man sich wieder im Hause und den Neulingen schmerzten schon Schultern und Rücken von der ungewohnten Arbeit. Alfred fragte Harald ganz verstohlen, „Was sagen deine Knochen zu der Schinderei?“ Doch Harald fand das ganz normal, zumal sie diese Muskeln in der Vergangenheit nicht belastet hatten. „Alfred, das legt sich wieder, spätestens in drei bis vier Tagen macht dir das alles nichts mehr aus und du wirst über deine anfänglichen Schmerzen nur noch lachen“. „Ich hoffe du hast mit deiner Prognose Recht“, witzelte Alfred mit einem ungläubigen Lächeln. Nachdem sie die erste Woche hinter sich hatten, machte ihnen die Arbeit tatsächlich nichts mehr aus und ihr Hunger hatte sich der Allgemeinheit der männlichen Mithelfer angepasst. Mutter Annegret freute sich, wenn es ihren Männern so richtig schmeckte und das gute Brot, der reichhaltige Fisch und das Fleisch gaben die nötigen Kalorien ab, die solch ein Bauer brauchte, um die schwere Arbeit hier auf dem Lande zu schaffen. Auch Vater Lars lobte die Beiden, die wider Erwarten von Anfang an vollwertige Arbeit leisteten und der Familie eine große Unterstützung waren. Außerdem lernten die beiden Deutschen abends intensiv schwedisch und konnten sich nach einigen Tagen ganz gut in der fremden Sprache verständigen. Die gesamte Familie war ihnen nach Kräften behilflich, weil sie sahen, dass die jungen Leute intelligent und willig waren. „Ihr wolltet doch Großvater Björn besuchen“, ermahnte Mutter Annegret, "nehmt euch die Fahrräder, die im Gerätehaus stehen“. Am Wochenende nahmen sie die Räder aus dem Stall und radelten zu Großvater Björn. Der Alte bemerkte sie schon von weitem und lief ihnen freudig entgegen: „Ihr seid ja tatsächlich gekommen“, rief er noch ganz außer Atem, als er sie erreicht hatte. Der alte Herr hatte ein schönes rotes Holzhaus, nahe am See, und ein kleines Segelboot mit einer eigenen Anlegestelle. In den Sommermonaten liebte er es, auf den See hinaus zu fahren, zu fischen oder sich einfach von der Sonne braun brennen zu lassen. Er lebte allein, denn seine Frau war bei der Geburt von Annegret, seiner jüngsten Tochter an einem tückischen Fiber gestorben. Der diplomierte Lehrer lebte nun von seiner erworbenen Staatspension, die ihm einen bescheidenen Wohlstand sicherte. Wenn außergewöhnliche Anschaffungen anstanden, halfen schon mal Lars und Annegret Lindgreen, und seine anderen Kinder, aus. Seine große Leidenschaft, die Sagen und Märchenwelt Skandinaviens hatte etwas Mystisches an sich. Er konnte stundenlang mit großer Hingabe erzählen und mit gekonnter Mimik und Gestik seine Zuhörer begeistern. Thoralf und Söhren kannten und liebten seine Geschichten, besonders, wenn es draußen stürmte oder schneite, lieferten seine Erzählungen den richtigen Hintergrund. Die beiden Deutschen, des Schwedischen noch nicht mächtig, mussten immer wieder in englischer Sprache unbekannte Wörter und Redewendungen erfragen. Es war am Anfang ein mühsames Herantasten, doch sie kamen gut voran. Großvater Björn hatte versprochen, mit dem Boot auf den See hinaus zu fahren. Bei diesen ausgezeichneten Wetteraussichten, gab der alte Seebär volle Segel und das elegante Boot glitt schon bei einem lauen Lüftchen mit einer beachtlichen Geschwindigkeit über das Wasser. Hier, in der Mitte des Sees, hatte der braun gebrannte alte Herr eine kleine Insel, die er immer aufsuchte, um sich zu sonnen oder mit seinem leistungsstarken Teleskopfernrohr die Natur zu beobachten. Hier war er ungestört und hier konnte er, wenn er wollte, seine Kleidung vollständig ablegen, ohne dass ihn jemand in seiner Blöße störte. Björn hatte einen kleinen Picknickkorb mitgebracht und Mutter Annegret hatte den beiden Gästen für das Mittagsmahl Speisen und Getränke mitgegeben. Aus einer Tasche holte der Alte ein Buch hervor, seine bevorzugte Lieblingslektüre, die Edda, eine für die beiden Deutschen bis dato unbekannte Sammlung nordischer Sagen und Märchen, die auch die Nibelungen beinhaltete. „Das ist mir aber neu, ich habe bisher angenommen, die Nibelungen seien eine rein Deutsche Angelegenheit, mit dem Held Siegfried, mit dem Schwert Balmung, dem Drachentöter und Hagen, der Siegfried nach einem Wettlauf erstochen hatte, mit dem König Gunter und dem Hunnenkönig Ätzel“, scherzte Harald. Großvater Björn belehrte sie eines Besseren, die Nibelungen seien aus dem Norden gekommen und hatten sich bei Xanten am Rhein niedergelassen. Ein Norweger hatte im letzten Jahrhundert in mehreren Ländern nachgeforscht und die Heldensagen in der Edda aufgeschrieben. „Die Grundelemente der Drachentötung und die Wanderung der Nibelungen nach Süden kommen in den mündlichen Überlieferungen des irischen, schottischen und skandinavischen Sagenschatzes in geringen Abwandlungen vor“. Alfred erinnerte sich, dass sich der Begriff Nibelungen im Sprachgebrauch mehrmals geändert haben musste, im Urtext übersetzt hieß es da wohl „ Nieflungen, die aus dem Nebel kamen, oder die Söhne des Nieflung“, so genau war das inzwischen nicht mehr zu deuten. Am Nachmittag frischte der Wind auf und Wolken zogen heran. Harald bemerkte als erster, dass ihr Segelboot nicht mehr zu sehen war. Sie rannten zum Ufer, und richtig, das Boot schwamm schon mehr als einhundert Meter vom Ufer entfernt führerlos auf dem See. Der Großvater schaute die beiden jungen Männer erschrocken an, als wollte er sagen: „Was haben wir da wieder falsch gemacht“? Alfred und Harald stürzten sich, so wie sie augenblicklich waren, ins Wasser und schwammen dem Schifflein hinterher. Alfred erreichte als erster den Ausreißer und hielt die Leine fest. „Steig auf“, rief er Harald zu. Harald schwang sich an Deck und half Alfred, hinauf zu kommen. „Kannst du segeln“ fragte ihn besorgt Harald. „Warte, das kriegen wir schon hin“, meinte Alfred, wir werden erst einmal die Segel einholen, das hätte Großvater Björn schon bei der Landung machen müssen. Wir werden sonst vom Wind abgetrieben. In der Hitze der Unterhaltung hatte der Großvater, allen Sicherheitsvorschriften zum Trotz, die Segel gespannt gelassen und das Schiffstau nur notdürftig an einem Baum festgebunden. Mit den Paddeln, die sie im Schiffsrumpf fanden, arbeiteten sich die beiden mit viel Mühe gegen den Wind zum Anlegeplatz zurück. „Da bin ich aber froh, dass ich euch beiden mit dabei habe, sonst hätte ich heute größere Probleme bekommen“, rief der Großvater erleichtert aus. „Ich werde euch beiden noch das Segeln beibringen“, damit steuerte er das Boot gekonnt zurück zu seinem Bootshaus. Da der Tag ohnehin zur Neige ging, zündete er zu Hause im Kamin ein Feuer an und sie unterhielten sich bis spät in die Nacht hinein. Man merkte dem alten Lehrer an, dass er in seinem Leben viel gelesen haben musste und in seinem Berufe getreu, hatte er immer das Bedürfnis, Anderen sein Wissen weiter zu geben. Wie dieses Wochenende, sollten noch mehrere folgen und Großvater freute sich immer, wenn er aufmerksame Zuhörer hatte.Am Wochenende vor dem 24. Juni feierte ganz Schweden den Mittsommer. Es war seit alters her ein Fest des Lichtes und der Lebensfreude und auch die Lindgreens hatten sich auf diesen Höhepunkt des Jahres gefreut. Das Fest, eigentlich heidnischen Ursprungs, hatte sich auch die katholische Kirche zu Eigen gemacht und feierte mit einem festlichen Gottesdienst und einer heiligen Prozession. Am Anfang des Zuges ging der Geistliche der Faluner Kirche mit einem hölzernen Kreuz vor dem Festzug her, der an der Festwiese am Maibaum endete. Blumengeschmückte Mädchen schwenkten Papierfähnchen mit den schwedischen Farben, die jungen Männer zogen geschmückte Wagen hinter sich her. Auf der Festwiese spielten Musikanten alte schwedische Waisen und neben dem Maibaum hatte man aus Brettern eine große Tanzfläche aufgebaut, auf welcher junge Männer und Frauen in traditionellen Trachten zu tanzen begannen. Auch Alfred und Harald durften bei diesem Ereignis nicht fehlen. Vater Lars hatte ihnen bei der Auswahl der Kleidung aus seinen Beständen geholfen und so konnte man die beiden Deutschen von den schwedischen jungen Männern kaum unterscheiden. Mutter Annegret hatte sich einen Kranz aus frischen Blumen und Kräutern geflochten und mit Klemmen auf dem Kopf befestigt. Zum allgemeinen Verzehr hatte sie einem eigens für dieses Fest Fleisch, Gemüse, frische Kartoffeln, Obst, Erdbeeren und Schlagsahne mitgebracht und für die Allgemeinheit auf dem Tisch verteilt. Andere Familien hatten wieder andere Leckereien beigesteuert, so dass eine bunte Mischung zur allgemeinen Verköstigung bereit stand. Mutter Annegret ermunterte die beiden Deutschen: „Feiert mit und geht tanzen, es gibt genügend hübsche junge Mädchen, die nur darauf warten, dass ein junger Mann sie auffordert“. Unweit vom Maibaum wurde ein Wettlauf veranstaltet. Alfred und Harald erkundigten sich, welche Bedingungen anstanden und entschlossen sich mit zu machen. Die Strecke ging über Stock und Stein, zum Teil durch den Wald und zum Teil auf Feldwegen über sieben Kilometer. Es meldete sich ein bunter Haufen an Teilnehmern. Jeder wollte natürlich den Hauptpreis gewinnen: einen lebenden Fasan. Den Preis hatte die Stadtverwaltung von Falun gestiftet. Der Bürgermeister gab auch das Startzeichen mit einer Holzklatsche. Energisch knallten zwei Holzbretter aufeinander, so dass ein scharfer Knall entstand, was so viel hieß wie: „Jetzt könnt ihr los laufen“. Die Gruppe Läufer setzte sich in Bewegung und drängelte sich auf den schmalen Weg voran. Es gab ein Gerangel und Geknuffe, denn jeder wollte den Anderen ausstechen oder außer Gefecht setzen. Bei etwa drei Kilometern hatte sich schon eine achtköpfige Spitzengruppe abgesetzt zu der auch Alfred und Harald gehörten. Von den Zuschauern angefeuert, liefen die Athleten so gut sie konnten. Wer nicht mehr laufen konnte, versuchte die Anderen daran zu hindern, indem er seine Konkurrenten festhielt oder zu Fall brachte. Alfred hatte mit solch einen unliebsamen Mitkämpfer zu ringen. Der hielt Alfred an der Hose fest und wollte nicht mehr los lassen. Harald bemerkte den Störenfried und schlug dem Gegner seines Freundes mit einem Stock auf die Finger, so dass dieser vor Schmerz aufschrie und von Alfred abließ. Die Gelegenheit nutzte ein junger Schwede, überholte freudig die kämpfenden Drei und gewann schließlich das Rennen. Alle lachten bei dem Gedanken, Alfred hätte ohne Hose weiter laufen sollen. So hatten alle ihren Spaß. Am Abend gab es einen schönen Fackelzug der Kinder. Die Erwachsenen tanzten nach den modernsten Schlagern oder ließen sich das Bier schmecken. Mutter Annegret wandte sich an Alfred und Harald mit der Bitte ihr zu helfen. Vater Lars, zu viel Alkohol getrunken, hatte Schwierigkeiten den Heimweg zu finden. Die Beiden nahmen den betrunkenen Mann in die Mitte und gemeinsam ging es nach Hause. So verlebten alle in diesem Jahr eine schöne Zeit und als der Sommer zur Neige gehen wollte, fragte sie Vater Lars über ihre Pläne aus: „Ich bin euch für die erwiesene Hilfe sehr dankbar und freue mich über eure Anwesenheit, doch langsam wird es Zeit an die kalte Jahreszeit zu denken. Wie soll es weiter gehen“? „Ich will in diesem Jahr noch pausieren“, meinte Alfred nachdenklich, „und im nächsten ein Studium beginnen. Ich habe es nicht eilig, weil meine Eltern mir auch so ein angenehmes Leben sichern können“. Nur Harald dachte mit Bangen an die Rückkehr, denn sie hörten aus der Ferne in der Frage der zunehmenden Judenverfolgung nichts Gutes. Am 29. August kam dann ein langer Brief von Haralds Mutter. Mutter Annegret übergab ihn nach dem Abendessen.
Berlin, der 26. August 1936
Mein geliebter Harald,
vielen Dank für Deinen letzten Brief von Anfang September.Ich freue mich, dass es Euch gut geht und dass Du so gut mit der schwedischen Sprache zurechtkommst.Heute muss ich Dir eine traurige Mitteilung machen. Die Nazis haben gestern Vater abgeholt. Ihre Begründung: „das deutsche Volk ist vom jüdischen Einfluss zu säubern“. Sie beschimpften mich, wie ich es mit solch einem Judenschwein ausgehalten habe und drohten mir mit Konsequenzen, wenn ich gerichtlich gegen diese Maßnahmen vorgehen wollte. Zum Abschied schrien sie mir ins Ohr „ Es lebe Adolf Hitler, unser geliebter Führer“. Harald, ich hatte nackte Angst und Vater hat bitter geweint. Er wollte sich melden, wenn er wüsste, wohin er interniert würde. Es hieß, dass alle jüdischen Bürger in Lagern untergebracht werden und dass sie zu Zwangsarbeit verpflichtet werden. Zu allem Übel bin ich auch heute noch in der Firma entlassen worden.Die Begründung: ich würde jüdischem Einfluss unterliegen und die Vertrauensbasis zur Firma wäre damit gestört. Den Laden, Vaters ganzen Stolz, werde ich aufgeben müssen. Nun lieber Harald, ich will Dir nicht die Ohren voll jammern. Der liebe Herrgott hat Dir sicher ein Zeichen gegeben, so dass Du wenigstens im Ausland in Sicherheit bist. Wenn ich keine Arbeit mehr habe, werde ich die schöne Wohnung hier in Tempelhof nicht mehr halten können. Ich habe vor, zu den Großeltern nach Potsdam zu ziehen. Dort am Rande von Berlin ist die Hysterie vielleicht noch nicht so groß. Ich werde trotzdem versuchen Vater zu besuchen, so oft ich kann. Wir haben so viele schöne Jahre miteinander verlebt und ich kann ihn doch jetzt, da er meine Hilfe braucht, nicht einfach im Stich lassen. Hier werden auf uns alle schwere Zeiten zukommen.Wenn du zurückkommst, sei vorsichtig mit Deiner Wortwahl. Du kannst in diesen Zeiten ganz schnell in Schwierigkeiten kommen, wenn Du nur einen Mux gegen die Regierung aussprichst. Sei bitte nicht traurig, wir werden schon durchkommen. Großvater sagt immer: „Die Hitler kommen und gehen, aber wir alle werden es überstehen“. Sei ganz lieb von mir gegrüßt. Ich küsse Dich,
Deine Mutter
Als Harald zu Ende gelesen hatte und das Blatt Papier senkte, leuchteten dicke Tränen in seinen Augen. Was war das nur für ein Vaterland, in dem man sich wegen seiner Geburt oder seines Glaubens schämen musste. Er rannte, so wie er war, ins Freie, um seinem Schmerz freien Lauf zu lassen. Alle am Tisch ahnten, dass hier etwas Schlimmes passiert sein musste. Mutter Annegret ging ihm nach und nahm den jungen Mann in ihre Arme, drückte ihn an sich, wie das nur Mütter können., um ihn zu trösten, doch der Strom der Tränen war so leicht nicht zu stoppen. „Du wirst es in Deutschland schwer haben, wenn du zurück gehst“, meinte Vater Lars. „Wenn du möchtest, kannst du bei uns bleiben, solange du magst“, bot er ihm an. „Wir könnten auch in den Wintermonaten noch kräftige Hilfe brauchen“. Alfred schämte sich, dass er im Glück schwamm und sein bester Freund bis über die Ohren in Schwierigkeiten steckte. So fragte er besorgt, „hättet ihr etwas dagegen, wenn ich auch bleibe?“ Nun musste der Familienrat zusammenkommen, alle setzten sich in der guten Stube an einen Tisch und Vater Lars trug das Anliegen der beiden jungen Männer vor. Thoralf und Söhren, die sich mit den jungen Deutschen prächtig verstanden, waren sofort einverstanden und Mutter Annegret gab ihren Segen dazu. „Im Übrigen, wenn ihr unbedingt studieren wollt, sollten wir uns mal in Uppsala umsehen, dort haben wir eine berühmte Universität“ fügte Vater Lars hinzu.Uppsala, eine mittelgroße Stadt von etwa einhundertfünfzigtausend Einwohnern zwischen Falun und Stockholm, etwa achtzig Kilometer entfernt, empfing sie schon von weitem mit seinen leuchtend roten Dächern und den Spitzen des alles überragenden Doms. Vater Lars hatte sie mit seinem Volvo hingefahren. Unterwegs fiel dichter Regen. So pflegte sich hier der Herbst anzukündigen. Vater Lars setzte sie an der Uni ab, weil er noch andere Besorgungen machen musste und die beiden Deutschen gingen geradewegs zur Anmeldung. Das Hauptgebäude, ein schöner Bau aus der Gründerzeit, hatte etwas streng Ehrwürdiges an sich. Sie schritten die langgezogene Freitreppe hinauf und betraten eine reich geschmückte Vorhalle mit schönen Ornamenten an den Wänden, tragenden Rundbögen und reich verzierten Säulen. „Sieh dir das an“, bemerkte Alfred, sogar der Fußboden ist hier mit farbigen Mosaiksteinen, passend zu Wand- und Treppenornamenten ausgelegt“. Sie erkundigten sich bei einer Studentin nach dem Sekretariat und erhielten staunende Blicke und eine präzise Antwort, wie sie zu gehen hatten. An einer überdimensional großen Tür lasen sie das Wort „Sekretariat“ und klopften vorsichtig an. Von innen war keinerlei Reaktion zu spüren. Harald versuchte es noch einmal und jetzt hörbar lauter. Nun hörten sie von innen eine unverständliche Stimme, die sie als „Herein“ interpretierten. Alfred drückte die Klinke herunter, da öffnete sich die Tür von innen. „Heute ist kein Sprechtag, meine Herren“ eröffnete ihnen die Sekretärin, „Es ist auch keiner da, der mit ihnen sprechen könnte. Also was wollen sie“. Bei so viel Reserviertheit fand Harald zuerst die Sprache wieder: „Wir wollen hier studieren“. „Das wollen alle, die hier her kommen“, erwiderte die Dame, über ihre Brille blickend, „Ich gebe ihnen eine Übersicht über unsere Sprechzeiten mit, kommen sie wieder, wenn einer der Chefs anwesend ist. „Das wird sehr schwer werden, wir kommen aus Deutschland“, gab Alfred zurück. „Was ist denn da los“? Ein Herr, hoch in den fünfziger Jahren in einem abgeschabten Anzug und ausgebeulten Hosen, kam in leicht gebückter Haltung auf die Tür zu. Die Sekretärin berichtete ihm kurz vom Anliegen der beiden jungen Männer und dass sie Deutsche seien. „Na dann kommen sie schon mal herein“, brummte der Herr mit dem grauen Haar und den ausgelatschten Schuhen, „Wir gehen zum Dekan“. Der Dekan empfing sie mit finsteren Blicken, weil er nicht wollte, dass deutsche Studenten so ohne weiteres hier eingeschrieben werden konnten, das konnte auch politische Verwicklungen nach sich ziehen. Er machte zur Bedingung, dass beide zuerst auf Eignung geprüft werden müssten und ob sie voll der schwedischen Sprache in Wort und Schrift mächtig seien. Dann könnte man in Erwägung ziehen, ob eine Immatrikulation möglich sei. Ein Oberassistent wurde gerufen und der sollte die geeignete Prüfung vorbereiten, natürlich mit erschwerten Bedingungen. Als erstes hatten sie einen Aufsatz zu schreiben über ein selbst gewähltes Thema, einen englischen Text ins schwedische zu übersetzen und einige Textaufgaben in der Mathematik zu lösen. Da die Lehranstalt in Uppsala den Ruf einer Elite Universität hatte, konnten nur die Besten hier studieren, das hatte Ihnen Großvater Björn ans Herz gelegt. Als Übersetzung für Beide lag ein Text des englischen Dichters Byron vor. Alfred untersuchte in seinem Aufsatz die Bedeutung der Wickinger als germanischer Volksstamm für die Entwicklung Europas. Dieses Thema hatte er ausführlich mit Großvater Björn diskutiert und Harald untersuchte die Erfindung Alfred Nobels als Segen oder Fluch für die Menschheit je nachdem wie der Mensch das Dynamit zur Anwendung bringt. Die mathematischen Aufgaben waren aufgrund ihrer ausgezeichneten Berliner Schulbildung eine leichte Hürde und wurden von beiden fehlerfrei gelöst. Dank der ausgezeichneten Lehrer, Vater Lars und Großvater Björn, hatten sie recht gute Schwedisch – Kenntnisse und abgesehen von kleineren unbedeutenden Fehlern, legten beide die Aufnahmeprüfung mit Erfolg ab. Der Dekan war verblüfft über die spontanen Ergebnisse, hatte aber zugesagt, bei ordentlichem Abschneiden einer Immatrikulierung zu zustimmen. Als Vater Lars sie abholte, hatten beide ihre Aufnahmepapiere in der Tasche. „ Seht ihr, es wird alles gut werden“, meinte Vater Lars, als sie eingestiegen waren und ihre Unterlagen vorzeigen konnten. Sie hatten sich in den Studiengang Architektur einschreiben lassen und konnten schon in einer Woche hier anfangen.