Читать книгу Lebensgeister - Valerie Travaglini - Страница 9

Unterm Wäschehimmel

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Ein schwüle Hitze und eine geballte Ladung Bahnhofsgerüche schlugen ihr entgegen, die ihr für einen Augenblick den Atem raubten. Es ging bereits der Mittagszeit zu und kein Luftzug verirrte sich in die Halle. Sie schaute sich um, um sich einen Überblick zu verschaffen und vor allem, um den Ausgang zu entdecken. Die Decke präsentierte sich als imposantes Gewölbe aus Stahl und Glas, Menschenmassen strömten in alle Richtungen. Wider Erwarten entdeckte sie ein Schild, das auf den Ausgang hinwies. Zielstrebig steuerte sie auf diesen zu und befand sich auf dem Vorplatz. Unter einem ewigen Flugdach befanden sich unzählige Autobusse und noch länger war die Schlange der auf Fahrgäste wartenden Taxis. Auf einem Schild sah sie, dass die Piazza tatsächlich wieder den Namen „Garibaldi“ trug und ihr wurde ganz heimelig ums Herz, als sie gegen ihren Willen an Pedro denken musste. Ihre Aufmerksamkeit wurde aber dann doch vom Anblick in Anspruch genommen, der sich ihr bot. Ein Berg aufgestapelter Metallcontainer in allen Farben, angegriffen von Rost und Zeit. Ein nie zu Ende gebrachter Wohnblock im Rohbau aus Beton mit einem vergessenen Kran neben einem futuristischen Gebilde mit der riesigen Aufschrift „CEFLA“, die sicher in der Nacht blinkte. Dahinter ein weiteres Hochhaus, das mit der dreißigsten Etage bedächtig am Himmel kratzte. Es schien zu wetteifern mit einem „Holiday Inn“ Hotel, das fast dieselbe Höhe erreichte, ein hässliches Gebäude aus den sechziger Jahren inmitten eines Dickichts von Kaminen, Rohren, Hallen und Beton. Irritiert wendete sie sich ab und blickte um sich. Sie entdeckte einen Abgang zur U-Bahn: „Linea metropolitana Pozzuoli-Gianturco“!

„Was für ein Name!“, dachte Hannah hingerissen, worauf ihr die Frage durch den Kopf schoss, wo sie sich fürs Erste ein Zimmer suchen sollte. Die Bahnhofsgegend schien ihr nicht ideal…Sollte sie mit der U-Bahn auf gut Glück ein paar Stationen fahren? Sie könnte auch ein Taxi nehmen, wusste aber ohnehin nicht, wohin sie sich bringen lassen sollte. Am Ende kurvte der Taxifahrer wieder kreuz und quer durch die Stadt, um sie einen Häuserblock weiter abzusetzen. Nein! Wo blieb da das Abenteuer?! Ein paar Stationen zu fahren und bei irgendeiner Station auszusteigen, deren Name ihr gefiel, das war Abenteuer pur!

Die Sonne brannte ihr erbarmungslos auf den Scheitel und drängte sie, nicht mehr allzu lange für ihre Entscheidung zu brauchen. Ohne noch weitere Gedanken zu verschwenden, war sie schon Richtung U-Bahn unterwegs. Mit einer nicht enden wollenden Rolltreppe fuhr sie in den dunklen Bauch der Stadt. Die Metros fuhren in dichten Intervallen, aber alle waren gleichermaßen überfüllt! Sie drängte sich mit ihren Koffern hinein und fand kaum Platz zum Stehen. Sie fühlte sich wie eine Außerirdische mit ihrem Gepäck, das sie wie schon des Öfteren auf dieser Reise verfluchte. Mannigfaltigste menschliche Gerüche drangen in ihre Nase und der Schweiß brach ihr aus allen Poren. Ihr Kreislauf schien nicht mehr mitzuspielen und ihr wurde schrecklich übel. Dieser Umstand ließ sie schon früher aussteigen als gewollt und wartete nicht darauf, bis ihr ein Name besonders gut gefiel.

Sie boxte sich in „Campi Flegrei“, was auch immer das bedeuten sollte, aus dem Waggon und atmete befreit die kühle Luft in der U-Bahnstation. Eine Weile stand sie da, um ihrem Kreislauf die Gelegenheit zu geben, sich wieder zu erholen, umgeben von Menschenmassen, die sie in

allen Richtungen umspülten wie einen Felsen in der Brandung. Ein Stich jagte durch ihren Körper, als ihr einfiel, dass sie nicht einmal eine Karte gelöst hatte. Sie musste einfach mehr bei der Sache sein, damit sie sich nicht auf Grund von Gedankenlosigkeit Schwierigkeiten einhandelte!

Die Rolltreppe brachte sie langsam wieder ans Tageslicht, mit jedem aufsteigenden Meter spürte sie die unerträgliche Hitze stärker die draußen herrschte. Sie merkte sich die U-Bahn-Station und versuchte zu registrieren, welche Wege sie einschlug. Sie brauchte irgendwelche Anhaltspunkte zur Orientierung. Sie entschied sich für eine schmale Gasse, über die von den Häusern auf der einen Seite (quer über die Gasse) zu denen auf der anderen Straßenseite Wäscheleinen gespannt waren. Bunte Tischwäsche, Leintücher, Jeans, Hemden und Spitzenhöschen dorrten in der Sonne vor sich hin. Sie lief eine halbe Ewigkeit unter dem Wäschehimmel und schmunzelte:

„Es ist also wirklich wahr, das mit der Wäsche in Neapel! Es hätte auch ein Klischee sein können, das auf den Filmen mit Sofia Loren beruhte. Sie fragte sich, wie das wohl die Hausfrauen machten? Sie entdeckte zu ihrer Freude des Rätsels Lösung: Etwas wie eine Rolle, mit deren Hilfe man die Wäsche wieder zum Fenster hineinziehen konnte! Blieb nur noch die Frage, wer garantierte, dass die Hausfrau gegenüber…“

Durch einen dumpfen Schlag auf den Hinterkopf wurde Hannah jäh aus ihren Gedanken gerissen. Sie wusste nicht, wie ihr geschah und taumelte heftig nach vorne, sodass sie der Länge nach hinfiel. Sie sah nur noch ein Motorrad in einem eleganten Schwung davonbrausen, der Typ auf dem Rücksitz schwang Hannahs blaue Handtasche der die Schulter. Sie war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Handtasche war weg, das war klar! Gott sei Dank hatte sie ihr Bargeld vorsorglich im Koffer zwischen den Socken und der Unterwäsche verteilt… aber trotzdem! Was war alles in der Handtasche? Hannah tastete vorsichtig über ihren dröhnenden Hinterkopf. Gott sei Dank kein Blut! Dafür brannte dieses heiß in ihren Wangen und sie war unschlüssig, was sie tun sollte. Sollte sie zur Polizei? Ach, das hatte hier sicher keinen Sinn, niemand beachtete sie. Sie stand benommen auf und der Vorfall schien von keinem bemerkt worden zu sein. Die Menschen umschifften sie und gingen ihrer Wege. Hannah wusste nicht, wie lange sie so dagestanden hatte, bis sie entschlossen ihren Mut und ihre Koffer zusammenraffte und weitermarschierte. Was solls? Umkehren kam nicht in Frage, also ging es nur vorwärts! Ihr selbst war ja nichts passiert, versuchte sie sich zu trösteten. Ihre Knie zitterten, als sie sich planlos weiterschleppte. Sollte sie vielleicht doch zur Polizei? Sie beschloss, sich erst einmal eine günstige Pension zu suchen. Ein bed and breakfast vielleicht? Hannah hatte lange gespart, auf etwas Undefinierbares. Sie wusste nie, was es sein würde, hatte aber jahrelang immer ihr gesamtes Trinkgeld auf die hohe Kante gelegt. Das Einkommen war für die Miete und die Dinge des täglichen Lebens draufgegangen. Große Sprünge konnte sie sich trotzdem nicht erlauben, da sie mit dem Geld auskommen musste, bis sie einen Job finden würde.

Auf einem der klitzekleinen Balkone, auf denen gerade ein Stuhl Platz hatte und die mit Plastikblumen verziert waren, saß ein alter, grauhaariger Mann mit einem grauen Käppchen tief in die Augen geschoben und schaute qualmend dem bunten Treiben auf der Gasse zu. Sie sah sogar von der Straße aus, dass die Finger seiner alten, knorrigen Hand gelb waren vom Nikotin. Er genoss sichtlich den Vorteil, dass ihm das gegenüberliegende Haus Schatten spendete. Auf dem Balkon neben ihm saß ein anderer Signore, vom Aussehen fast identisch, der mit gesenktem Kopf sein Nickerchen hielt. Fast alle Balkone waren bevölkert von lärmenden Kindern, ihre Ansprüche auf zwei Quadratmeter reduziert. Man konnte die Menschen beobachten, wie sie lautstark lamentierten und Kaffee tranken. „O sole mio…“ schmetterte aus einer Wohnung über die Gasse. Der Duft nach Sugo drang ihr in die Nase und ließ ihren Magen knurren. Ab und zu schob eine donna di casa den Vorhang zur Seite, der die Wohnung vor Hitze und Mücken schützte und verdeutlichte ihrem auf dem Balkon sitzenden Gatten wild gestikulierend etwas, was Hannah nicht verstehen konnte. Eine signora, die zweifelsohne die gute Küche nicht verachtete und mit einer blumigen Mantelschürze bekleidet war, stach ihr ins Auge. Sie stand auf ihrem Balkon, auf dem sich ein Schuhkasten befand, auf dem Kochtöpfe gestapelt waren. Sie selbst hatte gerade noch Platz zum Stehen. Oberhalb der Balkontüre hatte sie ein Dach aus Wellblech montiert. Eine Unmenge an Elektrokabeln, die behelfsmäßig montiert waren, um irgendwelche Geräte und Lampen mit Strom zu versorgen, umrahmte gefährlich wie ein Spinnennetz die Türe. Vom Balkon aus hatte auch sie ihre Unterwäsche aufgehängt. Der BH erinnerte an aufgeschlagene Zelte und die Unterhosen, ebenfalls sehr geräumig, präsentierten ein nicht mehr überzeugendes Weiß. Die signora sah so aus, als könnte sie nichts auf der Welt jemals aus der Ruhe bringen. Zufrieden blickte sie die Gasse hinunter und trällerte aus voller Kehle das Lied mit, das sich wie ein Ohrwurm in ihr festgesetzt hatte. Man kann auch mit wenig zufrieden sein! Diese Frau war der Beweis, dachte sie Es brauchte nicht viel, um glücklich zu sein! Sie musste nur einen Job finden, eine kleine Wohnung… Und vielleicht ein paar Quadratmeter unter freiem Himmel. Das wäre dann das Häubchen Sahne auf ihrem Cremetörtchen „Neues Leben“ aus feinsten Zutaten: Wohlgefühl ohne Vergangenheit, ohne Bedauern. Reizvoll, aufregend, unbeschwert und manchmal still. Ein Schuss Liebe, je nach Geschmack. Es würde in südlicher Sonne garen und mit einer kühlen Brise, die vom Meer herwehen würde, auskühlen. Sie würde alles selber entscheiden, das Törtchen verzieren mit lauter Dingen, die ihr Spaß machten – für die sie aber bis jetzt weder Zeit noch Energie gehabt hatte.

Träumend schritt sie unter den Wäscheleinen einher, und malte sich ihr Lebenstörtchen aus. Es befiel sie wie aus dem Nichts eine nie gekannte Fröhlichkeit und das Wissen, dass sie alles schaffen würde! Ein Gefühl, das sie, soweit sie sich erinnern konnte, noch nie in derartiger Intensität verspürt hatte. Sie spitzte schon die Lippen, um ihr Lieblingslied zu pfeifen, als sie plötzlich von einem seltsamen Typen angequatscht wurde. Er trug das schwarze Haar, das mit silbernen Fäden durchzogen war, schulterlang und zerzaust vom Wind. Feine Lachfältchen umrahmten seine dunklen Augen und auch seine Wangen waren von jeweils einer tiefen Lachfalte gezeichnet, was ihm einen sympathischen Ausdruck verlieh. Er hatte eine von der Sonne gegerbte Haut, als ob er seine Zeit auf dem Meer verbringen würde. Seine helle Leinenhose hing ihm locker um die Hüften, darüber trug er ein jeansblaues, verwaschenes Hemd, ebenfalls aus grobem Leinen. Er war

auf eine Art gekleidet, die den Eindruck vermitteln sollte, dass er nicht viel Wert auf das aktuelle Modediktat legte, um dadurch einen lässigen unkonventionellen Lebensstil zu symbolisieren. Er war mit einem langen Lederband geschmückt, an dem ein großer Anhänger in Form eines Auges baumelte. Er sprach sie auf eine Art an, die wirkte, als ob er auf keinen Fall einen falschen Eindruck bei ihr erwecken wollte. Sein Erscheinungsbild war derart vertrauenswürdig, dass sie nicht sofort auf Blockade schaltete, wie sie es normalerweise tat, wenn ein Fremder sie anquatschte.

„Sie müssen entschuldigen, aber ich muss Sie einfach ansprechen“, begann er mit einem offenen Lachen, „ich habe schon lange niemanden mehr gesehen, der so fröhlich lächelnd dahinspaziert wie Sie!“ Sie wurde sich bewusst, dass sie das ausstrahlte, was sie im Moment fühlte.

Grazie!“, gab sie lachend zurück, „ich fühle mich auch super im Moment!“

„Was führt Sie in dieses Viertel? Hierher verirrt sich normalerweise nie ein Tourist!“, fuhr er fort.

„Eigentlich reiner Zufall. Ich bin auf der Suche nach einem Zimmer, wo ich ein paar Tage unterkommen kann und das nicht zu teuer sein sollte. Ich wollte es dem Schicksal überlassen, wohin es mich führt!“, scherzte sie immer noch bestens gelaunt.

„Es ist gut, sich auf das Schicksal zu verlassen. Man sollte sich nicht zu viele Probleme machen im Leben, da es uns sowieso dorthin führt, wo es uns haben will. Ich glaube auch ans Schicksal!“ Er zog dazu theatralisch die linke Augenbraue hoch. Hannah musste lachen.

„Ich wohne hier in einem angrenzenden Viertel mit ein paar Leuten zusammen und es ließe sich sicher einrichten, dass Sie ein paar Tage bei uns unterkommen. Wir haben eine Art Gästezimmer. Positive Menschen sind uns immer willkommen!“

Hannah stockte und ihr Vorsichtssinn machte sich bemerkbar wie das Warnlämpchen auf dem Armaturenbrett ihres Autos, das aufleuchtete, wenn etwas nicht stimmte. Er bemerkte ihre Skepsis:

„Ich habe keinerlei persönliches Interesse, weder an Geld noch an sonst etwas, glauben Sie mir! Sie schauen sich das Zimmer an und dann entscheiden Sie! Mir ist klar, dass Sie zweifeln, was auch vollkommen normal ist. Sie kennen mich nicht und Argwohn ist durchaus angebracht, doppelt hier in Neapel. Aber ich versichere Ihnen, es sind alles angenehme Leute und ich will Ihnen wirklich nur meine Hilfe anbieten.“

… „In Wahrheit habe ich die auch dringend nötig, man hat mir gerade meine Handtasche gestohlen und ich weiß nicht, was ich tun soll!“

… „Gehen wir erstmal nach Hause, ich kümmere mich dann um Ihre Tasche! Nehmen Sie das als Ihre erste Lektion in dieser Stadt: Man muss hier höllisch aufpassen!“

Irgendetwas an seiner Art, vielleicht war es seine gewählte Ausdrucksweise, zerstreute ihr Misstrauen und sie hatte das Gefühl, ihm vertrauen zu können. Zumindest konnte sie es sich mal anschauen. Was sollte schon passieren? Konnte sie es sich leisten, eine derartige Möglichkeit in den Wind zu schlagen? Vielleicht würde sie wirklich bis zum Abend kein Zimmer finden und dann würde es eng werden. Die Vorstellung, sich eine weitere Nacht um die Ohren zu schlagen zu müssen, bewog sie dazu, zuzustimmen!

„Okay, ich schau mir die Wohnung gerne an und würde mich freuen, wenn ich ein paar Tage bei Ihnen wohnen könnte!“

„Sehr gut, dann mal los! Es ist eine viertel Stunde von hier zu Fuß, passt das für Sie oder sind Sie zu müde?“, ergriff er die Initiative.

„Müde bin ich ehrlich gesagt schon“, gab sie zu, „aber eine viertel Stunde halte ich noch durch!“ Ihr fiel auf, dass er sie immer noch siezte, was sie als krassen Gegensatz zu seiner Erscheinung empfand. Bei ihr zu Hause duzten sich alle lockeren Leute. Aber genau das gefiel ihr, da es ein Zeichen von Respekt war und eine angenehme Distanz schaffte.

„Schön!“, sagte er lächelnd und schnappte nach sich ihren größeren Koffer. Schweigend gingen sie hintereinander und betrachteten aufmerksam das glänzende Specksteinpflaster unter ihren Füßen. Die Gasse war voll geparkt und jedes Mal, wenn sich ein Auto den Weg in einem der Straßensituation völlig unangepassten Tempo bahnte, mussten sie sich an eine Hauswand drücken, um nicht gestreift zu werden. Es war ein mühsames Weiterkommen und die Koffer taten das Ihrige, das langsam ihre gute Laune verflog. Sie war auf einen Schlag müde und fühlte sich wie ein Straßenköter, der schon lange kein Plätzchen mehr ergattert hat. Ihre Wangen glühten und das Haar klebte an ihrer Stirn. Sie bemühte sich, das drohende Ende ihrer Kräfte und ihres Frohsinns nicht vor dem hilfsbereiten Typen zu offenbaren, der sie ja nur ihres fröhlichen Wesens wegen eingeladen hatte. Vielleicht überlegte er es sich anders, wenn er ihr wahres ICH erkennen würde. Um das Schweigen zu brechen fragte sie der Mann unvermutet:

„Wie heißen Sie eigentlich? Jetzt werden wir vielleicht Wohnungsgenossen und ich weiß nicht einmal Ihren Namen!“

„Hannah“, gab sie zurück, „und Sie?“

„Salvo ist mein Name, und dieses Jahr werde ich fünfzig, nur damit Sie gleich wissen, dass Sie es mit einem alten Herrn zu tun haben“, scherzte er. „Ich bin selbst schockiert, wie die Zeit rast, innerlich fühlt man sich immer gleich… na ja, man darf das wohl nicht zu eng sehen, nicht wahr?“

„Das geht wohl allen so! Ich kann mich noch erinnern, sehnsüchtig darauf gewartet zu haben, endlich siebzehn zu werden! Siebzehn klang so verheißungsvoll Siebzehn klang nach: Dir gehört die Welt! Inzwischen denke ich: „Schon wieder so ein Scheißgeburtstag!“

„Deshalb feiere ich an meinem wirklichen Geburtstag“, warf Salvo ein.

„Was bedeutet, Ihr wirklicher Geburtstag?“

Versonnen schaute er auf das ausgelatschte Pflaster aber die Andacht war nur von kurzer Dauer. Er lächelte wieder:

„Ich bin einmal fast ums Leben gekommen und an diesem Tag feiere ich jetzt meinen Geburtstag. Weil einem erst bewusst wird, was etwas wert ist, wenn man im Begriff ist, es zu verlieren. Wir stoßen heute Abend noch auf meinen Geburtstag an, vielleicht sind meine Mitbewohner zu Hause! Ich habe noch eine feine Flasche Brunetto di Montalcino auf der Seite! Ein edles Tröpfchen!“

Es hätte sie sehr interessiert, wie er fast gestorben wäre, aber sie wollte nicht als indiskret gelten, verkniff sich also nachzufragen. Stattdessen nutzte sie die Gelegenheit, etwas über seine Hausgenossen zu erfahren:

„Wer sind denn Ihre Mitbewohner?“

Verschmitzt schmunzelnd antwortete er:

„Da hätten wir einmal eine ältere Dame! Das ist dezent ausgedrückt, denn sie hat in Wahrheit den achtziger schon fast erreicht!“ Auf Hannahs überraschten Blick hin fügte er schnell hinzu:

„.Aber stellen Sie sich bitte keine zittrige Greisin vor! Sie ist sehr agil und wunderbar!“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Dann gibt es noch Mario. Er ist mein Freund und verdient sich seine Brötchen als Pizzabäcker und der Vierte im Bunde ist Luca-Maria. Er ist der Enkelsohn der älteren Dame, der wir allesamt die Wohnung verdanken. Luca-Maria geht auf eine Schauspielschule, das heißt, noch nicht ganz, aber er ist auf dem besten Weg. Das will seine Oma, die das Ganze auch finanziert. Sie werden sie alle mögen, da bin ich überzeugt!“

„Eine interessante Kombination“, bemerkte Hannah. „Es muss spannend sein, mit so verschiedenen Menschen zusammen zu leben. Da ist sicher immer was los und es gibt gewiss genügend Gesprächsstoff, so dass man nicht dazu verdammt ist, sich vom Fernseher berieseln zu lassen, um sich nicht einsam zu fühlen!“

„Das stimmt wohl! Sprechen Sie aus Erfahrung?“

„Ja, irgendwie schon. Wenn man alleine wohnt, schaltet man ihn einfach ein, um die Stille zu brechen. Speziell wenn man ausgelaugt von der Arbeit ist oder nicht nachdenken will…“

Unvermittelt blieb er stehen:

„Ecco! Wir sind angekommen! Da ist unsere Luxus-Suite!“ Verblüfft betrachtet sie das Haus. Nicht in ihren kühnsten Träumen hätte sie sich erwartet, dass dieser Typ in so einem vornehmen Haus wohnte. Ihr wurde einmal mehr bewusst, wie man Menschen, die man kennen lernte, sofort gedanklich in eine Schublade steckte. Nur weil er sich unkonventionell gab, ging sie davon aus, dass er in einer Bruchbude wohnte. Eine Art von Wohngemeinschaft von Studierenden. Aber sie hatte sich geirrt. Das Gebäude hob sich von den anderen ab, die alle ohne Zwischenraum aneinandergebaut waren. Das Mauerwerk war restauriert, das Ganze mit einem frischen Anstrich in der Farbe Fuchsie versehen. Die Fensterrahmen waren weiß gestrichen, was das Haus unwirklich scheinen ließ. Ein Klein-Mädchen-Traum. Alle anderen Häuser hier machten einen verwahrlosten Eindruck. Die dreckige Farbe, die nicht mehr so wirklich zu erkennen war, splitterte ab, der Verputz bröckelt von den Wänden. Abenteuerliche Verkabelungen machten auch hier deutlich, dass man alles nicht so genau nahm, wie sie es von ihrer Heimat gewohnt war. Sie bewunderte antike Holztüren mit Türklopfern aus Eisen in Form eines Löwenkopfes, Oleander in Blumentöpfen liebevoll neben der Türe drapiert. Ein alter Holzstuhl, die Sitzfläche mit Stroh bespannt. Ein Postkartenmotiv, schoss es Hannah durch den Kopf. Die Häuser hatten allesamt vier bis fünf Stockwerke. Überall diese winzigen Balkone, die ihr gleich aufgefallen waren.

„Wir wohnen hier in diesem Haus im obersten Stock. Er zeigte mit dem Finger nicht ohne Stolz auf das fuchsienfarbige Haus. Es gehört uns die ganze oberste Etage mit etwa 150 m2, besser gesagt unserer zia Maria. Sie ist, wie ich Ihnen schon erzählt habe, die Oma von unserem Freund und Wohnungsgenossen Luca-Maria. Sie ist eine gepflegte Dame, es muss alles fein sein bei ihr. Sie hat selbst letztes Jahr die Farbe gewählt und die Arbeiten persönlich überwacht. Aber diesen Tick muss man ihr lassen, an Geld mangelt es ihr nicht! Zu ihrer Ehre, damit Sie sich nicht etwa ein falsches Bild machen, muss ich Ihnen sagen, dass sie zwar reich ist, aber im Gegensatz zu anderen Reichen sehr gebefreudig, besonders was ihren Enkel anbelangt und in einer für sie logischen Folge auch dessen Freunde!“

Etwas eingeschüchtert fragte sie tonlos:

„Meinen Sie, stört es zia Maria nicht, wenn ich einfach hier antanze?“ Er lachte laut auf:

„Aber nein! Ich sagte doch schon, wie sie ist und ich bin der Freund von ihrem Luca. Und Sie sind jetzt eine Freundin von mir und damit gehören Sie dazu! Haben Sie keine Sorge, es ist alles in bester Ordnung! Aber jetzt kommen Sie, wir wollen hinaufgehen und es uns gemütlich machen. Sie müssen müde sein und sicher haben Sie Hunger. Ehrlich gesagt, ich habe auch noch nichts gegessen! Ich mache uns einen feinen Teller Spaghetti! Mögen Sie frutti di mare oder lieber nur ein einfaches Tomaten - Sugo mit Basilikum?“

Er plapperte so unbeschwert dahin, dass sie ihre Scheu verlor, während sie gemeinsam mit den schweren Koffern die Treppen hinaufkeuchten. Die durchgetretenen Steintreppen schienen kein Ende zu nehmen und wanden sich unendlich bis in den fünften Stock hinauf. Oben angekommen musste sie stehen bleiben und hatte das Gefühl, dass ihre Organe nicht mehr mitspielen würden. Es fehlte ihr der Atem, es stach in der Lungengegend und das Herz raste. In solchen Situationen wurde sie immer vom Vorsatz gestreift, das Rauchen aufzugeben. Aber der verging dann wieder, sobald sie sich wieder besser fühlte.

Salvo suchte nervös sämtliche Taschen seiner Ober- und Unterbekleidung ab, bis er den Schlüsselbund ans Tageslicht beförderte.

„Ich habe fast täglich Angst, dass ich den Schlüssel verloren habe!“, begründete er seine Erleichterung.

Hannah schossen sämtliche Spleens durch den Kopf, die sie selber hegte und nickte zustimmend, ohne näher darauf einzugehen. Sie wollte auf keinen Fall die positive Vorstellung zerstören, die er von ihr hatte. Sie setzte alles daran, den Eindruck zu wahren. Sie fühlte sich wohl in dieser Rolle! Salvo sperrte die schwere Holztüre auf. Das Holz wirkte gesättigt und frisch geölt. Sicher auch das Werk von zia Maria, mutmaßte sie. Als sie eintraten, überraschte sie ein heller, einladender Saal, der ebenfalls unverkennbar die Handschrift der alten Dame trug. Sie hatte prächtige Ölgemälde, die ohne Ausnahme das Meer darstellten, an den groben weißen Wänden aufgehängt. Die dunklen, alten Holzmöbel hatten kobaltblaue Porzellanknöpfe als Griffe. Der Wind wehte durch das weit geöffnete Fenster den Hauch eines Vorhanges in strahlendem Weiß weit in den Raum. Auf einer Kommode standen in Reih und Glied eine Sammlung gerahmter Bilder, die allesamt einen Jungen darstellten, Luca-Maria vermutete sie. Luca als Baby, Luca als Fußballspieler, Luca auf einer Vespa, auf einer Mauer sitzend, an einer Wand lehnend, im Meer schwimmend, Luca, den Arm um seine Oma gelegt die zwei Köpfe kleiner war als er. Unschwer zu erraten, wer der Mittelpunkt ihrer grenzenlosen Liebe war. Auf der großen Tafel stand ein bauchiger Porzellankrug mit blauen Punkten und frischen Blumen darin. Rund herum reihten sich zehn schwere, dunkle Holzstühle. Vier an jeder Seite und einer jeweils am Kopfende. Der schwere Holztisch ließ sie nicht ohne Verzückung an eine Rittertafel denken. Es gab auch eine Wand mit Büchern und einen Fernseher. Sogar einen Plattenspieler entdeckte sie, der sie an längst vergangene Zeiten erinnerte. Offensichtlich war er noch in Gebrauch, denn zia Maria hatte dahinter in einem Regal eine beachtliche Sammlung an Schallplatten. Am Fenster war ein bequemer Stuhl platziert, der einen ausklappbaren Teil für die Beine hatte. Er war rohweiß und an den strapaziertesten Stellen etwas verschmutzt. Diverse fuchsienfarbenen Polster, die das Blau des Salons fröhlich unterbrachen, lagen auf dem Stuhl und der Couch verstreut. Sie hatte zweifellos einen eigenwilligen Geschmack! Salvo störte sie nicht in ihren Betrachtungen und notierte leicht belustigt, dass ihr der Mund offen stand.

„Ja unsere zia Maria ist eine feine Madame! Das sagte ich Ihnen bereits!“, riss er sie lächelnd aus ihren Gedanken.

„Das denke ich mir gerade!“ hauchte sie unsinnig.

„Gefällt es Ihnen?“ erkundigte sich Salvo, die Antwort schon wissend.

„Es ist bezaubernd! Einfach einzigartig! Ich habe noch nie einen so geschmackvoll eingerichteten Raum gesehen!“ rief sie begeistert aus.

„Das müssen Sie zia Maria sagen, dann haben sie schon ihr Herz erobert!“

In diesem Moment betrat die Dame den Raum, als ob sie gehört hätte, dass man von ihr sprach. Die Hausherrin entpuppte sich als eine kleine, zierliche, fragil wirkende Frau mit schneeweißem Haar. Auffallend war die Art, wie sie ihre Haare trug. Ganz entgegen den Usanzen anderer Damen ihres Alters, die Hannah bisher kennen gelernt hatte, trug sie ihr Haar glatt und lang, mit einer Spange aus Perlmutt am Hinterkopf zusammengehalten. Hannah kam es bis jetzt so vor, als ob es ein ungeschriebenes Gesetz wäre, dass es bei älteren Damen eine bläulich schimmernde Dauerwelle sein musste! Sie war ganz in rohweißes Leinen gekleidet. Ihren Hals umschmiegte eine Kette aus Perlen und Erinnerungen. Ihr Persönlichkeit war vollkommen anders, als der vom Alter reduzierte Körper vermuten ließ. In einem schönen, fast dialektfreien Italienisch begrüßte sie den Gast und stellte sich herzlich vor. Hannah erwiderte den festen Händedruck und ließ sich von zia Maria auf die Wangen küssen, wie es üblich war. Hannah beeilte sich, zu betonen, dass Salvo sie eingeladen hatte, ein paar Tage hier zu wohnen. Sie glaubte, erklären zu müssen, dass sie erst heute in Neapel angekommen war und sich nun eine Wohnung und eine Arbeit suchen musste.

„Ein nicht ganz einfaches Unterfangen, mia cara!“, bemerkte Maria, „aber schließlich ist nichts unmöglich, wenn man ein bisschen Grips mitbringt!“ Hannah wusste nicht, was sie mit dem Begriff „Grips“ in dieser Situation anfangen sollte, aber sie beschloss, nicht nachzufragen.

„Machen Sie es sich gemütlich, mia cara! Vielleicht wollen Sie sich erst frisch machen, Salvo kann Ihnen das Gästezimmer und die Wohnung zeigen. Ich hoffe, Sie finden sich zurecht und fühlen sich wie zuhause! Sie müssen wissen: Die Freunde von Luca-Maria sind auch meine Freunde und auch deren Gäste sind mir herzlich willkommen! Bleiben Sie, bis Sie eine Wohnung gefunden haben, wenn Sie wollen!“ Überwältigt von der Großzügigkeit dieser Frau bedankte sie sich und schenkte ihr ein gewinnendes Lächeln:

„Übrigens, Ihre Wohnung ist wunderschön!“

„Vielen Dank, mia cara! Wissen Sie, seit ich nicht mehr viel ausgehe, liebe ich es, zu wohnen. Wohnen ist doch etwas Wunderbares, nicht? Sich ein persönliches Umfeld zu schaffen und sich mit den Dingen umgeben zu können, die einem wichtig sind, finden Sie nicht?“

„Ja, ich hoffe auch darauf, eine Wohnung zu finden und habe schon viele Ideen, wie ich es mir gemütlich machen werde! Ich bin kreativ und ich kann aus nicht viel etwas erschaffen. Das ist eine Begabung, die ich von meiner Oma geerbt habe.“

„Das ist wunderbar! Kreativität ist eine Gabe, die man nicht hoch genug schätzen kann. Sehen Sie diese Bilder, die das Meer darstellen? Die habe ich alle selbst gemalt. Ich umgebe mich gerne mit kreativen Menschen. Sie inspirieren mein Leben. Das ist auch mein Rezept, dass ich so alt geworden bin.“ Sie lachte über ihren eigenen Scherz. „Mein Körper hält leider nicht mehr ganz Schritt, aber das kann man nicht verhindern. Aber das Altern des Geistes, mia cara, das kann man zumindest einbremsen! Und das Geheimnis ist Kreativität!“ Sie senkte den Kopf und sprach weiter:

„Ich habe aufgehört zu malen, als Luca, mein geliebter Mann, an einer schrecklichen Krankheit verstorben ist. Sie bekreuzigte sich rasch drei Mal und fuhr fort: „Jetzt beschäftige ich mich mit Literatur, mit Musik und gehe so auf Reisen. Ich komme überall hin mit meiner Fantasie, wissen Sie! Ich reise in die versteckten Winkel dieser Erde und in die Krümmungen der menschlichen Gedankengänge und das alles mit Hilfe meiner Bücher und meiner Musik“. Ganz in ihrem Element fuhr sie fort: „Natürlich gehe ich manchmal auch aus, etwa ins Theater, aber sehr selten. Man darf sich nicht ganz zurückziehen, sonst wird man seltsam, obwohl ich hier im Haus genug Inspiration habe mit den Jungen! Sie tragen maßgeblich dazu bei, dass ich nicht einroste und mich gehen lasse!“ Sie blickte zärtlich zu Salvo empor und fuhr schnell fort: „Aber jetzt genug geredet, Madonna! Ich schnattere wieder! Salvo! Zeig bitte der jungen Dame die Räumlichkeiten, sie ist sicher müde und ich rede wie ein Wasserfall!“

„Ich denke, ihr werdet noch genug Gelegenheiten zum Quatschen haben“, lachte Salvo und zog Hannah sanft am Arm in Richtung Ausgang, da klang ihnen noch Marias Stimme nach:

„Übrigens Salvo! Hast du zufällig meine Sandalen gesehen? Ich kann sie nirgendwo finden!“

„Leider nicht, zia, aber ich helfe dir dann suchen! Ich zeige noch schnell unserem Gast ihr Zimmer, damit sie endlich ihre Koffer loswerden kann!“

Während er sie ins Bad führte, erzählte er ihr, dass zia Maria sehr ordentlich war, aber ständig irgendetwas verlor. Wichtige und weniger wichtige Dinge. Sie flehte dann immer intensiv den heiligen Antonius an: „Sant` Antonio aiutami!“ Und tatsächlich fand sie den betreffenden Gegenstand dann meistens, was sie darin bestärkte, dass dieser Antonius tatsächlich eine Dinge findende Begabung innehatte. Hannah dachte, dass das sicher der am meisten Strapazierte aller Heiligen war!

„Außerdem redet sie fürs Leben gerne“, schmunzelte er, „aber das haben Sie ja gerade gemerkt! Das ist das Bad! Sie können gerne duschen, wenn Sie wollen, hier in dem Schrank sind Handtücher!“ Er deutete auf einen Wandschrank, ebenfalls aus dunklem Holz. Der Stil des Wohnzimmers fand hier seine Fortsetzung. Die Fliesen waren in einem hellen Blau gehalten und auf dem Boden waren Terrakotta Platten verlegt. Darauf schmiegte sich ein Teppich, flauschig wie eine weiße Wolke.

„Kommen Sie! Sie können Ihre Koffer ins Gästezimmer bringen und dann zeige ich Ihnen den Rest der Wohnung!“, unterbrach sie Salvo in ihrer staunenden Betrachtung.

Das Gästezimmer war ordentlich, aber spärlich eingerichtet. Es besaß einen Kleiderschrank, ein Bett mit angebautem Nachtkästchen, eine kleinen Tisch und auch hier stand vor dem Fenster ein Stuhl, ein sympathisches altes Stück. Das einzige Bild, das die Wand zierte, war ein tobendes Meer mit einem Leuchtturm in der Mitte. Die Wellen wüteten schäumend bis an die Spitze des Turms. Die Spitze umfing ein schmaler Balkon, auf dem ein Mann stand, mit gelber Regenbekleidung und einem Hut, tief ins Gesicht gezogen. Das Bild übte eine seltsame Faszination auf sie aus. Hatte sie es schon einmal irgendwo gesehen? Oder erinnerte es sie an etwas, das in der Dunkelheit ihres Unterbewusstseins vergraben lag?

„Das ist toll, nicht?“, stellte Salvo fest. Versunken in den Anblick des Bildes hörte sie seine Frage nicht. „Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch die anderen Zimmer!“

Er nahm ihr den Koffer ab und platzierte ihn auf dem Bett. An der Hand zog er sie aus dem Zimmer, gleich die Türe des angrenzenden Zimmers aufstoßend, die nur angelehnt war.

„Mein Reich“, sagte er bescheiden und ließ den Blick über sein Zimmer schweifen, als ob er es selbst zum ersten Mal sehen würde. Sie tat es ihm gleich und hatte das Gefühl, die Wohnung gewechselt zu haben.

„Unsere Hausherrin hat einen anderen Geschmack und vor allem leider auch einen anderen Ordnungssinn wie ich!“, brachte er lachend hervor, als ihm das Chaos seiner persönlichen Behausung bewusst wurde. Sie wollte sich ihre Überraschung nicht anmerken lassen, nahm aber unvermeidbar einen überquellenden Aschenbecher auf einem alten Holztisch wahr, auf dem sich außerdem Bücher, Zeitschriften, Stifte und diverses Zettelwerk in der Gesellschaft einer Espresso- Macchinetta mit einer schmutzigen Tasse türmten. Die zwei Stühle waren vollständig mit Kleidung überladen und deshalb nicht mehr sichtbar. Die restliche Einrichtung bestand aus einem Bett, bedeckt von einem wilden Durcheinander an Polstern und Decken, auf deren farbliche Abstimmung er im Gegensatz zu zia Maria augenscheinlich keinen Wert gelegt hatte. Auf dem Kopfkissen ruhte ein aufgeklapptes Buch, mit dem Rücken nach oben. Ernesto Cardinal, notierte sie freudig überrascht. Eine Wand war in einem kräftigen Rot gestrichen, was dem Zimmer etwas Warmes, Heimeliges gab. Er hatte auch einige Kerzen aufgestellt. Sie kannte keinen Mann, der Kerzen aufstellte! Außerdem hatte Salvo einen Schreibtisch vor dem Fenster, der ebenso überladen war wie der Tisch. Ein paar weitere Kerzen waren auf dem Nachtkästchen gruppiert, alle bereits heruntergebrannt. Ein Rinnsal Wachs befand sich auf der Seitenwand des Nachtkästchens, versteinert wie ein mitten im Sturz gefrorener Wasserfall. Eine Wand war komplett von einem Bücherregal verdeckt. In der Ecke lehnten verschiedene Instrumente.

„Spielen Sie die Instrumente alle?“

„Ja, ich spiele in einem Jazzclub. Ich kann Dank zia Maria sogar davon leben, weil ich so gut wie keine Miete bezahlen muss. Wir geben ihr einen fast lächerlichen Beitrag zu den Betriebskosten der Wohnung und wechseln uns mit den Einkäufen ab, ich würde es fast als symbolisch bezeichnen. Ansonsten wäre es unmöglich, den Lebensunterhalt mit Musik zu verdienen! Ich nehme Sie einmal mit in den Club, wenn Sie wollen!“

„Gerne!“ rief sie begeistert aus, „Ich liebe Jazz!“, was nicht ganz der Wahrheit entsprach! Sie ließ ihren Blick über die restlichen Wände weiterwandern, die geradezu tapeziert waren mit Helden wie Che Guevara und Mahatma Gandhi, in illustrer Gesellschaft von Fidel Castro, Robert de Niro und Louis Armstrong. Zwischen ihnen befand sich wie ein Farbklecks ein großes Bild von Marilyn Monroe in ihrem famosen weißen Kleid, das ihr über einem Luftschacht neckisch über die Knie hoch geblasen wurde. Verwirrt betrachtete Hannah die seltsame Zusammenstellung der Bilder, die doch einiges über die Gesinnung des Besitzers aussagten und sie suchte unbewusst nach einer Schublade für Salvo. Dieser hatte offensichtlich keine Lust, irgendwelche Erklärungen abzugeben und unterbrach unwirsch ihre Gedanken.

Basta adesso! Ich zeige Ihnen jetzt die Küche und fange an, das versprochene Essen zuzubereiten! Ich habe Hunger wie ein Löwe! Sie sicher auch, nicht?“

„Total gerne, ich bin auch am verhungern!“

Die sonnendurchflutete Küche war sauber und funktionell. Das Fensterbrett war sicher einen halben Meter tief. Darauf züchtete Maria eine Reihe von Kräutern, die in der guten italienischen Küche unabdingbar waren, eine zauberhafte Komposition aus einem großen Basilikum, Thymian, Salbei, Rosmarin und sogar einer Pfefferonipflanze! Salvo schickte sie mit einer energischen Aufforderung, die keine Widerrede duldete, in ihr Zimmer, sie solle sich etwas ausruhen. Er würde in der Zwischenzeit kochen. Sie merkte erst jetzt, wie fertig sie war, und willigte dankbar ein. Sie zog die Tür hinter sich zu. Stille umgab sie, eine Wohltat wie Eiswürfel auf einem verkaterten Kopf. Mit langsamen Schritten ging sie zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Der Blick fiel frei auf die Gasse, die jetzt, von oben betrachtete unheimlich wirkte. Am Ende der Gasse stach ihr eine Statue ins Auge. Ein Mann enormer Größe, aus Stein gehauen, mit einem wallenden Bart bis auf die Brust und wie vom Wind zerzaustes Haar. Er schaute mit wirrem Blick gen Himmel und schien nicht zu begreifen, warum sich der Himmel über Neapel rot verfärbte, um den Beginn einer abermaligen Nacht anzukündigen. Sie ließ ihren Blick zurück über die Gasse schweifen und realisierte, dass sie in einem Haus wohnte, das mit den anderen soviel zu tun hatte wie ein Pfau in einem Gehege voller Wildschweine. Die anderen waren grau, wirkten schmutzig und abgewohnt. Man spürte die Armut, die sich auch im Müll manifestierte, der den gepflasterten Gehweg verunstaltete und über den die Menschen in täglicher Gewohnheit hinweg stiegen und ihn sicher nicht einmal mehr sahen. Diverse Schilder von Bars, Trattorias, Pizzerias, ein Fotoshop und eine Wäscherei reihten sich aneinander und schalteten nacheinander ihre Lichter ein, um der sich anschleichenden Dunkelheit gebührend gewappnet entgegenzutreten. Motorscooter schlängelten sich in schwachsinnig hohem Tempo durch spazierende Leute und parkende Autos, ohne auch nur einmal abzubremsen. Diejenigen, die auszuweichen hatten, waren die Leute. Auch das schien niemanden zu stören, das war die Ordnung der Dinge hier. Sie öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Schwüle, Essensdüfte und ein unglaublicher Lärm schlugen ihr entgegen. Die Fenster mussten ein gutes Isolierglas haben, stellte sie überrascht fest. Geschlossen drang kein Ton von der Außenwelt in den Raum. Sicher waren sie auch kugelsicher, schoss es ihr durch den Kopf! Ein ungutes Gefühl überkam sie bei dem Gedanken, und unzählige Horrorgeschichten, die sie sich an einsamen Fernsehabenden „hineingezogen“ hatte, rächten sich bitter. Sie schloss den Vorhang, hob die Koffer vom Bett und ließ sich rücklings fallen. Sie sank tief in die weiche Matratze, schloss die Augen und war zu müde, um darüber nachzudenken, was das Schicksal weiter mit ihr vorhatte. Sie fühlte sich ausgelaugt und einsam und ohne es zu wollen, begann ihr Pedro im Kopf herumzugeistern wie ein Schlossgespenst im Burgverlies. Wie angenehm war es mit ihm zu quatschen, ganz unverbindlich und entspannt. Sie musste tatsächlich eingenickt sein, denn als Salvo sie zum Essen holte, erschrak sie heftig und schaute ihn perplex an. Sie brauchte eine Weile, bis sie zu sich kam und realisierte, wo sie war und wen sie vor sich hatte.

„Sie sind ja ganz daneben! Kommen Sie, essen wir was und dann legen Sie sich schlafen! Morgen fühlen Sie sich wie neugeboren!“ Er reichte ihr die Hand und half ihr mit einem kräftigen Ruck auf die Beine. Salvo forderte sie auf, an der Rittertafel neben Maria Platz zu nehmen, die schon saß und genüsslich an einem roten Getränk nippte.

„Möchten Sie auch einen Campari mia cara?“, fragte sie, die Flasche schon schräg über ihr Glas haltend.

„Gerne!“, antwortete Hannah. Salvo trug eine dampfende Schüssel Pasta auf und richtete ihnen eine zünftige Portion auf ihren Tellern an. Ein herrlicher Duft stieg in Hannahs Nase und sie merkte, wie ausgehungert sie war. Sie rieben nacheinander Parmesan über ihre Nudeln und machten sich über ihre Teller her. Es schmeckte so köstlich, dass es sogar Maria für eine Weile die Sprache verschlug.

„Ich hätte gerne noch auf Luca-Maria gewartet“, verkündete sie zwischen zwei Gabeln mit aufgerollten Spaghetti, „aber er hat noch Sprachunterricht und kommt heute später!“

„Was für eine Ausbildung macht denn Luca?“, fragte Hannah interessiert.

„Er möchte Schauspieler werden, braucht aber noch etwas Unterricht für perfektes Sprechen“, erklärte sie. „Er wird es schaffen, davon bin ich überzeugt!“, fügte sie etwas leiser hinzu. Salvo sagte kein Wort und aß schweigend weiter. Überhaupt war das Gespräch versickert, wie das Rinnsal am Ende eines Baches und wollte auch nicht wieder in Schwung kommen. Maria verabschiedete sich mit der Begründung, einen anstrengenden Tag gehabt zu haben und sich zur Ruhe begeben zu wollen. Sie wünschte beiden herzlich eine gute Nacht und verschwand in ihrem Zimmer.

„Wissen Sie“, fing Salvo an, als Maria die Türe geschlossen hatte. „Ich kann das Thema nicht mehr hören! Luca ist ein Stotterer, lassen wir mal das Schönreden. Er stottert schon sein ganzes Leben und Maria möchte ihn in einem großen Theater unterbringen. Sie ist überzeugt, er hätte Talent und bezahlt ihm Stunden zur Sprachförderung ohne Ende und will ihm auch eine Schauspielausbildung angedeihen lassen. An Geld mangelt es ihr nicht, sie bekommt eine schöne Witwenpension für ihren verstorbenen Mann, der Professor für Sprachwissenschaften an der Universität war. Luca ist ihr einziger Enkel. Ihre Tochter, die Mutter von Luca, ist gemeinsam mit ihrem Mann bei einem Autounfall auf der Autobahn zwischen Neapel und Rom ums Leben gekommen als Luca erst fünf Jahre alt war. Das Kind war auf dem Rücksitz und hat die Tragödie schwer verletzt überlebt! Dieses Ereignis kostete ihn nicht nur seine Eltern, auch die Fähigkeit, zu reden! Die Wörter wollten lange gar nicht mehr kommen, und als sie wieder kamen, kamen sie stockend. In Raten. Abgerissen!“ Leise sprach er weiter:

„Luca ist es sicher bewusst, dass er es nie schaffen wird, spielt aber seiner Oma zuliebe mit. Absolviert brav seine Stunden und macht auch kleine Fortschritte, zugegebenermaßen, aber das war’s dann auch schon! Er bekommt aufgrund seines Problems sowieso keine Arbeit, also versäumt er ja nicht viel, wenn er ihr den Gefallen tut! Sie hat sich seiner nach dem Unfall angenommen und hat ihn zu einem wunderbaren Menschen erzogen und sein Handikap immer ignoriert. Seine Schulkollegen waren leider nicht wie seine Oma. Er wurde von den Kindern verspottet. So verbrachte er seine ganze Zeit mit seinen Büchern und seiner Oma, der einzigen Person, die Geduld hatte, seine Wörter abzuwarten, bis sie unter Aufbringung einer immensen Anstrengung aus seinem Mund ausbrachen. Wenn ein Stotterer spricht, nimmt man ihn automatisch nicht für voll. Er wirkt dumm und unbeholfen und niemand hat Zeit, bis er endlich seinen Satz beendet hat. Dabei weiß er alles! Er ist intelligent und belesen und interessiert sich für alles, aber was nützt es ihm?! Einen Dreck!“ Salvo blickte zu Boden, als ob er sich seines heftigen Wortschwalls wegen schämen würde. Sie sah zum ersten Mal, dass er sich aufregte und in Rage redete, bisher hatte er sanft und freundlich gewirkt. Das machte ihn in ihren Augen noch sympathischer! Luca schien ihm sehr nahe zu stehen!

„Das tut mir sehr leid mit Luca“, flüsterte Hannah. „Das muss furchtbar sein!“

„Ja, das ist es! Es ist einfach so unfair! Aber Sie werden sehen, er wird Ihnen gefallen!“

„Ich würde gerne noch auf ihn warten, um ihn zu begrüßen!“, brachte sie hervor, „aber ich denke, wir müssen das auf morgen verschieben! Ich muss jetzt schlafen, ich kann kaum mehr meine Augen offen halten!“

„Ja natürlich! Das verstehe ich! Gehen Sie am besten gleich, ich bringe noch die Küche in Ordnung! Schlafen Sie gut und meinen Geburtstag feiern wir dann morgen, einverstanden?“

„Ja sicher… und gute Nacht; Salvo, schlafen Sie auch gut“, entgegnete sie erleichtert über den Vorschlag, „und danke für alles!“ Sie wäre weder fähig gewesen, Luca mit der nötigen Aufmerksamkeit zu begegnen, noch die Küche aufzuräumen. Sie war am Ende.

Lebensgeister

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