Читать книгу Lebensgeister - Valerie Travaglini - Страница 10

Mysteriöser Zettel

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Es dauerte lange, trotz ihrer Müdigkeit, bis sie endlich Schlaf fand. Der ganze Tag hetzte wirr durch ihren Kopf, es war zu viel passiert für einen einzigen Tag, sodass es ihr nicht gelang, alles einzuordnen. So vieles fand keinen Platz in ihren Schubfächern, weil es dafür keine gab. Es gab zum Beispiel keines für Schicksale wie das von Luca, es gab keines für soviel selbstlose Herzlichkeit, wie sie diese Leute an den Tag legten. Sie fragte sich immer wieder, ob da nicht irgendwo ein Haken war. Sie konnte es nicht fassen, dass sie soviel Glück hatte und an solche Menschen geraten war. Es gab doch immer einen Haken! Das war die Schublade, die sie kannte! Sie wälzte sich todmüde von einer Seite auf die andere und redete sich zu, dass alles in Ordnung wäre. Dass es einfach nette Menschen gäbe! Irgendwann musste sie doch in einen unruhigen Schlaf gefallen sein, in dem sie wirre Träume quälten. Sie träumte von einem Auto, das gegen einen LKW krachte, und in dem die zwei Personen vorne eingeklemmt wurden. Sie waren tot, als man sie mit der Bergeschere herausschälte. Sie träumte von einem kleinen Jungen, der alles mit riesengroßen Augen beobachtete, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben! Schweißgebadet wachte sie auf, schlief aber wieder ein, weil sie sich zwang, an etwas anderes zu denken. Der Traum war aber beharrlich und verfolgte sie weiter! Sie sah immer wieder dieselbe Szene.

Sie war froh, als der Morgen anbrach und langsam ein lichtes Grau durchs Fenster drang und sich gegen die Dunkelheit durchsetzte. Ihr kam völlig aus dem Zusammenhang gerissen in den Sinn, dass sie mit ihrem damaligen Freund ein Kind wollte. Irgendwann hatte sie diese wahnwitzige Idee gehabt, vor der sie das Schicksal aber wohlweislich bewahrte. Es war nicht klar, ob dieser Wunsch auf einer Mutter-Instinkt-Phase oder auf der Möglichkeit, so aus ihrem Job ausbrechen zu können, beruhte. Jedenfalls mussten die Spermien hartnäckig abgeprallt sein, waren hilflos in ihren weiblichen Gewässern ersoffen. Waren diese so schwach oder sie so resistent? Jedenfalls hatte es nicht geklappt und das war auch besser so! Sicher würde sie sich jetzt alleine mit einem Kind durchschlagen, mehr schlecht als recht und er würde mit dieser lächerlichen Tussi durch die Gegend spazieren! Sie ging zum Fenster, noch kraftlos in den Knien. Die ersten Arbeiter, die unterwegs zur Arbeit waren und die letzten Nachtschwärmer, die nicht mehr nüchtern den Heimweg suchten, begegneten sich. Der eine hielt den anderen für schwachsinnig. Oder der eine bedauerte den anderen? Wer wusste das schon so genau? Mit solchen Gedanken beobachtete Hannah, wie das Leben in der Stadt wieder intensiver wurde. Sie rückte den Stuhl ans Fenster und starrte hinaus. Sie beobachtete, wie immer mehr Autos sich hupend durch die Gasse quälten. Die kleinen Geschäfte zogen ihre Rollläden hoch, um wieder ihre Waren an den Mann oder die Frau zu bringen. Fruchthändler bauten ihre Stände auf. Einige Marokkaner versuchten, Kleidung, farbige Tücher und Schmuck loszuwerden. Chinesen waren ebenfalls vertreten, die, innovativ wie sie waren, kleine Plüschtierchen, die sich mit blinkenden Augen im Kreis drehten und einen höllischen Lärm verursachten, feilboten. Wie bunt das Leben hier war, dachte sie. Sie war in ihrem neuen Leben angekommen! Sie war in einem bunten Leben aufgewacht in einem schönen Haus mit netten Leuten. Konnte das wahr sein?!

Voller Tatendrang kleidete sie sich an und schlich sich vorsichtig ins Wohnzimmer. Sie war sich nicht sicher, ob schon jemand wach war. Am Frühstückstisch saßen Maria und ihr Enkel Luca. Luca erhob sich sofort und begrüßte sie ebenso herzlich wie alle anderen das getan hatten. Er freue sich sehr, stotterte und es tat ihr in der Seele weh. Er war so ein hübscher Kerl! Seine ganze Geschichte jagte durch ihren Kopf, aber sie bemühte sich, seinem Handikap keine Achtung zu schenken. Luca war groß, dürr, ein auffällig dunkler Typ mit einer sympathischen Frisur, die an ein Vogelnest erinnerte. Auf der Nase trug er eine kleine Brille mit runden Gläsern und seine ausgewaschenen Jeans hingen an ihm wie an einem Kleiderständer. Er trug ein dunkelblaues T-Shirt ohne jeglichen Aufdruck. Seine Schultern waren schmal und seine Finger auffallend feingliedrig. Lucas kohlrabenschwarze Augen blickten aus einem blassen Gesicht direkt in die Augen Hannahs, was sie verlegen machte. Sie unterhielten sich bei Cornetti, Brötchen und Marillenmarmelade und einer Unmenge von Kaffee so lebhaft, dass sie die Zeit vergaßen. Sie konzentrierte sich auf Luca, um ihm das Gefühl zu geben, es hätte für sie keinerlei Bedeutung, wie lange er brauchte, um etwas zu sagen. Sie wurden erst aus ihrem Gespräch gerissen, als Salvo aufstand und sich zu ihnen gesellte.

„So, jetzt haben Sie außer Mario schon alle kennen gelernt! Er schläft immer lange weil er im Gastgewerbe arbeitet und deshalb immer spät zu Bett geht. Hannah verstand das gut. In diesem Moment schlurfte er verschlafen aus seinem Zimmer, die Haare zu Berge stehend, mit tiefen Ringen unter den Augen. Auch er war ein dunkler Typ, sicher zwei Köpfe kleiner, schien aber einige Jahre älter als Luca und sein Gesicht war deutlich gezeichnet von seinem Lebenswandel. Tiefe Falten zogen sich von der Nase halbmondförmig am Mund vorbei. Auch von den Augenwinkeln gingen sternförmig zahlreiche Fältchen weg.

„Unser Mario macht die beste Pizza von ganz Neapel“, wurde er von Salvo vorgestellt. „Gleich hier in der Nähe, das ist ein Genuss, den Sie sich nicht entgehen lassen dürfen!“

Ciao!“, begrüßte Mario sie deutlich weniger förmlich als seine Mitbewohner. „Du wohnst jetzt hier?“ erkundigte er sich knapp.

„Nur eine Zeitlang, bis ich eine Wohnung gefunden habe“, beeilte sie sich zu sagen. „Ich hoffe, ich muss euch nicht zu lange zur Last fallen!“ Ihre Worte ernteten Protest von allen Seiten, von zur Last fallen könne keine Rede sein! Wiederum war sie verblüfft vom Großmut dieser Leute und sie lächelte befreit. Mario setzte sich und aß wortlos ein Cornetto und trank seinen Kaffee. Dann steckte er sich eine Zigarette an. Er war der einzige, der auch außerhalb seines Zimmers in der Wohnung rauchte. Er zog den Rauch tief in die Lungen, der dann wieder mit den Worten ans Tageslicht kam:

„Wie willst du es anstellen, hier eine Wohnung zu finden?“, fragte er mit sarkastischem Unterton.

„Ich denke, ich werde in Zeitungen schauen, im Internet…“, sagte sie kleinlaut und wünschte, es würde ihr mehr einfallen und sie könnte dies selbstbewusster vertreten. Es kam ihre kleine Maus an die Oberfläche, die sie zu bekämpfen versuchte, die aber immer wieder hartnäckig zum Vorschein kam, speziell in Situationen, in denen sie angreifbar war. Und dieser Mario machte sie unsicher! Sie konnte ihn nicht einordnen. Störte es ihn, dass sie hier wohnte oder war er einfach ein gottverdammter Morgenmuffel? Sicher war er einfach nur frustriert von seinem Job, wie die meisten im Gastgewerbe und sie durfte das nicht auf sich beziehen! Diese blöde Angewohnheit von ihr, immer gleich alles persönlich zu nehmen! Das Gespräch war verstummt und Maria versuchte verzweifelt, die Situation aufzulockern und fragte aufgeräumt:

„Und was haben Sie für Pläne heute? Wollen Sie sich erst einmal ein bisschen die Stadt ansehen?“

„Ja, das werde ich machen, damit ich mir ein Bild machen kann, wo ich gelandet bin“, versuchte sie zu scherzen.

„Sich hier alleine ein Bild machen zu wollen ist keine gute Idee!“, bemerkte Mario trocken, „vielleicht begleitet dich ja Salvo?“ Dieser warf ihm einen frostigen Blick zu und sie wurde noch unsicherer. Was hatte das zu bedeuten? Was sollte diese Andeutung?!

„Das ist nicht notwendig“, sagte sie schnell, „ich komme schon zurecht!“

Brava!“ sagte Mario spöttisch“. Hannah verspürte das unbändige Bedürfnis, allein zu sein und erhob sich. Das Risiko, als unhöflich eingestuft zu werden, würde sie eingehen. Es war ihr alles zuviel und sie war verlegen.

„Danke fürs Frühstück! Ich werde mich jetzt auf den Weg machen!“, murmelte sie.

„Ja, tun Sie das, mia cara!“, sagte Maria, wie ihr schien, ebenfalls erleichtert.

„Wollen Sie wirklich nicht, dass ich Sie begleite?“, warf Salvo ein, einen seltsamen Blick an Marios Adresse richtend, der die Aufforderung beinhaltete, die Klappe zu halten, „ich hätte Zeit!“

„Nein danke, ein andermal, aber ich gehe jetzt lieber alleine!“

„O.k., dann einen schönen Tag!“, wünschten ihr Maria und Salvo fast gleichzeitig. Mario fügte nur sein kurzes „Ciao“ hinzu, und Hannah ging eilig durch den Korridor zur Wohnungstür, die sie gerade schwungvoll öffnen wollte, als sie am Boden einen Zettel liegen sah. Jemand musste ihn unter der Tür hindurch geschoben haben! Neugierige hob ihn Hannah auf und sah überrascht, dass er zweifelsohne an sie selbst adressiert war: „Per la ragazza straniera con i capelli rossi“, stand mit krakeligen Buchstaben auf dem Blatt. „Für das fremde Mädchen mit den roten Haaren“, übersetzte sie und blieb wie angewurzelt stehen. Gerade wollte sie den Zettel mit zitternden Händen entfalten, um ihn zu lesen, als sie hörte, wie Mario ihr spottend nachrief:

„Verirr dich nicht!“ Sie trat aus der Wohnung und schloss leise die Türe hinter sich. Irritiert ging sie langsam die Stufen hinunter, während sie immer wieder den Satz auf dem Zettel las:

Ci vediamo alle nove

Piazza municipio


Wir sehen uns um neun Uhr, Gemeindeplatz… rumorte es durch ihr Hirn. Was sollte das bedeuten? Wer kannte sie hier? Wer wusste, dass sie hier war? Niemand! Verunsichert steckte sie den Zettel in ihre Hosentasche und der Satz ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Verdammt! Der Tag fing ja schon gut an! Sie versuchte, ihre aufkeimende Angst abzuwürgen, indem sie den Zettel zu verdrängen versuchte. Zuerst dieser Muffel von Mario, der sich selbst nicht mochte - zweifellos war er einer von diesen Typen, die wie ein Dornengebüsch unerbittlich alles kratzten, was unvorsichtig genug war, es zu streifen - und dann noch dieser Zettel! Abermals zog sie ihn aus der Hosentasche, um ihn anzusehen, als ob sie dadurch Erkenntnisse über den Absender erlangen könnte. Sie befahl sich, sich zusammenzunehmen und sich nicht entmutigen zu lassen. Mit großen Schritten ging sie die Gasse entlang, versuchte, nicht mehr an den Zettel zu denken und hielt Ausschau, wo sie einen Stadtplan erstehen konnte, um sich zu orientieren. Sie hatte schon eine Vorstellung, wohin sie wollte. Sie wollte als erstes das Meer sehen! Sie wurde rasch fündig, setzte sich mit dem Plan auf eine Mauer und entfaltete ihn. Sie brauchte eine gefühlte Ewigkeit, um sich einen Überblick zu verschaffen, allein schon um herauszufinden, wo sie sich überhaupt befand. Verbissen fuhr sie mit dem Finger Straßen nach, bis sie die ihre fand. Von da galt es einen Weg zum Hafen zu finden! Nach einer Weile schaffte sie es sogar, herauszufinden, mit welchem öffentlichen Verkehrsmittel dieser zu erreichen war!

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