Читать книгу Das Netz im Dunkel - V.C. Andrews - Страница 10
Teestunde am Dienstag
ОглавлениеWeihnachten ging vorüber, aber ich kann mich kaum noch an etwas anderes erinnern als an die Puppe, die unter dem Baum gelegen hatte. Vera war neidisch gewesen, obwohl sie oft behauptete, sie sei viel zu alt, um noch mit Puppen zu spielen.
Die Zeit verging so schnell, daß es mir angst machte. Noch ehe ich es bemerkt hatte, war der Frühling schon da. Vera quälte mich gern mit der Behauptung, daß jeder, dem die Zeit durch die Finger rann, verrückt sei.
Heute war Dienstag. Tante Mercy Marie würde wieder zu Besuch kommen. Dabei kam es mir so vor, als wire sie erst gestern zur Teestunde hervorgeholt worden.
An diesem Dienstag morgen hatte Papa es nicht eilig, in sein Büro zu kommen. Er saß am Küchentisch und sprach über das Leben und seine Schwierigkeiten, während Vera und meine Tante Pfannkuchen in sich hineinschlangen, als würden sie nie wieder etwas zu essen bekommen. Meine Mutter richtete die Schnittchen für die Teestunde her.
»Es waren gute und schlechte Zeiten«, fing mein Papa an. Er liebte diesen Satz, der an den Nerven meiner Mutter ebenso zu zerren schien wie an den meinen. Wenn Papa das sagte, hatte man schreckliche Angst, auch nur an morgen zu denken, geschweige denn noch weiter in die Zukunft.
Er erzählte mehr und mehr, ließ seine Jugendzeit so schön erscheinen, daß ich es für unmöglich hielt, jemals etwas so Schönes erleben zu können. Das Leben war einfach perfekt gewesen, als Papa noch ein Junge war; die Menschen waren damals netter gewesen; die Häuser waren dafür gebaut, eine Ewigkeit zu halten und nicht gleich auseinanderzufallen, wie sie es heute taten. Sogar die Hunde waren besser gewesen, als er noch ein Junge war, wirklich zuverlässig; man konnte sicher sein, daß sie jedes Stöckchen zurückbrachten, das man ihnen warf. Und selbst das Wetter war besser, nicht so heiß im Sommer, nicht so kalt im Winter, außer bei einem Schneesturm. Kein heutiger Schneesturm kam auch nur entfernt an die eisige Kälte und Wildheit der Schneestürme heran, in denen Papa von der Schule heimlaufen mußte.
»Zwanzig Meilen«, prahlte er, »durch Wind und Schnee, Eis und Regen und Hagel – aber nichts hielt mich daheim – nicht einmal, als ich Lungenentzündung hatte. Als ich in der Fußballmannschaft der High School war und mir das Bein gebrochen hatte, hinderte mich das doch nicht daran, jeden Tag zur Schule zu laufen. Ich war hart im Nehmen und entschlossen, eine gute Ausbildung zu bekommen.«
Mammi stellte einen Teller ab, so heftig, daß er sprang. »Damian, hör auf, so zu übertreiben.« Ihre Stimme klang rauh und ungeduldig. »Siehst du denn nicht, daß du deiner Tochter völlig falsche Vorstellungen vermittelst?«
»Habt ihr ihr denn jemals andere Vorstellungen vermittelt?« meinte Tante Elsbeth anklagend. »Wenn Audrina normal wird, dann ist das ein Wunder.«
»Amen«, fügte Vera hinzu. Sie grinste mich an und streckte mir die Zunge heraus. Papa bemerkte es nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, meine Tante anzubrüllen.
»Normal? Was ist denn schon normal? Meiner Meinung nach ist normal nur gewöhnlich, durchschnittlich. Das Leben gehört den seltenen, außergewöhnlichen Individuen, die es wagen, anders zu sein.«
»Damian, würdest du bitte aufhören, deine Ideen vor einem Kind darzulegen, das noch zu jung ist, um zu verstehen, daß du von nichts eine Ahnung hast als davon, den ganzen Tag zu reden.«
»Schweig!« fuhr Papa sie an. »Ich werde nicht zulassen, daß meine Frau mich vor meinem einzigen Kind lächerlich macht. Lucky, augenblicklich entschuldigst du dich!«
Grinste Tante Elsbeth? Warum? Ich war der Meinung, daß sie meine Eltern gern streiten hörte. Vera gab einen erstickten Laut von sich und erhob sich dann mit großer Mühe, um in die Halle zu humpeln. Bald würde sie in den Schulbus steigen. Ich hätte meine Seele verkauft, um wie jedes andere Kind mitzufahren, das nicht etwas so Besonderes war wie ich. Statt dessen mußte ich daheim bleiben, einsam, sehnte mich nach Spielkameraden und war doch nur von Erwachsenen umgeben, die meinen Kopf mit einem Mischmasch von Gedanken füllten, die sie dann später wieder durcheinanderbrachten. Kein Wunder, daß ich nicht wußte, wer ich war oder welchen Wochentag, Monat oder sogar welches Jahr wir hatten. Für mich gab es keine guten oder schlechten Zeiten. Mir schien es, als lebte ich in einem Theater. Bloß waren die Schauspieler auf der Bühne meine Familienmitglieder, und auch ich mußte eine Rolle spielen – ohne zu wissen, welche das war.
Ganz plötzlich, ohne irgendeinen ersichtlichen Grund, sah ich mich in der Küche um und erinnerte mich an eine große, orangefarbene Katze, die immer in der Nähe des alten Eisenofens geschlafen hatte.
»Ich wünschte, Tweedle Dee würde heimkommen«, bemerkte ich traurig. »Seit meine Katze fort ist, fühle ich mich noch mehr allein.«
Papa fuhr zusammen. Mammi starrte mich an. »Aber Tweedle Dee ist doch schon so lange fort, Audrina.« Ihre Stimme hatte einen angestrengten, besorgten Klang.
»Ja, schon, ich weiß. Aber ich möchte trotzdem, daß er heimkommt. Papa, du hast ihn doch nicht ertränkt, oder? Du würdest doch meine Katze nicht umbringen, bloß weil – sie dich zum Niesen bringt?«
Er warf mir einen besorgten Blick zu, ehe er sich zu einem Lächeln zwang. »Nein, Audrina. Ich tue doch mein Bestes, um all deine Bedürfnisse zu erfüllen. Wenn diese Katze hätte bleiben wollen, damit ich mich zu Tode niese, dann hätte ich das um deinetwillen schweigend erlitten.«
»Erlitten schon, aber nicht schweigend«, murmelte meine Tante.
Ich sah zu, wie sich meine Eltern umarmten und küßten, ehe Papa zur Garage lief. »Viel Spaß bei eurer Teegesellschaft«, rief er Mammi zu. »Aber ich wünschte, ihr würdet Mercy Marie ruhen lassen. Was wir brauchen, ist jemand, der in der leeren Hütte lebt, die uns gehört. Dann hättet ihr eine nette Dame zur Nachbarin, die ihr zum Tee einladen könntet.«
»Damian«, rief Mammi mit süßer Stimme, »fahr du nur zu und amüsier dich. Aber laß Ellie und mich auch unseren Spaß haben, wenn wir hier schon wie Gefangene leben müssen.«
Er brummte, sagte aber nichts mehr. Gleich darauf sah ich ihn durch die Vorderfenster davonfahren. Er winkte noch einmal, ehe er außer Sichtweite war. Ich wollte nicht, daß er fuhr. Ich verabscheute die Teestunde am Dienstag.
Normalerweise wurde der Tee um vier serviert, aber seit Vera angefangen hatte, die letzte Schulstunde zu schwänzen, um rechtzeitig um vier daheim zu sein, war der Tee auf drei Uhr vorverlegt worden.
Ich trug meine besten Kleider und wartete darauf, daß das Ritual begann. Es gehörte zu meiner Erziehung, bei dieser Gelegenheit anwesend zu sein. Und wenn Vera krank genug war, um nicht in die Schule gehen zu müssen, dann wurde sie auch ganz offiziell eingeladen. Ich vermutete oft, daß Vera ihre Knochen nur brach, um daheimbleiben und hören zu können, was in unserem vornehmsten Salon geschah.
Meine Spannung wuchs, als ich darauf wartete, daß Mammi und meine Tante auftauchten. Zuerst kam Mammi. Sie trug ihr schönstes Nachmittagskleid – ein weiches, fließendes Wollkleid in hübschem Korallenrot, mit Paspeln in Veilchenblau, passend zu ihren Augen. Dazu trug sie ein Perlenkollier und Ohrringe mit echten Diamanten und Perlen, die zu dem Collier paßten. Der Schmuck gehörte zum Erbe Whiteferns, hatte sie mir mehr als einmal erklärt, und würde eines Tages mir gehören. Sie hatte ihr wunderschönes Haar nach oben gebürstet, aber ein paar Locken hingen herab, um der Frisur die Strenge zu nehmen und Mammi ein elegantes Aussehen zu verleihen.
Als nächstes kam meine Tante in ihrem besten Gewand, einem dunklen, marineblauen Kostüm mit weißer Bluse. Wie immer trug sie ihr glänzend-schwarzes Haar im Knoten tief im Nacken. Winzige Brillanten steckten in ihren Ohren, und an ihrem kleinen Finger trug sie einen Rubinring. Sie sah genauso aus, wie man sich eine Lehrerin vorstellt.
»Ellie, würdest du Mercy Marie einlassen?« bat Mammi. Dienstag war der einzige Tag, an dem meine Mutter ihre Schwester so nennen durfte. Nur Papa konnte meine Tante jederzeit Ellie nennen.
»Du bist spät, meine Liebe«, sagte Tante Elsbeth und stand auf, um den Deckel des Pianos zu heben und den schweren Silberrahmen hervorzuziehen, in dem das Foto einer dicken Frau mit wirklich liebem Gesicht steckte. »Wirklich, Mercy Marie, wir dachten schon, du würdest gar nicht mehr kommen. Aber du hattest schon immer die ärgerliche Angewohnheit, zu spät zu kommen. Wahrscheinlich, um Eindruck zu machen. Aber du würdest auch Eindruck machen, wenn du früher kommen würdest, meine Liebe.« Mammi kicherte, während meine Tante sich setzte und die Hände im Schoß faltete. »Das Klavier ist doch hoffentlich nicht zu hart für dich? Aber es ist wenigstens kräftig genug ... hoffe ich.« Wieder kicherte Mammi. Ich rutschte unruhig hin und her, denn ich wußte, das Schlimmste kam erst noch. »Ja, Mercy Marie, wir verstehen schon, warum du immer zu spät kommst. Es muß schon sehr anstrengend sein, immer vor diesen leidenschaftlichen Wilden davonzurennen. Aber du solltest wirklich wissen, daß man munkelt, du wärest von einem Kannibalenhäuptling gekocht und zum Abendessen verspeist worden. Lucietta und ich sind entzückt, zu sehen, daß das nur ein bösartiges Gerücht war.«
Sorgfältig schlug Tante Elsbeth die Beine übereinander und starrte auf das Porträt auf dem Klavier. Es stand, genau da, wo normalerweise die Notenblätter lehnen. Es gehörte zu Mammis Rolle, aufzustehen und die Kerzen im Kristalleuchter anzuzünden, während das Feuer prasselte und knackte und die Gaslampen flackerten, so daß die Kristallzapfen der Leuchter bunte Farben einfingen und durch das Zimmer sandten.
»Elsbeth, meine Liebe«, sagte meine Mutter für die tote Frau, die mitmachen mußte, auch wenn ihr Geist häufig rebellierte. »Ist das eigentlich das einzige Kostüm, das du besitzt? Du hast es letzte Woche und auch in der Woche davor getragen. Und dann dein Haar, du lieber Gott, warum trägst du, nicht mal eine andere Frisur? So siehst du aus wie sechzig!«
Mammis Stimme war immer unerträglich süß, wenn sie für Tante Mercy Marie sprach.
»Mir gefällt meine Frisur«, erwiderte meine Tante spröde. Dabei beobachtete sie meine Mutter, die den Teewagen hereinrollte. Er war hoch mit all den Leckerbissen beladen, die Mammi vorbereitet hatte. »Wenigstens versuche ich nicht, wie eine verwöhnte Frau auszusehen, die ihre ganze Zeit damit verbringt, einem egoistischen Sexmolch zu gefallen. Ich weiß natürlich, daß das die einzige Art von Mann ist, die es gibt. Genau darum bleibe ich ja auch allein.«
»Ich bin sicher, daß das der einzige Grund dafür ist«, sagte meine Mutter mit ihrer eigenen Stimme. Dann sprach sie wieder für das Foto auf dem Klavier. »Aber, Ellie, ich erinnere mich noch gut an die Zeit, als du selbst wahnsinnig in einen egoistischen Irren verliebt warst. So sehr verliebt, daß du mit ihm ins Bett gegangen bist und sein Kind bekommen hast. Zu schade, daß er dich nur dazu benutzt hat, seine Bedürfnisse zu befriedigen; zu schade, daß er sich nie in dich verliebt hat.«
»Ach, der«, schnaubte meine Tante verächtlich. »Das war doch bloß eine kurzfristige Beziehung. Seine animalische Ausstrahlung hat mich vorübergehend angezogen, aber ich hatte genug Verstand, um ihn zu vergessen und mich Besserem zuzuwenden. Ich weiß, daß er sofort eine andere gefunden hat. Die Männer sind doch alle gleich – selbstsüchtig, grausam, fordernd. Ich weiß jetzt, daß er den schlimmsten aller Ehemänner abgegeben hätte.«
»Zu dumm, daß du nicht einen so wundervollen Mann gefunden hast wie Lucky«, sagte die süße Stimme vom Klavier, als sich meine Mutter, setzte, um an einem winzigen Sandwich zu knabbern.
Ich starrte auf das Bild einer Frau, an die ich mich nicht erinnern konnte, obwohl Mammi sagte, ich hätte sie kennengelernt, als ich vier Jahre alt war. Sie schien sehr reich gewesen zu sein. Brillanten hingen an ihren Ohren, am Hals, steckten auf ihren Fingern. Der Pelzbesatz auf ihrem Kostümkragen ließ es so aussehen, als säße ihr Gesicht direkt auf den Schultern. Oft stellte ich mir vor, daß sie auch Pelzbesatz an den langen, weiten Ärmeln und dem Saum des Rockes haben würde, wenn sie aufstand, wie eine Königin aus dem Mittelalter.
Mercy Marie war bis nach Afrika gereist in der Hoffnung, ein paar heidnische Seelen zu erretten und zum christlichen Glauben zu bekehren. Jetzt gehörte sie selbst zu den Heiden, war verspeist worden, nachdem sie getötet und gekocht worden war.
Nach allem, was ich bei diesen Teestunden hörte, hatte Tante Mercy Marie einst eine lächerliche Vorliebe für Sandwiches mit Salat und grüner Gurke gehabt. Allerdings nur, wenn sie auf möglichst dünnem Käsebrot angerichtet waren. So mußte Mutter das Brot backen, die Kruste abschneiden und es mit der Kuchenrolle flachrollen. Danach wurde das Brot mit Kuchenförmchen in verschiedenen Formen ausgestochen.
»Wirklich, Mercy Marie«, sagte meine Tante in ihrer rauhen Art. »Schinken, Käse, Hühnchen oder Thunfisch sind nicht so schlecht, wie du denkst. Wir essen so etwas ständig ... nicht wahr, Lucietta?«
Mammi runzelte die Stirn. Ich haßte ihre nächsten Worte, sie waren so grausam und bissig. »Wenn Mercy Marie Salatgurken und Salat-Sandwiches so gern hat, Ellie, warum läßt du sie dann nicht auch ein paar essen, anstatt sie alle in dich hineinzustopfen? Sei doch nicht so gierig. Lerne endlich zu teilen.«
»Lucietta, Liebes«, sprach die schrille Stimme vom Klavier, diesmal von meiner Tante zum Klingen gebracht, »bitte erweise deiner älteren Schwester den Respekt, der ihr zukommt. Du gibst ihr bei Tisch so winzige Portionen, daß sie es dadurch wettmachen muß, daß sie all die Dinge ißt, die ich so liebe.«
»Oh, Mercy, du bist so lieb und großzügig. Ich müßte natürlich wissen, daß der Appetit meiner Schwester niemals zu stillen ist. Ein Faß ohne Boden könnte auch nicht mehr aufnehmen als der Magen meiner Schwester. Vielleicht versucht sie, die große Leere ihres Lebens mit Essen zu stopfen. Vielleicht bedeutet es für sie Liebe.«
Immer weiter zog sich die Teestunde hin, während die parfümierten Kerzen niederbrannten und das Feuer rote Funken versprühte. Tante Ellie verzehrte alle Sandwiches, sogar die mit der Hühnerleberpastete, die ich so gern mochte – und Vera auch. Ich knabberte an einem Sandwich, das ich gar nicht mochte. Diese Sorte schmeckte immer so, wie Tante Mercy Marie sie gemocht hatte: feucht, grasig, durchgeweicht.
»Also wirklich, Lucietta«, sagte Tante Elsbeth mit der Stimme der lieben Verschiedenen. Dabei warf sie mir einen empörten Blick zu, weil ich offensichtlich nicht schätzte, was Tante Mercy Marie so gut geschmeckt hatte. »Du solltest etwas wegen des Appetits dieses Kindes tun. Sie besteht ja nur noch aus Haut und Knochen und riesigen Augen. Und dann dieser lächerliche Haarmop. Warum sieht sie so mitgenommen aus? Man könnte meinen, ein Windhauch könnte sie schon fortwehen – wenn sie nicht vorher schon den Verstand verliert. Lucietta, was treibst du mit diesem Kind?«
Ungefähr in diesem Augenblick hörte ich die Seitentür gehen, und ein paar Sekunden später stahl sich Vera ins Zimmer. Sie versteckte sich hinter einer Topfpalme, damit unsere Mütter sie nicht sehen konnten, und legte einen Finger an die Lippen, als ich zu ihr hinübersah. Sie hatte eine riesige, medizinische Enzyklopädie bei sich, auf deren Umschlag der männliche und weibliche Körper abgebildet waren – ohne Kleider.
Ich drehte mich um. Hinter mir kicherte Vera. Ich verkroch mich in das kleine Versteck in meinem Gehirn, wo ich mich sicher fühlen konnte und keine Angst zu haben brauchte; aber dieser Ort war wie ein Gefängnis. Ich fühlte mich immer gefangen, wenn Tante Mercy Maries gehässiger Geist unseren Salon heimsuchte. Sie war tot und existierte nicht, aber irgendwie brachte sie es fertig, daß ich mich wie ein Schatten ohne Substanz fühlte. Meine Hände flatterten nervös, tasteten nach meinen ›gequälten‹ Augen, den ›eingefallenen‹ Wangen, denn früher oder später würde sie diese Dinge auch erwähnen.
»Mercy«, meldete sich meine Mutter, »wie kannst du nur so wenig sensibel sein, vor meiner Tochter?« Sie stand auf, in ihrem weich fließenden Gewand schien sie so groß und geschmeidig.
Verwirrt starrte ich das Kleid an. Sie war doch in einem korallenroten Kleid ins Zimmer gekommen. Wie und wann hatte es die Farbe gewechselt? Oder war es das Licht vom Fenster, das es jetzt violett, grün und blau erscheinen ließ? Mein Kopf schmerzte. War es Sommer, Winter oder Herbst? Ich wollte zum Fenster laufen und die Bäume betrachten, denn sie waren die einzigen, die nicht lügen würden.
Ich hörte die Erwachsenen reden, aber ich versuchte, sie nicht zu verstehen. Dann ging Mammi zum Klavier hinüber und setzte sich, um all die Kirchenlieder zu spielen, die Tante Mercy Marie gern sang. Immer wenn meine Mutter sich ans Klavier setzte, geschah etwas Verblüffendes: Sie trat auf wie auf einer Bühne, als würde ihr bald ein großes Publikum applaudieren. Ihre langen, schlanken Finger zögerten dramatisch über den Tasten, sausten dann herab und schlugen einen Akkord an, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen. Sie spielte und sang so wunderschön und traurig, daß ich am liebsten geweint hätte. Auch meine Tante fing an zu singen, aber ich konnte nicht einstimmen. Irgend etwas in mir wollte schreien, schreien! Das alles war falsch. Gott war nicht da oben. Er kam nicht, wenn man ihn brauchte ... er war nie gekommen und würde auch nie kommen.
Mammi sah meine Tränen und wechselte abrupt das Tempo. Diesmal spielte sie ein Lied im Rockrhythmus, sang dabei und wiegte sich hin und her, so daß ihr Busen zitterte.
Meine Tante aß Kuchen. Entmutigt verließ meine Mutter das Klavier und setzte sich wieder aufs Sofa.
Verwirrt fuhr mein Kopf herum, als ich die Stimme vom Klavier her etwas sagen hörte. Ich wollte Tante Elsbeth dabei erwischen, daß sie den Mund bewegte, aber als ich sie ansah, nippte sie an ihrem heißen Tee. Ich wußte, daß er einen guten Schuß Bourbon beinhaltete genau wie Mammis Tee. Vielleicht war es der Alkohol, der sie so grausam werden ließ. Ich wußte nicht, ob sie Tante Mercy Marie gemocht hatten, als sie noch lebte, oder ob sie sie verabscheut hatten. Ich wußte nur, daß sie sich gern darüber lustig machten, wie sie ihrer Meinung nach ums Leben gekommen war. Sie glaubten Papa nicht, der mir mehr als einmal erklärt hatte, daß Tante Mercy Marie vielleicht irgendwo als Frau eines afrikanischen Häuptlings lebte.
»In primitiven Gesellschaften sind dicke Frauen sehr beliebt«, erzählte er mir. »Sie verschwand einfach zwei Wochen nach ihrer Ankunft dort unten. Glaub nicht alles, was du hörst, Audrina.«
Das war mein größtes Problem – was ich glauben sollte und was nicht.
Kichernd schenkte Mammi noch ein bißchen Tee in ihre und Tante Elsbeths Tasse. Dann griff sie nach einer Kristallflasche mit der Aufschrift ›Bourbon‹ und machte die Tassen voll. Erst dann entdeckte sie Vera. »Vera«, sagte sie, »möchtest du auch eine Tasse heißen Tee?«
Natürlich wollte Vera. Aber sie verzog wütend das Gesicht, als kein Bourbon dazugemischt wurde.
»Wieso bist du schon so früh aus der Schule zurück?« erkundigte sich meine Tante in scharfem Ton.
»Es war Lehrerversammlung, und alle Schüler wurden früher als gewöhnlich heimgeschickt.«
»Vera, sei ehrlich in der Gegenwart der lebenden Toten«, kicherte meine Mutter, die inzwischen fast betrunken war. Vera und ich wechselten Blicke. Dies war einer der seltenen Augenblicke, in denen wir uns wirklich verstehen konnten.
»Was treibst du denn, um dich zu amüsieren, Elsbeth?« fragte meine Mutter mit der hohen, schrillen Stimme, die sie annahm, wenn sie für Tante Mercy Marie sprach. »Du mußt dich doch auch manchmal langweilen, so abgeschieden von der Welt und ohne Freunde. Du hast schließlich keinen hübschen Ehemann, der dich in deinem kalten, einsamen Bett warm hält.«
»Also wirklich, Mercy«, antwortete meine Tante und blickte direkt in die Augen auf dem Foto, »wie könnte ich mich langweilen? Wo ich doch mit so faszinierenden Menschen wie meiner Schwester und ihrem Börsenmakler-Mann zusammenlebe, die es beide lieben, in ihrem Schlafzimmer miteinander zu kämpfen, bis einer von ihnen schreit. Ehrlich gesagt, ich fühle mich in meinem einsamen Bett ziemlich sicher, auch ohne einen gutaussehenden brutalen Mann, der seinen Gürtel gern als Peitsche einsetzt.«
»Elsbeth, wie kannst du meiner besten Freundin solchen Unsinn erzählen? Damian und ich spielen miteinander, das ist alles. Das erregt ihn und mich.« Mammi lächelte dem Foto entschuldigend zu. »Leider weiß Elsbeth überhaupt nichts von den vielen Dingen, die einen Mann erfreuen können.«
Meine Tante schnaubte verächtlich. »Mercy, ich bin überzeugt, du hast niemals zugelassen, daß Horace solche krankhaften Spielchen mit dir trieb.«
»Wenn sie es getan hätte, wäre sie jetzt nicht da, wo sie ist«, meinte Mammi kichernd.
Vera riß die Augen ebenso weit auf wie ich. Beide saßen wir stumm und reglos da. Ich war sicher, daß sie alle beide vergessen hatten, daß wir auch noch da waren.
»Wirklich, Mercy Marie, du mußt meiner Schwester verzeihen. Sie ist ein bißchen betrunken. Wie ich gerade schon sagte, ich lebe hier mit so faszinierenden Menschen zusammen, daß es keinen Augenblick langweilig wird. Eine Tochter ist im Wald gestorben, eine andere tritt an ihre Stelle, und die Dummköpfe geben ihr auch noch denselben Namen –«
»Elsbeth«, fuhr meine Mammi sie scharf an und richtete sich plötzlich kerzengerade auf, »wenn du deine Schwester und ihren Mann so sehr haßt, warum gehst du dann nicht fort und nimmst deine Tochter mit? Gewiß gibt es doch irgendwo eine Schule, die dringend eine Lehrerin benötigt. Du hast eine so scharfe Zunge, daß es dir eigentlich gelingen sollte, die Kinder damit im Zaum zu halten.«
»Nein«, erklärte meine Tante ruhig. Sie nippte noch immer an ihrem Tee. »Ich werde dieses Museum niemals verlassen. Es gehört mir genauso, wie es ihr gehört.« Sie spreizte den Finger auf eine Art und Weise ab, die ich bewunderte. Mir gelang es niemals, meinen Finger so lange so zu halten.
Komisch, daß meine Tante so vornehme Manieren hatte und dabei so wenig vornehme Kleider trug. Meine Mutter hatte schicke Sachen, aber sie benahm sich alles andere als schick. Während meine Tante ihre Knie dicht zusammenhielt, hielt Mammi sie auseinander. Während meine Tante so steif und gerade dasaß, als hätte sie einen Stock verschluckt, ließ sich meine Mutter zusammenfallen wie eine Puppe. Sie taten alles, um sich gegenseitig zu ärgern und zu verletzen – mit Erfolg.
Bei diesen Teestunden sagte ich niemals etwas, außer, ich wurde direkt angesprochen. Für gewöhnlich blieb Vera genauso still, weil sie hoffte, noch mehr Geheimnisse zu erfahren. Vera hatte sich um ein Sofa geschlichen und saß jetzt mit ausgestrecktem Bein da. Das andere hatte sie bis ans Kinn hinaufgezogen, während sie das bebilderte Medizinbuch durchblätterte, das die menschliche Anatomie erklärte. Gleich hinter dem Umschlag befand sich ihr Pappmann aus vielen dicken Papierschichten. Auf der ersten war er einfach nur nackt. Wenn man diesen Mann dann umdrehte, war er mit allen Arterien abgebildet, die rot eingezeichnet waren; die Venen blau. Unter diesem bunten Bild versteckte sich noch ein Mann, der all seine wichtigen Organe zeigte. Das letzte Bild zeigte das Skelett, das Vera überhaupt nicht beachtete. Es gab auch eine nackte Frau, die von innen bis außen betrachtet werden konnte, aber sie hatte Vera noch nie so interessiert. Schon vor langer Zeit hatte sie den »Fötus« aus der Gebärmutter gezogen und benutzte dieses Babybild jetzt als Lesezeichen in ihren Schulbüchern. Stück für Stück nahm Vera jetzt den nackten Mann auseinander und untersuchte ihn genauestens. Jedes Organ konnte wieder an seine richtige Stelle gebracht werden, indem man die Streifen durch die Schlitze mit der richtigen Nummer schob. Mit der linken Hand umfaßte sie seine Geschlechtsteile, während sie sein Herz und seine Leber herausriß, sie hin- und herdrehte, ehe sie schließlich das Papierding aus ihrer linken Hand nahm und genau studierte.
›Wie merkwürdig Männer doch gebaut sind‹, dachte ich, als sie den Mann wieder zusammensetzte. Dann schickte sie sich an, ihn wieder auseinanderzunehmen. Ich wandte mich ab.
Inzwischen waren meine Mutter und Tante Elsbeth schon recht betrunken.
»Ist irgend etwas so wunderbar, wie du es dir vorgestellt hattest?«
Mammi erwiderte den warmen Blick meiner Tante. »Ich liebe Damian immer noch, auch wenn er seine Versprechen nicht erfüllt hat. Vielleicht habe ich mir auch nur selbst was vorgemacht, als ich dachte, ich wäre tatsächlich gut genug, um Konzertpianistin zu werden. Vielleicht habe ich geheiratet, um nicht feststellen zu müssen, wie durchschnittlich ich wirklich bin, wie mittelmäßig.«
»Lucietta, das glaube ich einfach nicht«, sagte meine Tante erstaunlich lebhaft. »Du bist eine talentierte Pianistin, und das weißt du ebensogut wie ich. Du läßt bloß zu, daß dieser Mann dir Flausen in den Kopf setzt. Wie oft hat Damian dich schon damit getröstet, daß du ohnehin keinen Erfolg gehabt hättest?« »Unzählige Male«, sang meine Mutter albern. Sie war so betrunken, daß ich am liebsten geweint hätte. »Sprich nicht mehr davon, Ellie. Dadurch bekomme ich zu großes Selbstmitleid. Mr. Johanson wäre so enttäuscht von mir. Ich hoffe, er ist tot und hat niemals herausgefunden, daß ich es zu nichts gebracht habe. «
»Hast du ihn geliebt, Lucietta?« erkundigte sich meine Tante freundlich.
Ich spitzte die Ohren. Vera schaute von ihrem Spiel mit dem großen, nackten Mann auf, dessen Herz sie in der Hand zerquetschte.
Mr. Ingmar Johnson war der Musiklehrer meiner Mutter gewesen, als sie noch ein junges Mädchen war. »Als ich fünfzehn und voller romantischer Gefühle war, da habe ich schon gedacht, ich würde ihn lieben.« Mammi seufzte und wischte sich eine Träne fort, die über ihre Wange lief. Sie wandte den Kopf ab, so daß ich ihr schönes Profil sah, und starrte zum Fenster hinaus. Die Wintersonne fiel nur schwach ins Zimmer und warf blasse Lichtflecken auf den Orientteppich.
»Er war der erste Mann, der mir einen richtigen Kuß gegeben hat ... die Jungs in der Schule hatten das auch getan, aber seiner war der erste, richtige Kuß.«
Waren denn nicht alle Küsse gleich?
»Mochtest du seine Küsse?«
»Ja, Ellie, recht gern sogar. Sie erweckten eine Sehnsucht in mir. Ingmar hat mich erweckt und mich dann unerfüllt gelassen. Damals lag ich so manche Nacht wach, und selbst jetzt noch wache ich manchmal auf und wünsche mir, ich hätte ihn fortfahren lassen, hätte ihn beenden lassen, was er angefangen hatte, anstatt nein zu sagen und mich für Damian aufzuheben.«
»Nein, Lucietta, du hast es richtig gemacht. Damian hätte dich niemals geheiratet, wenn er auch nur vermutet hätte, daß du keine Jungfrau mehr seiest. Er behauptet zwar, ein moderner, liberaler Mann zu sein, aber im Grunde ist er konservativ. Du weißt verdammt gut, daß er nicht mit dem fertig geworden ist, was Audrina geschah, genausowenig wie sie ...«
Was meinte sie damit? Wie hätte die erste Audrina mit etwas fertig werden können, wenn sie sie doch tot im Wald gefunden hatten? Plötzlich drehte sich Mammi um, sah mich halb verborgen hinter dem Farn. Sie starrte mich an, als müßte sie ihre Gedanken erst ordnen, ehe sie sprechen konnte. »Audrina, warum versuchst du, dich zu verstecken? Komm her und setz dich auf einen Stuhl, wie eine Dame. Warum bist du so still? Sag doch ab und zu etwas. Niemand mag einen Menschen, der nicht weiß, wie man sich unterhält.«
»Was war es, womit die erste Audrina genausowenig fertiggeworden ist wie Papa?« fragte ich, stand auf und ließ mich dann gar nicht damenhaft in einen Sessel fallen.
»Audrina, sei vorsichtig mit der Teetasse!«
»Mammi, was ist meiner toten Schwester eigentlich genau zugestoßen? Was hat sie getötet – eine Schlange?«
»Das ist doch keine Unterhaltung«, fuhr Mammi mich zornig an. »Wirklich, Audrina, wir haben dir alles über den Unfall deiner Schwester erzählt, was du wissen mußt. Vergiß nicht, sie wäre noch am Leben, wenn sie uns gehorcht hätte. Ich hoffe, du wirst immer daran denken, wenn du glaubst, du müßtest dich auflehnen, und meinst, Ungehorsam sei ein gutes Mittel, dich an deinen Eltern zu rächen, die versuchen, das Beste für dich zu tun.«
»War die erste Audrina schwierig?« fragte ich in der Hoffnung, zu hören, daß sie nicht perfekt gewesen war.
»Jetzt reicht es aber wirklich. Denk nur immer daran, daß der Wald verbotenes Gebiet ist.«
»Aber Vera geht doch auch in den Wald ...«
Vera war aufgestanden und stand hinter dem Sofa. Sie lächelte meiner Mutter zu, und dieses Lächeln sagte mir, daß sie den Grund für den Tod meiner Schwester kannte. Plötzlich wünschte ich, sie hätte Mammis Warnung nicht mitgehört, denn damit hatte Vera eine zusätzliche Waffe gegen mich in der Hand.
Danach löste sich die Gesellschaft auf. Ich würde wohl nie eine glanzvolle Gesellschafterin abgeben. Tante Elsbeth legte das Foto fort, Vera hinkte zu ihrem Zimmer hinauf und nahm einen Teil des nackten Mannes mit, und ich saß allein im neurömischen Salon. Ich wußte jetzt, daß ich keine direkten Fragen stellen und eine offene Antwort darauf erwarten konnte. Ich mußte es lernen, heimtückisch zu werden, hinterlistig wie alle anderen, sonst würde ich niemals etwas erfahren, nicht einmal die Tageszeit.
In jener Woche war der Valentinstag. Nach der Schule hinkte Vera mit einem Papiersack voller Valentinsgeschenke heim, die sie alle von ihren Freunden bekommen hatte. Mit einem riesigen, roten Satinherzen kam sie in mein Zimmer. Sie öffnete das Herz und zeigte mir eine. Fülle köstlicher Pralinen. »Von dem Jungen, der mich am meisten liebt«, erklärte sie mir hochmütig und riß die Schachtel an sich, ohne mir auch nur eine einzige Praline anzubieten. »Eines Tages wird er mich von hier fortholen und mich heiraten. Es steht in seinen Augen geschrieben, diesen herrlichen, bernsteinfarbenen Augen. Er zieht bald – nun, ist ja egal, wohin er zieht. Aber er liebt mich. Ich weiß, daß er mich liebt ...«
»Was sagtest du? Wie alt ist er?«
»Was bedeutet das schon?« Sie setzte sich auf mein Bett und griff erneut in die Pralinenschachtel, wobei sie mir einen seltsamen Blick zuwarf. »Ich kann zehn, zwölf, vierzehn, sechzehn sein, jedes Alter. Denn ich habe den Zauber der ersten Audrina, der unvergessenen und perfekten, schönsten Audrina. Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die schönste Audrina im Land? Und der Spiegel antwortet: Du bist es, Vera, du.«
»Du bist verrückt«, sagte ich und wich zurück. »Und du kannst den Zauber gar nicht haben, denn er gilt nur für Mädchen mit meinem Namen. Papa hat mir das gesagt.«
»Ach, Papa würde dir doch alles erzählen. Und du bist dumm genug, es zu glauben. Ich werde niemals so dumm sein. Meine Mutter war dumm genug, sich von einem süß daherschwatzenden Knaben überreden zu lassen, mit ihm ins Bett zu gehen, aber mir wird so etwas nicht passieren. Wenn jemand verführt, dann werde ich es sein, die verführt. Ich weiß schon, wie. Dieses Medizinbuch verrät mir alles, was ich wissen muß. Dieser dumme Aufklärungsunterricht in der Schule bietet ja überhaupt keine Tatsachen.«
Bald hatte sie alle Pralinen aufgegessen und gab mir das leere Herz aus rotem Satin. Aus irgendeinem Grund rührte es mich. Wie nett von dem Jungen, Vera so etwas zu schenken. Ich hatte nicht gewußt, daß Vera in irgend jemandem Liebe entfachen konnte, da sie es ja nicht einmal bei ihrer eigenen Mutter vermochte.