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Aufbruch

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Über den Buchrand hinweg sah sie die Landschaft vorbeiflitzen. Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren und jede Seite erschien ihr wie eine Anhäufung sinnlos aneinander gereihter Buchstaben ohne jeglichen Zusammenhang. Ihre Gedanken schweiften beharrlich ab, in die zurückgelassene Vergangenheit und in die ungewisse Zukunft. Sie blickte der Landschaft zu, wie sie sich veränderte. Die Architektur, die Vegetation. Sogar die Ortschaften hatten immer schöner klingende Namen, je weiter man nach Süden reiste. Sie tastete nach ihrer Fahrkarte. Ja! Es war alles da!

Sie ließ die Berge hinter sich und sauste durch die Ebene, auf einen unverschämt weiten Horizont zu. Sie verglich ungewollt die Gegend mit der, in der sie groß geworden war und die meiste Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Ihr Dorf, eine Tausend-Seelen-Gemeinde, lag in einem Gebirgstal in der gnadenlosen Umklammerung schroffer Felswände, von denen ohne Unterlass Wasser stürzte. Grimmige Regenwolken entluden sich beim Aufprall an den Felsen, was bewirkte, dass es tagelang nicht mehr aufhörte zu regnen. Die ganzen Wintermonate hindurch gelang es keinem Sonnenstrahl, über die mächtigen Felsen ins Tal vorzudringen. Schneefelder bedeckten beharrlich die Gipfel der Berge, um bis in den Frühsommer hinein nicht mehr zu schmelzen. Zwischen den Tannen, die das Landschaftsbild der Gegend prägten, waren vereinzelt Holzhäuser sichtbar. Relikte aus der Vergangenheit, in der ausschließlich das bäuerliche Leben das Dasein bestimmte. Sie dachte sich immer, wenn sie diese Häuser sah, dass früher für die Menschen obwohl oder gerade weil der Tagesablauf nur von der Sorge beherrscht war, das Überleben der Familie und des Viehs zu sichern, das Leben noch einfacher gewesen sein müsste. Es blieb nicht viel Energie für die Dinge, die dem heutigen Menschen das Leben schwer machten. Das Zeitalter, in dem sich alle nur noch über das Haben definierten und das Sein vergaßen, war über die Menschheit hereingebrochen wie eine wütende Welle. Sie bildete auch keine Ausnahme, schlug sich täglich mit der Technik von Handys, Fernbedienungen und Notebooks herum, nervös und entnervt, wenn etwas nicht funktionierte. Man musste sich alle möglichen und unmöglichen Codes und Pins merken und kam in Schwierigkeiten, wenn man die Sozialversicherungsnummer in den Bankomaten eintippte oder einem beim Zahlen im Supermarkt der Code der Bankomatkarte gar nicht mehr einfiel. Selbst in der einzigen Bar im Dorf, in der sie gearbeitet hatte, gab es für alle Getränke eine Nummer. Aber nun hatte sie es geschafft. Sie würde ein neues Leben beginnen! Sie hatte es satt, mit pochenden Schläfen und geschwollenen Füssen um drei Uhr morgens nach Hause zu kommen. Immer dasselbe Ritual: auf ihre abgewetzte rote Couch fallen, sich die Füße massieren und jeden Tag daran denken, dass es gut wäre, ein Fußbad zu nehmen. Aber sie schaffte es nie. Stattdessen zählte sie ihr Trinkgeld in eine große, rosenverzierte Blechdose, die von ihrer Oma war. Das einzige Erinnerungsstück an sie, deren Kindheit von Armut geprägt war, die selbst ihr Leben lang von der Hand in den Mund gelebt hatte. Ihr Vermächtnis war ihr gutes Herz. Ihre Oma fand, während sie dement den Streuselkuchen mit einer dicken Gemüsessuppe verzierte, einen friedlichen Tod. Wie immer entledigte sich Hannah ihrer Arbeitsklamotten, eines schwarzen Rockes und einer weißen Bluse, streifte die Nylonstrümpfe ab und warf sie über die Schulter hinter sich in einen Winkel. Die Kleidung verströmte einen penetranten Geruch nach Rauch und Küche und musste jeden Tag gewechselt werden. Im stillen Schmerz der Nacht trank sie noch ein Bier. Oft kam sie erst nach Hause, wenn die Sonne bereits aufzugehen drohte. Beim Versuch, einzuschlafen, fühlte sie sich immer sehr einsam. Sie fühlte sich ausgeschlossen vom Leben, vom beginnenden Tag, sie fühlte sich verhöhnt von den hupenden Autos des Frühverkehrs.

Hannah war Mieterin einer kleinen Dachwohnung in einem gutbürgerlichen Haus. Immer frisch gebohnerte Böden und ein geputztes Stiegenhaus, mit einem pompösen Holzbalkon, der im Sommer mit roten Geranien verziert war. Die Rechtschaffenheit manifestierte sich in jeder Ecke des Hauses. Die Vermieterin, eine einfache Frau, hatte ihren Rhythmus gefunden. Sie lüftete am Morgen, machte die Betten, staubte ab, putzte die Böden, erledigte den Einkauf und bereitete das Mittagessen für ihren zu Mittag heimkommenden Gatten zu, der im Sägewerk in der Nähe arbeitete. Der Nachmittag verlief beschaulich, die Küche wurde sauber gemacht und dann setzte sie sich in den Garten, wo sie über ihrer Häkelarbeit einnickte. Ab und zu kam eine Nachbarin vorbei, um sich mit ihr über den neuesten Klatsch auszutauschen. Aber im Grunde waren sie beide gute Seelen und taten keiner Fliege etwas zu Leide. Der Klatsch hatte bei ihnen nichts Boshaftes, er war einfach Unterhaltung und Zeitvertreib, weil in ihrem eigenen Leben nichts passierte. Es gab schon immer Geschichtenerzähler. Menschen brauchten Geschichten.

Hannah selbst bekam nicht oft Besuch. Mit ihrer Familie hatte sie wenig Kontakt, da sie bei ihrer Oma aufwuchs, die bereits seit zwei Jahren tot war. Ihre Eltern trennten sich, als sie noch klein war, und beide hatten auf Grund ihrer eigenen komplizierten Lebensverhältnisse nicht viel Zeit für sie. Aber sie war nichts anderes gewöhnt und hatte auch nur bei gewissen Anlässen darunter gelitten, wie etwa bei Schulveranstaltungen, wenn alle mit ihren Eltern mit vor Stolz geschwellter Brust anrückten. Ansonsten hatte ihr ihre Oma alles gegeben, was sie brauchte. Sie schenkte ihr, dem einzigen Enkelkind, all ihre Zeit, ihre Liebe und Aufmerksamkeit. Bei ihren ersten Dummheiten schimpfte sie liebevoll, legte ihr beschämt und wortlos große dicke Binden aufs Bett, als sie ihre erste Menstruation bekam. Sie war die, die ihr, nachdem sie mit fünfzehn Jahren ihren ersten Vollrausch hatte, ein Hühnersüppchen kochte und meinte, das würde ihr gut tun. Ihr Tod hinterließ in Hannah eine quälende Leere, die zu füllen ihr wahrscheinlich niemals gelingen würde.

Ab und zu traf sie sich nach der Arbeit mit ihrer Freundin Sophie. Diese hatte einen Bürojob und die Gelegenheiten waren deshalb rar. Auch ihren damaligen Freund nahm sie nie mit in ihre Wohnung. Sie hatte das Gefühl, er würde nicht in die Welt dieses Mietshauses passen. Alle würden sich das Maul zerreißen, unverheiratet wie sie waren, schlampig gekleidet wie er war. Unsicher wie sie selbst war. Deshalb trafen sie sich immer bei ihm. Er wohnte in seinem Elternhaus im ausgebauten Keller, aber er hatte einen eigenen Eingang, was sie immer als sehr angenehm empfunden hatte. Er brachte die Geduld auf, auf sie zu warten, auch wenn dies hieß, dass er bis in die frühen Morgenstunden wach war. Zumindest am Anfang ihrer Beziehung. Sogar wenn er morgens zeitig auf musste. In der ersten Zeit der Verliebtheit machte einem nichts etwas aus. Man hatte unvorstellbare Energien und brauchte keinen Schlaf, um fit zu sein. Jeder Song im Radio klang, als wäre er nur für einen geschrieben und man wachte am Morgen mit einem Lächeln auf den Lippen auf. Man würde jedes erdenkliche Opfer auf sich nehmen, um die geliebte Person zu sehen, man würde ohne Schuhe zum Nordpol eilen. Aber wie bereits gesagt: es handelte sich nur um die erste Zeit. Nach der ersten kam zwangsläufig die zweite, in der es einem zu weit war, mit den bequemsten Schuhen einen Kilometer zurückzulegen. Wenn das Auto nicht ansprang, war es eben nicht möglich, zu kommen. Und wenn einem in der langen Wartezeit jemand über die Einsamkeit der Nacht hinwegtröstete…was sollte man machen? Sie hatte Alex, ihren Freund, mit eigenen Augen gesehen. Er konnte wieder einmal nicht kommen und Gott sei Dank hatte ihr Sophie versprochen, im Gasthaus „Hirschen“ auf sie zu warten. Der „Hirschen“ war – abgesehen von der Bar, in der sie selbst arbeitete, das einzige Lokal im Dorf. Man konnte nicht groß um die Häuser ziehen, doch das war ihnen egal. Sie wollten nur gemütlich etwas trinken und quatschen. Das Motiv für die langen Öffnungszeiten des „Hirschen“ war die Spielleidenschaft des Wirts, der bis in die Morgenstunden die Karten nicht aus der Hand legte und nebenbei ein paar Bier verkaufte.

Sie freute sich aufrichtig, Sophie zu sehen, und nicht nur, weil diese als Lückenbüßerin für ihren Freund bereitstand. Schon lange hatten sie sich nicht mehr gesehen und so ausgiebig gequatscht wie früher. Sophie setzte gerade an, über ihren Job abzulästern, als Hannah sich an ihrem Bier verschluckte und es über den Tisch hinweg wieder ausprustete, bevor es sich in die Luftröhre verirrt hätte. Hannah schnappte nach Luft und sah ihren Freund am Fenster vorbeischlendern, den Arm vertraut um die Schultern einer unsympathischen Schönheit gelegt, die mit unglaublich hohen Schuhen neben ihm herstöckelte.

Ach, das war der Grund, warum er morgens früh raus musste! Dieses Schwein! Szenen ihrer vieljährigen Beziehung schossen ihr durch den Kopf. Die Küsschen, die er ihr gab, waren nur mehr flüchtig auf die Wange... immer in Eile! Er schlief auch des Öfteren neben ihr ein, ohne irgendwelche Lust nach ihr zu verspüren. Er war müde! Müde! Und sie lag noch lange neben ihm wach und dachte: „Es gab auch Zeiten, in denen er unermüdlich war!“ Das Schweigen war in ihre Beziehung eingedrungen wie die feuchte Kälte durch die Ritzen ihres schlecht isolierten Hauses und hatte sich dumpf und lautlos zwischen ihnen ausgebreitet. Was war noch zu bereden, man wusste ja alles voneinander! Was blieb nach so langer Zeit, über das man noch reden oder gar lachen konnte? Ihre Beziehung war zu einem Museum geworden, das von schönen, antiken Stücken lebte, von fein säuberlich angehäuften Erinnerungen bevölkert. Hannah war sich dessen schon lange bewusst, aber dass er soweit gehen würde, sie einfach auszutauschen! Nach all den Jahren und all dem was sie gemeinsam erlebt hatten! War es die Sprachlosigkeit, die ihre Beziehung vergiftet hatte? Die Gewohnheit? Sie hegte allerdings den wahrscheinlich nicht unberechtigten Verdacht, dass es weit trivialere Beweggründe gab, die ihn dazu bewogen hatten! Und die waren: wasserstoffblondes Haar und hohe Schuhe!

Schmerz durchzuckte sie abwechselnd mit Wutausbrüchen, die Sophie mit Sprüchen wie: „Du weißt ja, wie Männer sind“, zu mäßigen versuchte. Niemand am Stammtisch nahm Notiz von ihnen, sie waren alle zu konzentriert auf ihren Karten.

Die Verletzung steckte in ihr wie ein Angelhaken im Rachen eines noch zappelnden Fisches. Sie hasste ihn und hätte ihn am liebsten umgebracht. Oder besser noch diesem Biest mit den Stöckelschuhen ihr lächerliches Täschchen um die Ohren gehauen. Hannah selbst trug immer dasselbe Paar Turnschuhe. Nur bei der Arbeit zwängte sie ihre geschundenen Füße in schwarze Ballerinas, zu ihrer Kellnerinnenkluft passend. Warum hatte sie nicht gemerkt, dass er auf Eleganz stand? Aber was hätte es geändert? Sie würde sicher nicht in Stöckelschuhen durch die Gegend staksen. Sophie versuchte ihr Bestes, ihre Freundin zu beruhigen, aber es gelang ihr nicht. Als der Wirt gegen fünf Uhr morgens seinem Hobby genug gefrönt und die Bude dicht gemacht hatte, trollte sie sich wie ferngesteuert nach Hause. „Er ist es nicht wert!“, hörte sie noch Sophies Stimme, während diese um die Ecke verschwand.

In einer seltsam grauen Stimmung zwischen Nacht und Einbruch des Tages, sah sie, wie das unschuldige Dorf langsam zum Leben erwachte. Auch Hannah schaltete unwillkürlich, in automatischer Gewohnheit, das Licht ein, setzte sich aufs Bett und starrte zum Fenster. Nicht vorstellbar, dass noch zu Mittag rosa Wolken über den Häuser schwebten. Der Bäcker fuhr seine Runde und die zwei Hunde des Nachbars begrüßten den Tag mit einem ausgiebigen Gekläffe, was ihr Kater Carlo dazu bewog, im tagtäglichen Schrecken darüber die Vorhänge hinauf zu springen. Es gibt Dinge, an die gewöhnt man sich nie! Im selben Moment, an diesem besagten Morgen, brannte die Glühbirne über ihrem Küchentisch durch. Sie bäumte sich ein letztes Mal mit einem kurzen Aufblitzen auf, bevor sie erstarb. Hannah saß still im dämmrigen Licht und konnte alle Umrisse der Gegenstände deutlich erkennen. Sie sah sich sitzen, von den Schatten ihres Lebens umgeben und das war der Punkt, an dem sie beschloss, dass sie hier nichts mehr hielt. Sie hatte keine Zeit, um zu warten, bis die Zeit alle Wunden heilen würde.

Lebensgeister

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