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Nacht auf der Piazza Garibaldi

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Sie ließ ihren Blick über die Piazza schweifen, auf der sie ausgestiegen war, um irgendwo ein Lokal zu entdecken, das den Anschein erweckte, dass es noch länger offen hätte. Sie sah gleich eine Statue des Nationalhelden, dessen Namen sie genannt hatte. Ihm dankend entdeckte sie ein in den aufdringlichen Farben des Milieus beleuchtetes Lokal mit dem viel versprechenden Namen „Lucia“, der in roten Leuchtbuchstaben über der Tür blinkte. Davor befand sich eine Gruppe rauchender Leute, die, aufgrund des Rauchverbotes im Lokal auf der Straße ihrer Sucht frönen mussten. In der Hoffnung, dass es sich doch nicht um eine Bude des befürchteten Milieus handelte, näherte sie sich und stellte erleichtert fest, dass die Leute auch Frauen dabei hatten, die relativ seriös aussahen. Sie betrat neben ihnen das Lokal, ohne dass sie eines Blickes gewürdigt wurde. Erleichtert ließ sie sich auf einen freien Stuhl an einem kleinen Tischchen sinken, auf dem eine Kerze schon fast heruntergebrannt vor sich hin flackerte. Überhaupt gab es auf allen Tischen Kerzen und die Musik war jazzig. Glücklich, etwas gefunden zu haben, wo sie sich niederlassen konnte, um die Zeit bis zu ihrem Zug am Morgen zu verbringen, bemerkte sie nicht gleich, dass sich doch tatsächlich vorne auf einer kleinen Bühne eine Gogotänzerin halb nackt um eine Stange wickelte. Diese warf der Männerwelt im Lokal tiefgründige Blicke zu und ließ überhaupt tiefe Einblicke zu. Genervt dachte sie: „Auch das noch! Das ist wohl das Letzte, was ich jetzt noch brauche!“ Zwanghaft versuchte sie, in eine andere Richtung zu schauen, was sich als gar nicht so einfach erwies. In der anderen Richtung musste sie in Männergesichter blicken, die aus zweierlei Gründen sabberten. Der eine Grund war zu viel Alkohol. Angeekelt sah sie auf ihren Tisch, sah der Kerze zu, wie sie ihrem vorprogrammierten Ende entgegen züngelte. Allmählich gelang es Hannah, sich zu entspannen.

Sie wurde aus ihren Grübeleien gerissen vom Kellner, der ihr mit einem nicht ganz eindeutigen Lächeln eine neue Kerze anzündete und die abgebrannte in der Tasche seiner langen, roten Schürze verschwinden ließ, die er über einer hellen Jeans trug. Darüber bedeckte ein enges, weißes Hemd seinen muskulösen Oberkörper, das schwarze Haar mit ausgiebig Gel nach hinten gebändigt.

„Was darf es sein, Signorina?“ Sie hatte sich noch gar keine Gedanken darüber gemacht, was sie trinken wollte und sagte schnell in ihrem besten Italienisch das erste, was ihr in den Sinn kam:

„Ein großes Bier bitte!“ Den Blick kontrollierend über die anderen Tische schweifen lassend aber immer noch lächelnd verschwand er Richtung Theke:

Subito Signorina!“

„Das wäre geschafft!“, dachte sie, als er fünf Minuten später das Bier mit einem höflichen Salute! vor sie hinstellte. Da merkte sie erst, wie großen Durst sie hatte, und nahm gierige Schlucke wie eine Tiefseetaucherin, die seit langem wieder zu frischer Luft kam. Sie hätte auch Hunger gehabt, fühlte sich aber so unwohl, dass ihr Magen schon rebellierte, wenn sie nur daran dachte, etwas zu essen. Sie war zu aufgeregt und im Unklaren, wo sie hinschauen und wie sie die Zeit totschlagen sollte, die so schleichend verstrich wie immer, wenn man auf etwas wartete. Der Gedanke, hier zwischen dem sabbernden Männervolk dazusitzen und eine Pizza zu verspeisen, erschien ihr absurd. Es gab einfach Dinge, die nicht zusammenpassten! Sie wünschte fast, dass der Typ vom Zug, Pedro, bei der Tür hereinkommen würde, um sie aus ihrer unangenehmen Situation zu erlösen. Er würde seinen jugendlichen Lebenseifer versprühen, ohne Ende quatschen und die Zeit würde wie im Flug vergehen. Aber wer weiß, wo er war und was er gerade machte? Sie ertappte sich verwundert, dass sie innerlich lächelte, wenn sie an ihn dachte. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert, dass sich ein so liebevolles Gefühl einstellte, wenn sie an jemanden dachte. Warum nur, sie kannte ihn doch gar nicht! Es war wahrscheinlich nur, weil er einer dieser Menschen war, in deren Gegenwart man sich hundertprozentig wohl fühlte. Sie kramte in ihrer Tasche und fand seine Zigarettenschachtel. Leicht zitternd zündete sie sich eine Zigarette an, zog verzweifelt daran und starrte auf die Telefonnummer, die er draufgekritzelt hatte. „Ich sollte ihn anrufen“, schoss es ihr durch den Kopf. „Nein, das war unmöglich! Was würde er sich dann wohl denken“, verwarf sie den Gedanken so schnell wie er gekommen war.

Fast im selben Moment erschien der Kellner und machte sie darauf aufmerksam, dass das Rauchen im Lokal verboten war.

Scusa!“ stammelte sie entschuldigend. Sie wusste es ja, hatte nur einfach nicht mehr daran gedacht. Macht der Gewohnheit. Bedauernd machte sie die Zigarette auf einem Bierdeckel aus, da natürlich auch keine Aschenbecher auf den Tischen standen. Der Kellner tolerierte dies ausdruckslos, das Lächeln war ihm in der Zwischenzeit abhanden gekommen. Sie blickte ihn verstehend an, sie kannte den Job. Irgendwann verlor sich das Lächeln, das man bei Dienstantritt aufsetzte, zwischen den Tischen und der Schank. Es fiel in ein Bier, klebte am Tablett oder wurde von einem blöden Spruch eines Gastes zu Tode gewürgt und es gelang einem die ganze Nacht nicht mehr, es wieder zum Leben zu erwecken. Sie überlegte sich, ob sie hinausgehen sollte, um zu rauchen. Dort standen sicher irgendwelche Gleichgesinnte, wenigstens, was ihre Nikotinsucht betraf, herum und sie hatte absolut keine Lust, blöd angequatscht zu werden. Die Sucht war jedoch stärker und sie griff nach ihrer Handtasche, nahm das Feuerzeug und die Zigarettenschachtel, legte die vier Euro fürs Bier auf den Tisch und versuchte selbstsicher zu wirken, als sie auf den Ausgang zusteuerte. Sie wurde von verschieden gearteten Blicken gemustert. Sie ignorierte diese, vermied gekonnt jeglichen Blickkontakt und verließ die Bar.

Die Piazza lag im warmen Licht der vielen Straßenlaternen. Eine südliche Wärme schlug ihr ins Gesicht und eine laue, angenehme Brise strich ihr über die Wangen. Sie zündete sich genüsslich eine Zigarette an und schlenderte über die Piazza, wo sie um die Ecke eine Villa mit unzähligen Türmchen und Erkern, gedeckt mit einem roten Tonziegeldach, erblickte. Neugierig ging sie darauf zu. Sie war umgeben von einer Steinmauer und von Zypressen flankiert. Der Garten übertraf in seiner wilden Schönheit alles bisher Gesehene. Es wuchs einfach alles, was in der mediterranen Botanik Rang und Namen hatte: Ein Feigenbaum, Zitronen, Oleander und natürlich eine Palme, um dem Werk die Krone aufzusetzen. Auch wuchsen allerhand andere wundersame Pflanzen, die sie nicht kannte und die einen betörenden Duft verströmten. In der Mitte war ein Stück Rasen, in dessen Zentrum ein sicher zwei Meter hoher Engel aus Stein über die Villa wachte. Der Engel hatte einen Flügel aufgespannt und einen eng an den Körper geschmiegt. Er hatte seinen weichen, traurigen Blick auf die Villa gerichtet. Fasziniert blieb sie stehen. Wie konnte man aus Stein so ein Wunderwerk schaffen? Wer hatte so viel handwerkliches Geschick, um so eine Komposition an Schönheit zu kreieren? Sie sah eine Treppe, die sich am Ende des Weges aus Kopfsteinpflaster zur Haustüre erhob. Die speckigen Stufen waren von jahrhundertelangem Kommen und Gehen muldenartig ausgelatscht. Versunken in diesen Anblick verharrte sie, die Nase durch die schmiedeiserne Einzäunung gesteckt. Plötzlich wurde sie durch eine Hand, die sich auf ihre Schulter legte, jäh aus ihren Träumereien gerissen. Ihr Herz setzte für einen Moment aus und raste dann wie wild. Der Schock bewirkte, dass sie nicht sofort im Stande war, sich umzudrehen.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken“, hörte sie eine bedauernde, ihr bekannte Stimme. Über alle Maßen erleichtert drehte sie sich um und blickte in die belustigt blitzenden Augen Pedros.

„Was machst denn du hier?“, brachte Hannah verstört hervor.

„Ich wohne hier in der Nähe mit zwei Freunden zusammen. Jetzt war ich noch auf ein Bier und erkannte dich sofort an deinen Haaren. So viele rennen hier nicht mit einer solchen Mähne herum!“ Die Art, wie er es sagte, ließ darauf schließen, dass dies als Kompliment zu werten war.

„Ich bin so froh, dich zu treffen!“, brach es aus ihr hervor. Am liebsten wäre sie ihm vor Erleichterung um den Hals gefallen, unterdrückte aber ihren Impuls und sagte nur lapidar:

„Ich muss mir noch ein paar Stunden um die Ohren schlagen, bis mein Zug fährt, und ich weiß nicht so wirklich, was ich anstellen soll.“

„Ich könnte noch ein weiteres Bier vertragen und dir ein bisschen Gesellschaft leisten! Wie wärs?“

Überglücklich über einen derartigen Zufall bemühte sie sich, locker zu antworten:

„Das wäre ganz okay. Ich war vorher schon in einer Bar, die erstbeste, die mir untergekommen ist, und ich muss dort sowieso meine Koffer abholen. Ich bin dort nur auf eine Zigarette raus. Die Bude ist zwar nicht nach meinem Geschmack, aber wenn man nicht alleine ist, ist sie wenigstens erträglich!“

„Die da drüben, Lucia, ja, die kenn ich. Ziemlich untere Schublade, aber wenn du sowieso noch einmal hinein musst, dein Gepäck zu holen, trinken wir dort was!“, erwiderte Pedro im Stadtkenner-Ton. Sie schlenderten wie alte Freunde über die Piazza zurück zur Bar und traten ein. Erleichtert warf Hannah einen Blick auf ihre Koffer, die noch immer in der Ecke standen.

„Du bist eine coole Socke, dass du hier dein Gepäck stehen lässt, aber den Unerschrockenen gehört die Welt! Es könnte genauso gut nicht mehr da sein“, bemerkte er.

„Ja, ich weiß, oft denke ich einfach zu wenig an diese Dinge! Ich muss mir angewöhnen, etwas vorsichtiger zu sein!“, murmelte sie, mehr zu sich selbst und nahm sich dies fest zum Vorsatz.

Ihr Tischchen war noch immer frei und sie ließen sich nieder. Pedro bestellte zwei Bier und sie registrierte erleichtert, dass er den Kellner nicht kannte, was bedeutete, dass er nicht in diesem Lokal verkehrte. Sie wusste zwar nicht warum, aber sie war nahezu glücklich darüber. Das Gespräch verlief von Anfang an ungezwungen und sie waren nie in der Situation, dass sie in peinliches Schweigen verfielen. Sie genoss es, das er sich offensichtlich ganz auf sie konzentrierte und sich nicht von den sich an den Stangen windenden Damen ablenken ließ. Taktvoll ließ er kein einziges Mal seinen Blick in deren Richtung schweifen. Nicht einmal zufällig! Hannah empfand das als sehr manierlich ihr gegenüber. Sie verstanden sich wie alte Freunde. Immer noch beeindruckt von der Villa fragte sie ihn, ob er etwas von diesem Haus wüsste.

„Das weiß hier jeder! Die Villa gehört der Familie eines alten, italienischen Adelsgeschlechtes. Im Laufe vieler Generationen haben sie einen großen Bücherverlag aufgebaut, der den gesamten Markt beherrschte und sie gewannen immer mehr Einfluss auf dem Literaturmarkt. Der Sohn der vorletzten Generation verliebte sich in eine kleine Angestellte in einem Büchergeschäft, mit der die Familie nicht einverstanden war. Die Familie versuchte mit allen Mitteln, diese Verbindung zu verhindern. Auch vor Intrigen, um einen Keil in die junge Liebe zu treiben, schreckte sie nicht zurück. Sie waren immer noch vom alten Schlag, in dem man sich mit anderen einflussreichen Familien vermählte, um die Besitztümer zu multiplizieren. Aber dieser Sohn scherte sich einen Dreck um die alten Konventionen und heiratete die kleine, sanfte Frau. Sie bekamen einen Sohn, der sich aber noch weniger als seine Eltern den alten Regeln fügen wollte. Er beendete weder die Ausbildungen, die sie ihm angedeihen lassen wollten noch blieb er in einer Arbeitsstelle mehr als einige Monate. Er sprühte immer vor Ideen, die zu verwirklichen ihm aber nie gelang. Die Leute bezeichneten ihn als hoffnungslosen Träumer. Eines Tages verschwand er spurlos. Niemand weiß etwas bis heute, weder warum noch wohin er verschwunden ist. Sowohl die Recherche der Polizei als auch die Anstrengungen eines Privatdetektivs, den die besorgten Eltern engagiert hatten, blieben erfolglos!“ Pedro nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Bier und fuhr wieder fort, nachdem er sich mit der Zunge genüsslich den Schaum von der Lippe geleckt hatte. „Jetzt leben die Eltern, die inzwischen schon alt sind, allein und verbittert in dieser Villa, die irgendein Vorfahre im 17. oder 18. Jahrhundert errichtet hatte. Genau weiß ich das nicht. Das von einem Urgroßvater aufgebaute Imperium auf dem Literaturmarkt ist geschrumpft auf ein einziges Verlagshaus, das nur Dank des ehrgeizigen Geschäftsführers, den sie eingesetzt hatten, noch gerade soviel abwirft, dass sie die Villa erhalten können und ihnen ein bescheidenes Auskommen sichert. Man sagt, sie hätten den Verlust ihres Sohnes nie überwunden und dadurch jegliches Interesse an Geschäften verloren.“

„Kennst du das Paar?“, fragte sie Pedro unvermittelt, doch dieser verneinte: „Nein, man sieht sie auch nie, ich wohne ja hier ganz in der Nähe. Sie gehen fast nie aus, höchstens, um Besorgungen für den täglichen Bedarf zu machen. Aber am gesellschaftlichen Leben haben sie seit dem Verschwinden ihres Sohnes nie wieder teilgenommen, und das ist jetzt sicher schon dreißig Jahre her!“

Die Geschichte berührte sie und die Art, wie Pedro sie erzählte, noch mehr. Sie hing an seinen Lippen und wünschte sich, er würde in alle Ewigkeit so weitererzählen. Hannah liebte Schicksalsgeschichten, besonders, wenn sie jemand so interessant erzählen konnte wie Pedro. Plötzlich warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr und erschrak. Sie musste sich auf den Weg zum Bahnhof machen, um den Morgenzug nach Neapel zu erwischen. Wo war die Zeit geblieben? Er bot ihr natürlich an, sie zum Bahnhof zu begleiten. Sie bezahlten rasch, schnappten die Koffer und verließen das Lokal. Sie nahmen ein Taxi und kamen dieses Mal ohne Umwege rechtzeitig am Bahnhof an und hatten bis zur Abfahrt des Zuges gerade noch eine halbe Stunde, um in einer Bar einen Espresso zu trinken. Dank Pedro, der den Bahnhof kannte und wusste, wo der Zug abfuhr, mussten sie die Zeit nicht mit der Suche nach dem Bahnsteig vergeuden. Sie tranken schweigend im Stehen an der Theke ihren Espresso, Pedro mit drei Löffelchen Zucker, sie mit einem. Das lockere Gespräch war versiegt. Hannah bedrückte der Abschied. Schweigend schnappte sich jeder von ihnen einen Koffer und sie steuerten auf den Bahnsteig zu, sie drei Schritte hinter Pedro, den kleineren der beiden Koffer schleppend. Müde und mutlos war sie froh, dass sie sich um nichts kümmern musste. Pedro brachte sie zum richtigen Bahnsteig, zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges. Plötzlich wünschte sie sich zu bleiben. Mit Pedro mitzugehen und bei ihm zuhause weiterzureden, einen Kaffee zu trinken und dann schlafen zu gehen und nicht alleine weiterzureisen ohne zu wissen, was sie erwarten würde. Er bräuchte sie nur danach zu fragen und sie würde so tun, als ob sie es sich noch überlegen müsste. Dann würde sie widerstrebend einwilligen um ihm nicht das Gefühl zu geben, als ob sie nur darauf gewartet hätte. Sie würde locker sagen: „Okay, aber nur ein paar Tage!“ Der Zeiger der Bahnhofsuhr rückte kein Erbarmen kennend weiter, ohne dass Pedro auf diesen glorreichen Gedanken kam. Sie verschluckte sich fast daran, dem Impuls zu folgen und zu sagen: „Ich denke, ich bleibe noch einen Tag um mir die Stadt anzusehen.“

Die Stimme aus dem Lautsprecher verkündete, dass der Intercity nach Neapel im Begriff war, einzufahren und die Gäste wurden aufgefordert, hinter der gelben Linie zu verharren. Pedro umarmte sie und küsste sie wieder auf die Wangen und dieses Mal war seine Wärme grausam. Sie beherrschte sich und wünschte ihm viel Glück bei seinem Studium. Verzagt stieg sie die hohen Stufen in den Zug und Pedro reichte ihr das Gepäck hinauf:

„Lass mal was hören von dir!“, rief er ihr zu, „meine Nummer hast du doch noch, oder?“ Hannah rang sich ein Lächeln ab:

„Natürlich, ich ruf dich an, wenn ich am Ziel bin!“

Die Türen schlossen sich pneumatisch mit dem Fauchen einer wütenden Katze und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Sie winkte ihm noch, bis sie ihn nicht mehr sah, dann ließ den Arm sinken. Naja, was hatte sie sich denn erwartet?! Das fing schon gut an, wenn sie sich wegen jeder Lappalie aus dem Konzept bringen ließ! Sie war unterwegs ins Abenteuer, es würde spannend werden! Sie war noch nicht einmal am Ziel angelangt und schon so durcheinander wie der Häkelkorb ihrer Vermieterin. Was zum Kuckuck sollte das denn! Energisch raffte sie ihr Gepäck zusammen und zog es durch die engen Gänge, kämpfte sich an stehenden Leuten und abgestelltem Gepäck vorbei bis sie einen Sitzplatz fand. Sie hatte Glück, denn der Zug war alles andere als dünn besetzt! Hannah hievte ihre Koffer auf den Gepäcksträger. Dieses Mal half ihr niemand, aber das war egal! Sie war es gewohnt anzupacken und hatte ganz schön Kraft in den Armen. Sie setzte sich auf den leeren Platz am Fenster gegen die Fahrtrichtung, was sie normalerweise zu vermeiden versuchte, da ihr davon immer flau im Magen wurde. Aber jetzt war sie so fertig, dass es ihr einerlei war, wie sie saß. Hauptsache, sie hatte einen Platz, und sie spürte plötzlich eine derartige Müdigkeit in sämtlichen Knochen, dass sie nicht mehr imstande war, die Augen offen zu halten. Es war nur eine Frage von Minuten, bis sie einnicken würde. Die Welt war voller Müdigkeit und sie fiel in einen unruhigen Schlaf.

Sie träumte wirres Zeug vom Kellner in der Bar, der ein Komplize von Pedro war. Es wurde ihr aber nicht klar, welche Art von Geschäften sie pflegten. Alles war verwirrend, sie gingen in der Villa, die sie gesehen hatte, ein und aus, als ob es die ihre wäre! Plötzlich entdeckte sie der Kellner und verfolgte sie. Sie rannte und rannte, verlor die Kontrolle über ihre Beine und stürzte. Sie sah Pedro hämisch grinsen und spürte eine grenzenlose Enttäuschung. Es öffnete sich der Boden und sie stürzte in eine nicht mehr enden wollende schwarze Tiefe. Sie kam aber nie irgendwo an oder schlug irgendwo auf! Sie stürzte und stürzte…endlos, bis sie schweißgebadet aufwachte. Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und ihr war übel. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte, als es ihr endlich gelang, ihre Augen wieder zu öffnen. Wenigstens draußen war die Dunkelheit besiegt worden von einer gleißenden Sonne, die schon relativ hoch am Himmel stand und erbarmungslos auf das von der Hitze gemarterte Land herunterglühte. Ihr brach erneut der Schweiß aus, sie fühlte sich schwach und zittrig. Der Traum wirkte noch nach wie eine Tetanusspritze im Allerwertesten! Routinemäßig warf sie einen Blick auf ihre Armbanduhr. Es war schon fast elf Uhr, was hieß, sie hatte die ganze Strecke geschlafen wie eine Tote und würde in einer halben Stunde am Ziel sein. Neapel! Mit einem eigenartigen Gefühl blickte sie zum Fenster hinaus. Sie konnte nicht feststellen, wo sich der Zug gerade befand.

Die Landschaft präsentierte sich nun wie ein Teppich in Naturtönen, gewoben aus Feldern verschiedener Kulturen: Tomatenplantagen, Weinreben, Olivenhaine und brachliegendes Land. Die meisten eingesäumt von Sträuchern als Begrenzung der Grundstücke. Ein schmaler, kurviger Weg verlor sich im Nirgendwo zwischen den Feldern. Ruinen verfallener Gehöfte, von denen nur noch Reste der Grundmauern das Abwandern ihrer untreuen Bewohner überdauert hatten. Sie sah ein mittelalterliches Dörfchen, an einen Hügel gekuschelt, von einem uralten Glockenturm gekrönt. Die Häuser aus Stein erbaut, mit Dächern aus halbrund geformten Ziegeln aus Ton. Und sie sah das Meer! Unsagbares Blau! Ein abermaliger Blick auf ihre Uhr bewies ihr, dass sie nun bald angekommen sein müsste und es begannen auch tatsächlich schon einige Mitreisende, ihr Gepäck zusammenzuraffen. Es brach eine emsige Unruhe im Abteil aus, von der sie sogleich angesteckt wurde. Sie holte ihre Koffer herunter und stellte sie in den Gang, setzte sich auf einen und beobachtete durch ein trübes, verschmiertes Fenster, wie eine öde, baumlose Gegend vorbeizog. Der Zug tuckerte im Schritttempo durch die Vororte von Neapel. Mit kleinen Schritten bewegten sich die Reisenden wie eine zusammenhängende klebrige Masse Richtung Tür. Es vergingen noch lange Minuten, bis der Zug endlich langsam und quietschend in den Hauptbahnhof einfuhr.

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