Читать книгу Lebensgeister - Valerie Travaglini - Страница 6

Bekanntschaft

Оглавление

Sie verfolgte ihren Freund die nächsten Tage noch mit Verwünschungen, Träumen, SMS und sonstigen Mitteln der modernen Technik, er aber ließ sich nicht beeindrucken und ließ sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Sie wollte ihn nicht zurück. Nein! Sie wollte Rache! In dieser Zeit begann sie, sich mit Voodoo zu befassen. Mit Hilfe eines Buches, in dem die Praktiken beschrieben waren, steckte sie Nadeln in das Foto ihres Freundes. Sie verteilte sie sorgfältig: Eine in sein Herz, eine in die Stirn und eine in sein „Bestes Stück“. Sie verspührte unbändige Lust auf Grausamkeit. Da sie eigentlich nicht der Typ dafür war, nahm sie von weiteren tätlichen Angriffen Abstand und so verblieben weitere Grausamkeiten in ihrem Kopf und brachten ihr Herz aus dem Rhythmus. Sie hatte ihre Lebensmitte erreicht, oder schon überschritten, jagte es mit Schrecken durch ihren Kopf, es wurden nicht einmal alle zweiundachtzig! Sie fragte sich, ob ihre Entscheidung und ihr momentaner Gefühlszustand mit der berüchtigten Midlifecrisis in Zusammenhang standen. Aber was auch immer ihr Zustand für einen Namen tragen sollte, sie wollte ihre zweite Lebenshälfte in einer Gegend verbringen, von der sie immer träumte. Sie hatte die Schnauze endgültig voll!

Sie stellte sich einen weiten Horizont vor, sanfte Hügel, Zypressen, vereinzelt Steinhäuser… Sonne, Wärme. Statt dem Getöse des Wildbaches, das einen um den Schlaf brachte… das Meer! Das war ein anderes Rauschen! Statt der Bar einen ruhigen Job. Sie war auf nichts Spezielles fixiert, vielleicht am Wochenende frei … weniger Stress wäre so eine Sache… Ja! Sie würde abhauen! Außer Sophie und Carlo würde sie eh niemand vermissen.

Sie kündigte ihren Job und hielt noch tapfer die Kündigungsfrist durch. Sie absolvierte all die Dinge, die zu bewältigen waren und brachte als letzte Amtshandlung Carlo in ein Tierheim, was das einzige war, das ihr emotional zu schaffen machte.

So sinnierte sie vor sich hin, als sie es sich, so gut es ging, auf dem hart gepolsterten, grünen Sessel ihres Zugabteils bequem gemacht hatte und ihr auf Grund der Strapazen der letzten Wochen die Augen zufielen. Die Zelte abzubrechen bereitete ihr einen unerwarteten Stress.

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, als ein dumpfer Knall sie aus dem Schlaf riss. Der Rucksack ihres jugendlichen Mitreisenden war aus dem Gepäckshalter, ihren Kopf nur knapp verfehlend, vor ihren Füßen zu Boden geknallt. Der Zug kam mit einem ungemütlichen Rumpeln zum Stillstand. So unsanft aus dem Schlaf gerissen, schrie sie reflexartig ihren Sitznachbarn an:

„He, bist du wahnsinnig! Willst du mich erschlagen?!“

Ihre Nerven lagen blank. Er entschuldigte sich in einem breiten Tiroler Dialekt:

„Es tut mir wahnsinnig leid, aber es ist nicht meine Schuld, wenn der depperte Zug da ohne Vorwarnung hält! Ich bin selbst auch erschrocken, Mann!“ Sofort beruhigte sie sich aufgrund der netten, gewinnenden Art des Typs und entschuldigte sich, dass sie ihn angefahren hatte wie eine Furie.

„Das passt schon …“ grinste dieser locker. Obwohl sie ursprünglich keine Lust auf Höflichkeitskonversation im Zug hatte, entwickelte sich ein Gespräch.

Sie musterte ihn verstohlen und stellte fest, dass er sympathisch war. Er gefiel ihr sogar außerordentlich gut! Seine Haare fielen ihm lockig und pechschwarz auf die Schultern. Sein Gesicht war länglich und auch die gebogene Nase einen Gedanken zu lang. Irgendwie erinnerte er sie an einen Indianer. Er erzählte ihr, er käme aus Lana, einem kleinen Ort im Südtirol, was „Wolle“ bedeutete und seine Augen blitzten dunkel und schelmisch. Er sei zweisprachig aufgewachsen, italienisch und deutsch, und seine Mutter käme aus Chile, was seinem Aussehen diesen unverkennbaren lateinamerikanischen Touch verlieh und er bemerkte, dass er es bedauere, ihre Sprache nie gelernt zu haben. Er studiere in Bologna Kartographie und Geoinformation, berichtete er, ohne danach gefragt geworden zu sein, nicht ohne Stolz.

„Wie kommt man auf so was?“, fragte sie überrascht und etwas zu laut.

„Ich war immer schon verrückt nach Landkarten“, legte er los. „Der Atlas war mein Lieblingsbuch. Er lag immer auf dem Tisch. Ich studierte ihn zum Frühstück und las in ihm, wie andere sich ein Buch zur Hand nehmen. Mich interessierte sowohl, dass es auf der Hochebene im Westen Boliviens einen See gibt mit dem Namen Titikaka als auch, dass es ein Frankfurt nicht nur am Main gibt, sondern auch eins an der Oder!“ Er erzählte von einem Ort in Russland, der den Namen Ulan-Ude trägt und in der Republik Burjatien zu finden ist. Er wusste auch, dass es im Burgenland ein Spitzzicken an der Pinka gibt und in den Kanadischen Rockies ein Bonnyville. In Malaysia ein Kuala Tahan und auf Sizilien ein Cefalù. Er redete sich in eine solche Begeisterung, dass er kein Ende mehr fand.

„Und was machst denn du so im Leben?“ Die Frage traf sie unvorbereitet Sie fühlte sich vor den Kopf gestoßen. Ja, was eigentlich? Sie konnte ihm unmöglich auf die Nase binden, dass sie kein konkretes Ziel hatte. Sie hatte weder vor, zu studieren, noch hatte sie Arbeit in Aussicht. Sie hatte auch keine Verwandten vorzuweisen, die sie besuchen konnte. Es kam ihr verwegen vor, ihm von ihrem Kellnerinnen-Dasein zu berichten. Sie konnte ihm auch nicht sagen, dass sie ein neues Leben beginnen wollte! Wie kitschig und klischeehaft! Er würde sie für verrückt erklären, wie alle anderen auch, denen sie es gezwungenermaßen erzählen musste. Sie war sich bis zu diesem Augenblick vollkommen sicher. Und jetzt, wahrscheinlich vom klaren Lebensplan dieses Jugendlichen und von dessen sprühender Lebenslust, die sich nach Ablauf der Jugend verflüchtigte wie der Rauch einer ausdampfenden Zigarette, verunsichert, überfielen sie Selbstzweifel, wie schon so oft in ihrem Leben, und sie war sich nicht mehr im Klaren, ob es richtig war, was sie tat. Sie begann, sich in Gedanken gut zuzureden. Musste man denn alles schon im Vorhinein wissen und planen? Wo blieb das Abenteuer? Wo das Adrenalin?! Das Leben war zu kurz! Genervt presste sie die Nase an die Scheibe, um sich ein Bild der Situation zu verschaffen. Fast hätte sie vergessen, was eigentlich geschehen war.

„Was ist hier eigentlich los?“, fragte sie halblaut. „Warum halten wir hier mitten in der Pampa?“ Ihr Mitreisender zuckte mit den Schultern, ohne eine Antwort zu geben, und schaute beleidigt zum Fenster hinaus.

Hannah bot sich ein Blick auf eine Landschaft, die an Schönheit schwer zu überbieten war. Einsam lag ein schon teilweise verfallener Hof aus Stein erbaut in einer weiten Ebene. Er schien nicht mehr bewohnt zu sein, es waren keine Anzeichen von Leben mehr zu erkennen. Vereinzelte Spuren wiesen darauf hin, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. Ein Fahrrad lehnte, traurig vor sich hin rostend, an der Hausmauer und ein roter Traktor, von Brombeerstauden überwuchert und ebenfalls dem Rost zum Opfer gefallen, zeugte von der ehemaligen Bewirtschaftung dieser Felder, die nun brach lagen. Weit und breit kein weiteres Haus. Zum Hof führte ein Kiesweg gesäumt von Zypressen, die sich wie Zinnsoldaten am Rand reihten.

Als sie sich von dem überwältigenden Eindruck erholt hatte, den ihr dieser Anblick bereitete, schoss ihr jäh die Frage nach dem Grund ihres abrupten Anhaltens wieder in den Kopf. Warum hielten sie hier? Wo waren sie überhaupt und was war passiert? Hoffentlich hatte der Zug keinen technischen Schaden und sie mussten hier Stunden verharren, bis der Schaden behoben wurde! So würde sie in Bologna jedenfalls ihren Anschluss verpassen. Auch die anderen Reisenden blickten sich fragend an und es brach ein wirres Geschnatter aus. Die meisten im Zug waren Italiener. Arbeiter, die in ihre Heimat zurückkehrten, um ihren Urlaub dort zu verbringen. Elegant gekleidete Italienerinnen mit glühenden Augen und schwarzem Haar, Familien mit kleinen Kindern. Darunter auch zwei junge, japanische Mädchen mit peinlich kurzen Röcken und riesengroßen Rucksäcken. Um den Hals den obligatorischen Fotoapparat und eine Landkarte von Süditalien. Eine deutsche Familie, unklassischerweise mit dem Zug unterwegs, reiste mit zwei Kindern im Teenageralter. Sie trugen Sandalen und Kleider, die sie in ihre eigene Hippie-Phase zurückversetzten. Hannah war damals auch in Zügen unterwegs gewesen, teilweise sogar ohne Schuhe, was jetzt für sie unvorstellbar wäre! Komisch, dass sie früher nie an Fußpilz gedacht hatte! Es tat gut, dass manche Leute ihr Leben lang an ihren Idealen festhielten!

Je mehr Zeit verging, umso nervöser wurden die Reisenden. Eine drückende Schwüle herrschte im Zug, die Menschen hatten schweißglänzende Gesichter, die an mit Speckschwarte polierte Ostereier erinnerten, und ein penetranter Schweißgeruch verbreitete sich. Die Klimaanlage funktionierte nicht mehr und das Geplapper der Leute schwoll zu einem Lärm an, der hart an die Grenze des Erträglichen ging. Der herrschende Tumult wurde von drei Polizisten durchbrochen, die steif und autoritär mit Pistolen am Gürtel ihr Abteil betraten. Sie trugen alle die Haare kurz und eine dunkle Sonnebrille auf der Stirn. Mit ihren dunklen Augen schauten sie die Reisenden forschend und streng an. Uniformierte lösten in ihr immer ein undefinierbares Unbehagen aus. Reflexartig ging sie im Kopf durch, ob sie auch alles dabei hatte. Den Pass, die Fahrkarte … alles da! Keine Drogen im Gepäck. Sie war sauber und ihr konnte nichts passieren. Hilfe suchend schaute sie ihren Nachbarn an, der schon lange schweigend da saß und sein Beleidigt-Sein überwunden und nun akzeptiert hatte, dass sie nicht über sich reden wollte.

Die Polizisten redeten in einem Schwall auf sie ein und Hannah verstand kein Wort, da sie außer schnell auch noch in einem Dialekt redeten, in dem man nur mit viel Phantasie italienische Wörter wieder erkennen konnte. Ihr Nachbar gab vor, alles zu verstehen und bestätigte ihre Vermutung, dass sie jemanden suchten, aber auch ihm war unklar, um wen es sich handelte. Eingeschüchtert zeigten alle im Abteil ihren Pass und niemand wagte es, eine Frage zu stellen. Oder es interessierte sie einfach nicht, da sie an solche Unterbrechungen gewöhnt waren. Die Polizisten durchkämmten den ganzen Zug, was eine weitere Stunde in Anspruch nahm, und es war inzwischen dunkel geworden. Im Zug herrschte Chaos wie in einem Hühnerstall, dem ein Fuchs zu nahe gekommen war. Sie versuchte sich vergeblich an eine Entspannungsübung zu erinnern, die sie einmal in einem Kurs gelernt hatte. So war sie unsagbar froh, als der Zug sich mit einem Quietschen, das die Bremsen beim Lösen verursachten, wieder in Bewegung setzte. Die Reisenden waren still geworden und sie blickte dankbar zum Fenster hinaus. Der Nachthimmel breitete sich ungehindert aus, weder durch Felsen, noch durch Hügel unterbrochen. Ein bleicher Vollmond beleuchtete jetzt schwach die vorbeirauschende Landschaft. Sie betrachtete überrascht im dunklen Zugfenster ihr eigenes Spiegelbild, das ihr fremd erschien. War das wirklich sie? Ihre runden Augen, deren Grün in diesem Licht fast schwarz wirkte, schienen von tiefen Schatten umrahmt. Ihre Sommersprossen auf der Nase, die sie als Jugendliche so gehasst hatte, mochte sie inzwischen. Sie gaben ihr eine persönliche Note und trugen dazu bei, dass sich ihr Gesicht von anderen Alltagsgesichtern unterschied. In der Schule wurde sie ihrer schottischen Herkunft wegen verspottet. Gott! Wie sie das gehasst hatte! Ihre Oma mütterlicherseits war Schottin und ihr Erbe war auf Hannah übergegangen! Dieses Erbe bestand aus rotem Haar, das sich in alle Richtungen kräuselte und diesen Sommersprossen, die immer im Sommer förmlich aufblühten. Ihr Haar war lang geworden, dachte Hannah, es reichte ihr schon weit über die Schultern. Das olivgrüne Shirt, das sie sich für die Reise gekauft hatte, stand ihr gut. Zum ersten Mal nahm sie wahr, dass sie tatsächlich in der letzten Zeit etliche Kilos verloren hatte. Am besten sah man es an den Brüsten, da nahm sie ärgerlicherweise immer als erstes ab. Ja, sie war es! Mit allem, was dazugehörte. Eine Welle von Erinnerungen überflutete sie und sie dachte zärtlich an ihre Oma, die ihren schottischen Akzent ein Leben lang nie verbergen konnte, obwohl sie im Vorarlberger Dialekt sprach. Die Erinnerung macht uns im Endeffekt zu dem, was wir sind.

Sie wandte den Blick vom Fenster ab und blickte schüchtern auf ihren Sitznachbarn, der schweigend neben ihr saß und nun wie hypnotisiert in ein Buch starrte. Ohne es zu wollen, fragte sie sich, was er über sie dachte? Ob sie ihm gefiele? Gleichzeitig wunderte sie sich über ihre Gedanken und musste lächeln. So nahm sie ebenfalls ihr Buch zur Hand und tat so, als ob sie sogleich vertieft in ihre Lektüre wäre. Sie hätte ja gerne mit ihm geredet, aber nicht über sich. Lange vor Bologna packte sie ihr Handgepäck und begann schon viel zu früh, die Koffer herunter zu zerren, natürlich half er ihr wie selbstverständlich und war sehr charmant, worauf sie ihr coolstes Lächeln aufsetzte, um sich nichts von ihrer Nervosität anmerken zu lassen. Sie war froh, als der Zug mit Funken sprühenden Bremsen in den Bahnhof einfuhr und zum Stehen kam. Hannah manövrierte umständlich die Koffer die Treppen hinunter, wobei ihr der nette Mitreisende wieder zur Seite stand.

Lebensgeister

Подняться наверх