Читать книгу Ich bin ein Berliner - Uwe Siegfried Drogoin - Страница 9
Der Studienbeginn
ОглавлениеDas neue Semester hatte zwar schon begonnen, da aber die diesjährige Beteiligung in diesem Fach unter den Erwartungen lag, hatte man ein Auge zugedrückt. Sie konnten ab sofort kostenlos im Internat wohnen. Alfreds Eltern waren in keiner Weise einverstanden mit der Entscheidung ihres Sohnes und forderten ihn auf, sofort nach Deutschland zurück zu kehren, weil der hoffnungsvolle Spross der Familie auch in die neue Zeit eingepasst werden sollte. Außerdem warnten sie Alfred vor dem Einfluss von Harald, dessen Vater verhaftet worden war. „Wer weiß, was der ausgefressen hatte“, mutmaßte Vater Nagel. „Meistens ist an schlimmen Gerüchten etwas dran“. Harald sei nicht der richtige Umgang für ihn. Alfred verschwieg den ungeheuerlichen Inhalt seines Briefes, um Harald nicht noch weiter zu verunsichern. Er war entschlossen seine Freundschaft nicht kaputt machen zu lassen. Herr Nagel hatte einen Posten in der Stadtverwaltung bekommen und wollte, dass sein Sohn die militärische Laufbahn einschlug. Der Briefwechsel von Vater und Sohn umfasste die ganze Palette der möglichen Beleidigungen und Anweisungen zurück zu kommen, doch Alfred verspürte keinerlei Lust in seiner unsicheren Heimat zu leben.Die Lindgreens hatten dafür Verständnis.Die Nachrichten hier in Schweden waren bei weitem nicht so einseitig gefärbt, wie in der Heimat und so konnte sich jeder logisch denkende Mensch ausrechnen, wohin dieses Wettrüsten in den nächsten Jahren führen würde. Hier hatte man eine unabhängige Sichtweise zu den Dingen. Die Regierung Schwedens hatte eindeutig erklärt, im Falle eines militärischen Konfliktes neutral zu bleiben. Zunächst war erst einmal ihr Studium wichtig und hinterher wollten sie weiter sehen. Für Alfred und Harald begannen somit relativ sorgenfreie Jahre. Im Internat waren sie mit noch zwei jungen Männern aus Stockholm untergebracht, die ihrer Entscheidung hier in Schweden zu bleiben, sehr viel Hochachtung entgegenbrachten. Der Studienbetrieb nahm sie nun voll in Anspruch, denn sie wollten sich von Anfang an ein solides Wissen aneignen. Gute Noten waren dabei das notwendige Abfallprodukt. Inzwischen wurden die Tage merklich kürzer und die Tagestemperaturen erreichten kaum noch zweistellige Werte. Die Laubfärbung fiel in diesem Jahr besonders schön aus und die beiden Mitteleuropäer genossen die unbekannte Farbenpracht in vollen Zügen. So oft es ihre Zeit zuließ, besuchten sie ihre Ersatzeltern in Falun und halfen nach Kräften in der Landwirtschaft. Als das Jahr sich schließlich dem Ende zu neigte, schien ganz Schweden in einer dicken Schneedecke zu versinken. Überall in den Fenstern sah man beleuchtete Figuren und wer nicht unbedingt ins Freie musste, blieb in den schützenden Wänden der Häuser. Alfred und Harald waren solche Schneemassen nicht gewöhnt und zu Anfang fanden sie es recht lustig, dass es jeden Tag schneite. Die Straßenlaternen hatten dicke weiße Bäckermützen auf und manches kleine Haus schien unter der weißen Pracht fast erdrückt zu werden. Die gebräuchlichsten Fortbewegungsmittel waren nun Schlitten und Schneeschuhe, denn in dem tiefen Schnee konnte man plötzlich versinken und das war in der Regel sehr unangenehm. Erst jetzt erkannten sie den Wert der Häuserfassaden mit ihren leuchtenden Farben, an denen sich das Auge vor dem weißen Einerlei erholen konnte. Die kräftigen Farben, die in der Vielfalt des Sommers kaum auffielen, erwiesen sich jetzt als nützlich und notwendig. Das Studentenleben war den Wintermonaten völlig angepasst. Die Uni verfügte über eine reichhaltige Bibliothek und das Jugendleben wurde durch Tanz- oder Kulturveranstaltungen an den Wochenenden aufgelockert. Die Musik spielte eine kleine Studentenband, die sich recht gut in gängigen neuen Schlagern auskannte. Man spielte Swing, Jazz, Dixieland und andere Melodien, die man in Deutschland nicht zu hören bekam. Jeglicher Alkohol war zwar verboten doch man hatte auch so genügend Spaß. Anfang Dezember rief der studentische Uni-Rat alle Interessenten auf, ihre Hobbys vorzustellen und dazu wurde an einem Wochenende die Mensa ausgeräumt. Alle Studenten erhielten die Möglichkeit ihre Steckenpferde zu präsentieren. Auch Alfred und Harald beteiligten sich daran. Alfred hatte aus Streichhölzern einzelne Wahrzeichen europäischer Hauptstädte modelliert und Harald stellte seine Bilder aus. Zu ihrer Überraschung fanden die Arbeiten beider regen Anklang.Harald wurde am nächsten Montag zum Direktor gerufen. Das war ungewöhnlich und konnte nichts Gutes bedeuten. Alle Zimmerinsassen rätselten, was wohl der Grund für diesen Termin sein konnte. Keiner hatte eine brauchbare Idee und so musste man einfach abwarten, bis der Ärmste aus der Höhle des Löwen zurück war. Als Harald dann vor dem vergnügt dreinschauenden Direktor stand, wich seine Unsicherheit. „Sie haben doch zu dieser Präsentation ihre Bilder ausgestellt“, begann der Direktor. „Da waren recht ordentliche Portraits dabei“ fuhr er fort. „Junger Mann, würden sie auch meine Familie malen? Sie sollten es auch nicht kostenlos tun. Was halten sie davon?“ Harald musste sich erst einmal setzen und konnte seine angenehme Überraschung nicht verbergen. „Wie groß ist denn ihre Familie?“ erkundigte sich Harald. „Sie würden mich, meine Frau und meine sieben Kinder malen, natürlich bei freier Zeiteinteilung“, schlug der massige Mann vor. „Sie kommen zu mir nach Hause und dann können wir alles im Detail besprechen. Am besten gleich morgen, da kann ich meiner Frau noch Bescheid sagen“, fügte er hinzu. Harald willigte freudig ein. Zurück im Internat, war schon jeder gespannt, was man Harald zur Last legte. Der berichtete mit ernster Miene: „Mich hat man entlassen“. Alfred, der seinen Freund lange genug kannte, bemerkte das kleine Lächeln in Haralds Mundwinkeln. „Mach nicht solche schlechten Witze Harald“, ermahnte ihn Alfred der anfangs erschrocken war. „Sag, was hat es tatsächlich gegeben“, drängte ein Mitbewohner. „Ich soll die Familie des Direktors Bengson malen“, berichtete Harald.So traf man sich am nächsten Nachmittag bei Herrn Direktor Bengson, der eine schöne große und helle Wohnung im Unigelände hatte, die der Bedeutung seines Amtes angemessen war. Alfred gab ihm noch einige Ratschläge auf den Weg, dann klemmte der junge Künstler gut gelaunt die Staffelei unter den Arm, nahm Stifte und Papier und marschierte zur Wohnung von Familie Bengson. Hier wurde er schon mit Spannung erwartet, denn Herr Bengson hatte seine Familie gründlich vorbereitet. Alle Familienmitglieder waren festlich gekleidet und erwarteten nun den geladenen Gast. Harald war überrascht, die Bengsons hatten nur Töchter, keinen Sohn. Die jüngste war gerade etwa zwei Jahre alt und die älteste besuchte die letzte Klasse des Gymnasiums. Direktor Bengson war als Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Uni tätig und dieses Fach wurde in den ersten Semestern noch nicht gelehrt. Die Kontakte waren damit bisher nur auf den Teil der Universitätsverwaltung beschränkt geblieben. Die Arbeiten Haralds zur Hobbypräsentation waren ihm durch die nahezu fotografische Genauigkeit der Personen aufgefallen. Nun sollte er auch hier sein Talent zum Wohle der Familie des Professors beweisen. Harald suchte sich in der Wohnung des Professors das Zimmer mit den besten Lichtverhältnissen aus, denn zur derzeitigen Jahreszeit, konnte er nur auf das Kunstlicht der Räume zurück greifen.Das Esszimmer bot die besten Voraussetzungen, da der Kronleuchter an der Decke den Raum am besten ausleuchtete. So wurde hier die Staffelei aufgestellt und Harald nahm von allen Familienmitgliedern die Maße ab und skizzierte erste Striche auf seinen Blättern. Es sollte zwar ein Familienbild werden, solch ein Bild musste man aber durch viele Einzeldetails zusammensetzen. Darin bestand die besondere Technik der Gruppenmalerei. Als Harald die mittlere Tochter Sofie fertig gezeichnet hatte, es war schon zu fortgeschrittener Stunde, ging sein Papier zu Ende. Professor Bengson erklärte sich bereit gutes Papier und Farbe zu besorgen, so dass diese materielle Basis gesichert werden konnte. Frau Bengson bat Harald: „Ach bleiben sie doch bitte noch zum Abendessen“. So konnten sie alle in vertrauter Runde plaudern, scherzen und man lernte sich kennen. Die Mädchen wollten natürlich wissen, wie es in dieser Riesenstadt Berlin so zugeht, welche Mode in Deutschland getragen würde und welche Filme zurzeit aktuell seien. Gegen zweiundzwanzig Uhr ging Harald in bester Stimmung zurück ins Internat. Er hatte das Gefühl neue Freunde gefunden zu haben. Alfred und die Anderen schliefen schon, doch als er leise zur Tür herein huschen wollte, zische ihm Alfred die Frage zu: „na, wie war`s“. Harald flüsterte im Ausziehen zurück: „Ich bin sehr zufrieden, ich berichte dir morgen“. Am nächsten Tag schrieb die Seminargruppe eine wichtige Klausur. Die beiden Deutschen hatten sich intensiv auf diese Prüfung vorbereitet und konnten den Tag locker angehen. Harald hatte der Familie Bengson versprochen seine Arbeiten am Familienportrait fortzusetzen, sobald neues Papier besorgt war und so wurde er am nächsten Tag wieder zum Direktor gerufen. Ein Vertreter aus Stockholm war in die Uni gekommen und hatte eine Auswahl verschiedener Papiersorten mitgebracht. Harald schmunzelte: „ Das ist ja wie im Märchen, so schönes Papier ist doch sicher teuer?“. „Junger Mann, darüber machen sie sich keine Sorgen“, erwiderte der Direktor „wir kaufen das, was zur Fortführung ihrer Arbeiten notwendig ist“. Der junge Künstler prüfte die verschiedenen Papierstärken, besonders dessen Saugfähigkeit und suchte sorgfältig das beste Material aus. Der Vertreter lobte Haralds Sachkunde, versprach geeignete Pinsel und Farbe zu versorgen und verabschiedete sich. „Übrigens, ihre Klausur von gestern soll recht gut ausgefallen sein, mein Kollege hat mir berichtet, dass ihr Landsmann und sie, ihm sehr viel Freude bereiten“. Mit diesen Worten entließ der Professor Harald, weil schon wieder andere Pflichten zur Erledigung anstanden. Als Harald in ins Internat kam, bemerkte er, wie es vor Spannung knisterte. „Was ist los“ wollte er gerade Alfred fragen, doch da schimpfte dieser schon heraus: „Ist man denn auch hier nicht sicher vor diesen vergifteten Ideen des Antisemitismus?“ Harald erfuhr, dass sich Alfred mit einem Kommilitonen geprügelt hatte, weil dieser drastisch abfällige Bemerkungen über Harald geäußert hatte. „Dieses Schwein, ist selbst zu faul aus seinem Leben etwas zu machen, nun schiebt er deinen Erfolg auf deine jüdische Herkunft zurück. Mit der Bemerkung: „Der will sich überall Liebkind machen“ meint er und dass du dich bei dem Direktor eingeschmeichelt hättest“. Alfred hatte ihm ordentlich die Meinung sagen wollen und da sei es zu einer ernsthaften Prügelei gekommen. Alfred hatte natürlich auch einige Schläge einstecken müssen, aber der Frieden hier im Internat war gestört. Der Internatsleiter, der solche Auseinandersetzungen unterbinden musste, hatte beide Studenten zu sich gebeten und ernsthaft ermahnt, ihre Streitereien zu beenden, ansonsten würden beide ihre Sachen packen können. Als Harald ins Zimmer kam, war Alfred immer noch ganz außer Atem. Dass diese, in Europa wie eine Epidemie um sich greifende, Seuche auch in Skandinavien Liebhaber fand, schmerzte bitterlich. Sie hatten gehofft, dass wenigstens hier die allgemeine Rassendiskriminierung nicht Fuß fassen würde. Die anfängliche Hochstimmung Haralds war mit einem Schlag auf den Nullpunkt abgesackt. Trotzdem rechnete er es hoch an, dass Alfred ihn so tapfer verteidigt hatte. Jetzt hätte er einen kräftigen Schluck Schnaps gebraucht, aber die schwedischen Gesetze ließen solche lockeren Sitten nicht zu. Am folgenden Wochenende hatten sich die beiden Freunde mit Lindgreens verabredet. Vater Lindgreen hatte Geburtstag und wollte auch seine neuen Zöglinge unter den Gästen haben. „Das kriegen wir hin“, schmunzelte Harald, „am Freitag sind nur zwei Stunden Vorlesung wichtig, den Rest werden wir uns schenken“. Sie fuhren mit dem Linienbus nach Falun und legten den Rest des Weges mit Schneeschuhen bis zum Hof der Lindgreens zurück. Es war der einzige Bus, der täglich diese Route fuhr und rappel voll besetzt. Die meisten Leute hatten Gepäck mit und größere Behälter und Brettl wurden außen festgeschnallt oder auf das Dach verfrachtet. Im Innenraum war es gemütlich warm und irgendwie roch es nach Rum. Als sich Alfred und Harald umsahen, bemerkten sie zwei Seeleute, die eine Flasche mit Alkohol dabei hatten. Sie sahen lustig drein und tauschten in Abständen die Flasche aus, die gleichzeitig, in Ermangelung anderer Möglichkeiten, als Trinkbecher herhalten musste. Der Busfahrer drückte wegen der Gesetzesübertretung ein Auge zu, weil die beiden mit ihren Späßen den ganzen Bus zum Lachen brachten. Außerdem schienen die Beiden hier, alte Bekannte zu sein. Als der eine einen Kamm hervorholte und die Rede von Hitler nachäffte, kam die Stimmung zum Überkochen. Harald und Alfred waren aber nicht sehr wohl bei dem Gedanken an die Heimat. Die Strecke, die in den Sommermonaten in knapp einer Stunde zurückgelegt wurde dauerte in dieser Jahreszeit über drei Stunden. Der alte Bus schnaufte und rutschte mehr von einer Schneewehe in die nächste. Nur der Geschicklichkeit und der Erfahrenheit des Fahrers war es zu verdanken, dass es immer weiter ging.