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Kapitel 2

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Januar 2020

Deutschland, Ludwigsburg, Rathaus


Traut euch, unpopulär zu sein. Ihr müsst nicht jeden Moment liebe Mädchen sein.

Caroline Link, Filmregisseurin

Ein Treffen der Vertreterinnen von Organisationen, Vereinen und sozialen Einrichtungen für Frauenfragen, zur Vorbereitung von Veranstaltungen rund um den Internationalen Frauentag am 8. März.

Das Fotoshooting für Frauen unter dem Motto «Ich bin eine Blume», das ich beim vorigen Treffen vorgeschlagen habe, fällt unter den Veranstaltungen, die die Stadt im Laufe der zurückliegenden Jahre durchgeführt hat, aus der Reihe. Und ich begreife auch, warum.

Was haben die anderen denn vorgeschlagen? Ich blättere in meinem Notizblock, wo die Veranstaltungen der anderen Organisationen eingetragen sind, damit es keine zeitlichen Überschneidungen gibt.

Montag, 2. März, bis Freitag, 13. März: Ausstellung «Machen Sie mehr aus Ihrem Minijob», ausgerichtet von der Agentur für Arbeit.

Mittwoch, 4. März, 15—17 Uhr: «Mobbing».

Mittwoch, 4. März, 18—20 Uhr: Rentenberatung.

Mittwoch, 4. März, 18—20 Uhr: Workshop «Mut zum Nein».

Diese Veranstaltungen sind getragen von Untergliederungen der katholischen Kirche. Zweifellos, es sind lauter wichtige und aktuelle Themen, nichts dagegen zu sagen. Man muss das unter den russischen Frauengruppen bekannt machen…

Was gibt es außerdem?

Mittwoch, 4. März, 19 Uhr: Podiumsdiskussion: «Wohnungsnot – kreative Ideen, politische Forderungen»

Ich muss an meine Freundin Karin denken, die nun schon seit mehreren Jahren auf der Suche nach einer preiswerteren Mietwohnung ist. Sie hat drei Kinder… Angestellt ist sie bei einem Ministerium. Eine Deutsche. Vor ein paar Jahren hat sie, beunruhigt um das Wohl ihrer Kinder und ihr eigenes, ihrem Ehemann den Laufpass gegeben, der zunehmend aggressiv geworden war. Albert zog aus, und Karin blieb in dem Haus, das fast so viel an Miete kostet, wie sie im Monat verdient. Und jetzt hat sie keine Aussichten, etwas anderes zu finden; ebenso wenig Aussichten wie Tausende von schlecht Deutsch sprechenden Zuwanderern mit ihren Kindern.

«Wir möchten die Wohnung einer Familie mit zwei berufstätigen Erwachsenen geben», bekam sie von einer Vermieterin zu hören. – «Wir suchen Mieter ohne Kinder.» —«Zu vermieten: Dreizimmerwohnung für eine Einzelperson oder ein kinderloses Paar.» So etwa lauten die Wohnungsangebote in der Regionalzeitung.

Zu jener Podiumsdiskussion erwartet man den Sozialbürgermeister der Stadt. Na, der sollte sich mal anhören, was Karin zu erzählen hat…

Freitag, 6. März, 19.30 Uhr: «Nichts soll meine Schritte fesseln» – eine musikalisch-literarische Performance. Die Schauspielerin Lisa Kraus trägt Texte von Dichterinnen des 14. Jahrhunderts bis heute vor, begleitet von einem Saxophonquartett und einer Perkussionistin. Veranstalter ist die Stadtbibliothek.

Dienstag, 10. März, 19.30 Uhr: «Das Schweigen brechen – Jede vierte Frau erlebt häusliche Gewalt». Ein Film von Heidi und Bernd Umbreit, worin die Bewohnerinnen eines Frauenhauses berichten, vor welch bedrohlichem Alltag sie dort Zuflucht gefunden haben.

Ich kann gut verstehen, warum eine Veranstaltung unter dem Motto «Ich bin eine Blume» hier aus dem Rahmen fallen muss. Weil sich dabei eine Frau ganz unbefangen zu sich selber und zu ihrer Schönheit bekennen will.

In Deutschland geht das nicht.

Und nur hier, in keinem anderen Land, fällt es mir bisweilen schwer, beim Blick auf einen Menschen festzustellen, welches Geschlecht er hat.

Mein Äußeres und meine Äußerungen bei diesem Vorbereitungstreffen im Rathaus fallen aus dem Rahmen dessen, wie die anderen aussehen und was sie reden.

Wenn man sich im Saal umsieht:

Es sind Frauen mittleren Alters, Vertreterinnen sozialer Organisationen und politischer Parteien der Stadt, engagiert in Frauenfragen, mit wachem Blick für weibliche Lebensumstände und Probleme. Fast alle – betrachtet man die Gruppe aus, russischer'oder mit, männlicher' Sicht – wirken sie in Kleidung und Aussehen recht fade. Eines freilich verbindet sie alle: sie haben sehr kluge Augen.

Problemfelder mit weiblicher Thematik gibt es in der Stadt etliche. Da ist etwa die Integration von Zuwanderinnen, die Stärkung ihrer Unabhängigkeit. Die Gebühren der Tagesstätte für Kinder zwischen einem und drei Jahren kommen dem Mindestlohn gleich – das kann sich nur die Mitarbeiterin einer großen Firma leisten —; die Migrantinnen jedoch sind gezwungen, daheim zu bleiben, wenn nicht der ganze Verdienst für die Kita-Betreuung draufgehen soll. Da ist das Frauenhaus, wo Mütter mit ihren Kindern Zuflucht vor dem gewalttätigen Partner finden: es hat zu wenig Räume, platzt aus allen Nähten. Für eine Erweiterung, so heißt es immer wieder, hat die Stadt kein Geld. Doch davon später…

Wenn man im Saal die Reden hört…

Ich muss lächeln, wenn ich daran denke, welche Blicke mich trafen, als ich kurz nach Beginn der Versammlung ums Wort bat und die Frage stellte: «Wo sind denn eigentlich die Männer?»

Ich erzählte den Damen, dass sich in Russland die Männer gewöhnlich aktiv an den Vorbereitungen solcher Veranstaltungen beteiligen. Großes Erstaunen auf den Gesichtern.

Einer der Frauen kommt ein Gedanke; sie sagt gedehnt. «Ah jaaa – ich hab mal gehört, dass man in Russland den achten März anders feiert, irgendwie schwungvoll.»

Als ich dieses Erlebnis Natalja erzähle, der Mutter meines kleinen Schülers Richard, muss die belesene Rechtsanwältin lachen.

«Die deutschen Frauen sind scheint’s der Meinung, die Rettung Ertrinkender sei Sache der Ertrinkenden selbst» – ein gängiger Ausspruch aus einem berühmten russischen Satire-Roman.

Aus den von mir vorgeschlagenen Veranstaltungen wird nur eine für verständlich und nachvollziehbar befunden: «Russisches Frühstück».

Als die Damen sich erkundigen, welches politische Thema ich bei diesem Frühstück erörtern werde, wehre ich erschrocken ab – bei dem Gedanken, wie viele Menschen und aus welchen «ehemaligen Republiken» der großen Sowjetunion da womöglich zu erwarten sind.

«Wir werden nicht über Politik diskutieren», sage ich. «Wir werden einfach nur einige Gerichte der russischen Küche kosten. Unsere Frauen können sehr gut backen». «Das Bildungszentrum, Katharina'», füge ich nach einer Pause hinzu, «vereinigt unter seinem Dach Menschen, die die russische Sprache lieben, unabhängig von ihrer politischen Einstellung. Die Eltern unserer Schüler sind russischsprachig, aber kommen aus ganz verschiedenen Ländern, zwischen denen die politische Lage nicht immer friedvoll ist. Das Thema Politik ist nahezu ein Tabu.»

Die Frauen nicken voll Verständnis. Unter ihnen ist Alin, eine türkische Kurdin; in ihren Augen, wenn ich verstohlen zu ihr hinschaue, bemerke ich Schmerz. Wenn sie das Wort erhält, erklärt sie als Erstes – fast wie um Entschuldigung bittend —, warum sie so gut Deutsch spricht: «Ich bin in Deutschland geboren.»

Das zweite, Begreifliche» für die Damen ist mein Vorschlag eines «Literarischen Salons, Weltweit bekannte Frauen aus Russland'». Hierzu gedenke ich heranwachsende Mädchen und ihre Mütter einzuladen. Meine Idee ist, die Mädchen dafür zu motivieren, beruflichen Erfolg zu erstreben, nach dem Vorbild solch bedeutender Frauen wie etwa der Kosmonautin Valentina Tereschkowa oder der Mathematikerin Sofja Kowalewskaja.

Nach dem zu urteilen, wie viele Hausfrauen ihre Sprösslinge zu allen möglichen Kursen und Unterrichtsstunden schleifen, sehen offenbar nicht alle für ihre Töchter die Zukunft nur als Mutter, Hausfrau, Kindermädchen oder Putzfrau. Das Thema dürfte also auf Resonanz und Interesse treffen.

Der dritte Vorschlag, «Fotoshooting für Frauen – Ich bin eine Blume», «mit oder ohne Make-up», trifft offenkundig bei der gesamten Gruppe auf eine psychologische Barriere. Er ruft Erstaunen hervor, annäherungsweise gar Angst, von leichter bis panischer, je nach dem Grad des Selbstvertrauens und der inneren Freiheit. Trotzdem wird der Vorschlag angenommen.

Der letzte Vorschlag, ein Schachturnier, sieht vor, dass kleine Mädchen (Fünfjährige, die in der russischen Schule einen Schachkurs besuchen) gegen Mitarbeiter der Stadtverwaltung antreten.

Mädchen, die mit erwachsenen Männern Schach spielen – gewissermaßen ein symbolisches Zeichen für Gleichberechtigung. Den Frauen werden die Augen warm. Was ich darlege, ruft Rührung, Begeisterung und große emotionale Zustimmung hervor.

«Ich will gegen den Bürgermeister spielen», erklärt meine fünfjährige Tochter, als sie von der geplanten Veranstaltung erfährt. Sie hat bereits das «Bauernabzeichen» errungen und fühlt sich durchaus sicher.

Für diese Veranstaltung stellt die Stadt sogar einen Saal in dem Gebäude gegenüber dem Rathaus zur Verfügung; und sie sorgt dafür, dass einige schachbegeisterte prominente Pensionäre, frühere Mitarbeiter der Verwaltung, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind, hindernisfrei zum Ort des Geschehens gelangen können.

Beim Verlassen des Rathauses wendet sich eine ältere Dame an mich; an dem Treffen hatte sie als Vertreterin einer der politischen Parteien teilgenommen. «Wir schlagen seit dreißig Jahren immer die gleichen Veranstaltungen vor. Es ist wirklich an der Zeit, daran etwas zu ändern», sagt sie, um mich zu unterstützen.

«Es wäre nicht schlecht, wenn man die Männer mit dazu heranzieht», gebe ich nach einigem Nachdenken zur Antwort.

Nach dem Treffen kommt mir so ein Gefühl, dass die deutschen Frauen mit ihren feministischen Ideen vielleicht doch zu weit gegangen sind. Sie haben das andere Geschlecht aus den Augen verloren, Barrieren errichtet und Ängste in sich aufgebaut, und haben so den Weg zu einem konstruktiven Miteinander versperrt.

Meine Stadt auf Яussisch

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