Читать книгу Das Netz im Dunkel - V.C. Andrews - Страница 9

Der Schaukelstuhl

Оглавление

An diesem Abend, kurz nachdem ich zu Bett gegangen war, kam Vera in mein Zimmer. Ich war entschlossen, nur an schöne Dinge zu denken, ehe ich einschlief, denn ich hoffte, so auch schön zu träumen. Erstaunlich geschickt hüpfte sie auf den Krücken, an die sie sich gewöhnt hatte, herein und brachte es sogar fertig, dabei noch eine Büchertasche zu tragen, die sie sich um die Schulter gehängt hatte. Bloß sah diese Büchertasche anders aus als alles, was ich je gesehen hatte.

»Hier«, sagte sie und warf die Tasche auf mein Bett. »Bilde dich selbst weiter. Diese beiden Weiber in der Küche werden dir niemals beibringen, was ich dir beibringen kann.«

Ich war ein wenig skeptisch, aber auch glücklich, weil sie sich für meine Fortbildung interessierte. Ich wußte, daß mir vieles entging, weil ich keine Schule besuchen durfte. Als ich den Inhalt der Tasche auf mein Bett schüttete, fielen mir Dutzende von Fotos entgegen, die aus Zeitschriften ausgeschnitten worden waren. Ich traute meinen Augen nicht, als ich sie aufhob und sortierte. Ich starrte die ganze Zeit auf Bilder von nackten Männern und Frauen, die sich auf sonderbare, lüsterne Art eng umschlungen hielten. Die blöden Fotos klebten an meinen Fingern; wenn ich sie von einer Hand losriß, dann blieben sie gleich an der andern kleben. Und dann hörte ich zu meinem Kummer auch schon Papas schweren Schritt. Er ging auf mein Zimmer zu.

Das hatte Vera absichtlich getan! Sie wußte, daß Papa jeden Abend um diese Zeit in mein Zimmer kam.

»Ich gehe«, meinte Vera und grinste entzückt. Sie humpelte auf die Tür zu ihrem Schlafzimmer zu, das an meines grenzte. »Und wag es ja nicht, ihm zu erzählen, daß ich hiergewesen bin. Wenn du weißt, was gut für dich ist!«

Aber auf ihren Krücken war sie doch nicht schnell genug. Papa riß die Tür auf und schaute uns beide an. »Was geht hier vor?« fragte er.

Ich zögerte, klebten doch alle Beweise meiner Schuld an meinen Fingern. So hatte Vera Gelegenheit, mir alle Schuld in die Schuhe zu schieben. »Ich habe diese Büchertasche in einem Schrank gefunden, und da Audrinas Initialen darauf standen, dachte ich, diese Audrina sollte sie haben.«

Mit vor Wut gerunzelter Stirn kam Papa zu mir und riß mir die Bilder aus den Händen. Er warf einen Blick darauf und heulte zornig auf. Dann wirbelte er herum und schlug auf Vera ein – dabei ging es ihr doch ohnehin schon so schlecht. Als läge sie im Sterben, heulte Vera auf: »Sie gehören ihr! Warum schlägst du mich?«

Papa hob Vera hoch und hielt sie, als wäre sie ein kleiner Hund aus der Gosse. Er hielt sie über mein Bett. »So, und jetzt heb sie auf!« befahl er mit rauher Stimme. »Meine erste Audrina würde diesen Dreck genausowenig ansehen, wie sie dich teeren und federn würde – was ich aber tun werde, wenn du nicht aufhörst, mich zu quälen! So, und jetzt mußt du die Bilder essen«, fügte er hinzu, als Vera sie in ihrer bleichen, unruhigen Hand hielt. Ich dachte, er machte Witze; sie wohl auch.

»Ich schreie nach meiner Mutter!« drohte Vera. »Ich bin verletzt! Ich habe mir die Knochen gebrochen! Laß mich los, oder ich gehe morgen zur Polizei und erkläre, du hättest mich verge-«

»Iß sie auf!« brüllte er. »Du hast sie mit Klebstoff versehen. Sie sollten also nicht schlechter schmecken als das, was deine Mutter kocht.«

»Pa ... Pa«, heulte sie. »Zwing mich nicht, Papier und Klebstoff zu essen!«

Er schnaubte verächtlich und trug Vera aus dem Zimmer. Ein paar Sekunden später hörte ich sie schreien, als er ihre nackte Haut mit seinem Gürtel bearbeitete. Ich wußte nicht genau, ob er seinen Gürtel benutzte, wenn sie nackt war. Aber zehn zu eins würde sie es mir so erzählen. Vera konnte schon schreien, wenn eine Fliege auf ihrem Arm saß, also woher sollte ich es wissen, wenn ich nicht hinging und es mir anschaute? Aber ich tat es nie, denn aus irgendeinem Grund fürchtete ich, es könnte wahr sein.

Minuten verstrichen. Mein Herz klopfte wild. Endlich erstarben Veras Schreie, aber noch immer kehrte Papa nicht zurück.

Irgendwo unten schlug eine Uhr zehnmal, aber das hieß nichts. Jeder Knochen in meinem Körper schmerzte, jeder Muskel war angespannt. Ich wußte, daß ich heute abend wieder im Schaukelstuhl würde sitzen müssen.

Endlich, als ich die Warterei nicht länger aushalten konnte und wußte, daß ich nicht einschlafen würde, ehe ich tat, wozu er mich zwingen würde, hörte ich eine Tür zufallen. Bald darauf erklangen schwere Schritte auf dem Korridor. Papas Gang war stetig, und unter seinem Gewicht knarrten die alten Bodenbretter.

Ganz leise öffnete er meine Schlafzimmertür und trat ein. Leise schloß er die Tür hinter sich. Wie ein riesiges Monstrum ragte er vor mir im Dunkel auf.

»So«, meinte er mit sanfter Stimme in der langgezogenen Sprache der Südstaatenbewohner (es hatte jahrelang gedauert, bis er das abgehackte Sprechen der Nordstaatler abgelegt hatte), »jetzt hast du es dir also angewöhnt, obszöne Fotos anzuschauen. Das beschämt mich, Audrina, wirklich.«

»Aber ich doch nicht, Papa. Vera hat sie hierhergebracht – aber schlag sie bitte nicht wieder. Du könntest ihren anderen Arm oder ihr anderes Bein brechen oder sogar ihren Hals. Du solltest sie nicht auspeitschen, wenn sie verletzt ist.«

»Ich habe sie nicht ausgepeitscht«, erklärte er grob. »Ich habe nur mit ihr geschimpft, und sie hat gekreischt, daß ich sie nicht lieben würde. Lieber Gott, wie kann irgend jemand einen Menschen lieben, der so viel Ärger macht? Aber selbst wenn Vera diese bösen Bilder gebracht hat, hättest du sie dir ja nicht anzuschauen brauchen, oder?«

Hätte ich das?

»Ich hätte das nicht von dir erwartet. Laß Vera nicht das Beste in dir zerstören.«

»Warum sind Jungs für mich gefährlich und für Vera nicht, Papa?«

»Es gibt Mädchen, die sind dazu geboren, zu sein, was Vera ist. Die Jungs können sie meilenweit riechen. Darum mache ich mir um sie keine Sorgen. Es hätte auch keinen Sinn. Um dich mache ich mir Sorgen, weil ich dich liebe. Ich war auch einmal ein Junge, und ich weiß, was Jungen denken. Es tut mir leid, aber den meisten Jungs kann man nicht trauen. Darum darfst du auch nicht in den Wald gehen, mußt immer in der Nähe unseres Hauses bleiben. Und darum kannst du auch nicht zur Schule gehen. Das ist gefährlich für ein schönes, sensibles Mädchen wie dich. Aus dir wird einmal eine der Frauen werden, die dazu bestimmt sind, die Menschheit zu erlösen. Darum bemühe ich mich so sehr, dich zu retten und vor einer Ansteckung zu schützen ...«

»Aber ... Papa ...«

»Widersprich nicht. Nimm einfach die Tatsache als gegeben hin, daß Eltern sich Sorgen machen. Die Älteren wissen viel mehr über die Welt, vor allem aber über ihr eigen Fleisch und Blut. Wir wissen, daß du übersensibel bist. Wir möchten dir unnötigen Kummer ersparen. Wir lieben dich. Wir möchten dich gesund und glücklich aufwachsen sehen, das ist alles.«

Er setzte sich auf die Bettkante. Ich lag wie erstarrt auf dem Rücken und versuchte, nicht zu atmen. Ganz fest kniff ich die Augen zusammen. Dann öffnete ich die Lider ein wenig, um zu sehen, ob er meinte, daß ich eingeschlafen sei, so fest eingeschlafen, daß ich ebensogut tot sein könnte. Im Tode würde ich vielleicht so sein wie die erste und beste Audrina und würde niemals mehr in diesem Stuhl sitzen: müssen. Aber mein Vater beugte sich vor. Er nahm die Decke und zog sie bis hoch unter mein Kinn hinauf. Seine Hand schloß sich stahlhart um meine Schulter; seine kräftigen Finger bohrten sich in meine zarte Haut, bis ich die Augen weit aufriß und sich unsere Blicke trafen. Es war ein schweigender Willenskampf, und schließlich wurde mein Kopf leer, und er hatte wieder gesiegt.

»Aber, aber«, beruhigte er mich und streichelte mein Haar, »so schlimm ist es doch auch nicht, oder? Du hast es schon früher getan und kannst es wieder tun. Ich weiß, daß du früher oder später die Gabe übernimmst, wenn du Geduld hast und immer wieder übst. Du kannst mir helfen, Audrina.«

»Aber – aber«, stammelte ich. Ich wollte, daß er aufhörte. Aber er fuhr fort, überschwemmte mich mit seinen Bedürfnissen, die auch meine Bedürfnisse werden sollten.

Ich hatte Angst. Trotzdem machte mich meine Liebe zu ihm zu einem bereitwilligen Objekt.

»Du brauchst nichts weiter zu tun als zu träumen, Audrina, einfach zu träumen.« Träumen, träumen. Genau das wollte ich nicht. Wollte er so weitermachen, bis ich eine alte Frau war? Oder würde ich es schaffen, die Gabe der ersten Audrina zu übernehmen und Papa zufriedenzustellen? Gebe Gott, daß die Gabe der ersten und unvergessenen Audrina mir helfen würde, nicht so zu enden wie sie. Warum machte er sich deshalb niemals Sorgen?

»Träume, Audrina, mein Liebling. Shakespeare hat einmal geschrieben: ›Schlafen, vielleicht auch träumen‹. Träumen und die Wahrheit erfahren. Komm wieder und erzähl mir deine Träume, Audrina, sorge dafür, daß all die Hoffnungen deines Vaters für die Zukunft wahr werden.«

Ich starrte ihn an, wie er auf meinem Bett saß. Seine dunklen Augen blitzten nicht mehr, machten mir keine Angst mehr. Sie flehten nur noch und waren von Liebe erfüllt – wie konnte ich da widerstehen? Er war mein Vater. Von Vätern wurde erwartet, daß sie Gut und Böse unterscheiden konnten. Und ich schuldete ihm eine Menge. »Ja, Papa. Noch einmal. Aber dann ist es doch genug, oder?«

»Vielleicht«, sagte er, und ein Lächeln erhellte sein Gesicht. Scheinbar glücklich nahm mein Papa mich an der Hand und führte mich den Flur entlang zum Zimmer am äußersten, Ende. Dort angekommen, ließ er mich los und zog einen großen Schlüssel hervor, um Audrinas Zimmertür aufzusperren. Ein kalter Zug ließ mich erschaudern. Es war der Atem der ersten Audrina, der mich aus dem Grab anhauchte.

Ich sah mich um, wie ich es immer tat, als wäre ich nie zuvor hier gewesen. Ich hätte nicht sagen können, wie oft ich schon hier gewesen war. Dieser Raum schien das einzige zu sein, was all die Löcher in meinem Gedächtnis ausfüllte. Aber jedesmal, wenn ich hierherkam, war es ein Schock, die Mobiles unter der Kuppel klingen zu hören. Selbst im Dunkeln blitzten hier hinter meinen geschlossenen Lidern Farben auf. Vielleicht hielt ich da eine Erinnerung fest – die Erinnerung an diesen allzu bekannten und vertrauten Raum. Vielleicht zog ich schon Nutzen aus der Tatsache, einfach nur hier zu sein.

Wenn es nicht früher ihr Zimmer gewesen wäre, hätte ich es gern für mich gehabt. Es war riesig, mit einem großen Himmelbett. Es gab zwei große, dunkle Schränke, in denen all die hübschen Kleider hingen, die einmal ihr gehört hatten und die ich nicht anziehen durfte. Da standen kleine Schuhe, säuberlich aufgereiht, von der Größe für Einjährige bis zu der Größe, wie sie eine Neunjährige trägt. Ein paar waren alt und abgetragen, ein paar noch neu und glänzend. Die Kleider, die darüber hingen, wurden von Jahr zu Jahr länger.

Spielzeugregale standen an den Wänden, voll von Dingen, die sich ein kleines Mädchen wünschen konnte. Da waren Puppen aus fernen Ländern, die die Tracht der dortigen Einheimischen trugen. Es gab Puppengeschirr, Bilderbücher, Geschichten, Bälle, Springseile mit komischen Griffen, Schachteln mit Spielen, Puzzles und Farbkästen ... Oh, es gab nichts, was sie nicht für die erste unvergessene und perfekte Audrina gekauft hätten – weit mehr, als sie mir gekauft hatten. Auf den dunklen Borden, wo das Spielzeug für alle Ewigkeit saß und darauf wartete, wieder geliebt zu werden, gab es Dutzende von weichen, pastellfarbenen Tieren, alle mit dunklen Knopfaugen, die blitzten und leuchteten und jeder meiner Bewegungen zu folgen schienen. Es gab sogar noch Babyrasseln und abgetragene, bronzierte Babyschuhe, in denen sie ihre ersten Schritte gemacht hatte. Meine Schuhe hatten sie nicht aufgehoben und bronziert, genausowenig wie die von Vera.

Unter dem großen Fenster mit dem weißen Vorhang stand ein Puppenhaus. Auf einem Spielzeugtisch mit vier Stühlen darum standen Teller und Gläser, lag Besteck. Alles war für eine Party hergerichtet worden, die nie gegeben worden war. Und bunte Teppiche lagen überall, unterteilten das Zimmer in viele kleine Zimmer.

Ganz leise, wie Einbrecher, schlichen wir uns in das Zimmer, das uns gespannt erwartete. Ich hatte meine Hausschuhe im Flur gelassen, genau wie er. So wollten wir unseren Respekt vor diesem Zimmer bekunden, in dem sie einmal geherrscht hatte, sie, die perfekte Tochter. Allein die Art, wie ich mich zu verhalten hatte, sobald ich dieses Zimmer betrat – Papa hatte mich gelehrt, den Kopf zu neigen, die Augen zu senken und nur ehrfürchtig zu flüstern –, machte mir schon angst. Erwartungsvoll ruhte sein Blick auf mir, als wartete er darauf, daß ihre besondere Gabe in mein Gehirn springen und es mit Audrinas Eigenschaften erfüllen würde.

Er sah mich weiterhin an, wartete darauf, daß etwas geschah. Aber als ich mich dann nur im Kreis drehte, mal dies, mal das ansah, wurde er ungeduldig und wies schließlich auf den einzigen für Erwachsene geeigneten Stuhl in diesem Zimmer: den magischen Schaukelstuhl mit dem lila Bezug und dem rosa Samtkissen. Zögernd begab ich mich, Zentimeter für Zentimeter, hinüber, hielt den Atem an, als ich mich zwang, mich zu setzen. Kaum saß ich steif in meinem Sessel, da kniete er an meiner Seite. Dann begann sein Ritual mit Küssen, die er auf mein Haar drückte, auf mein Gesicht, ja, sogar auf meine Arme und Hände. Das alles, nur um mir zu sagen, daß er mich von allen am liebsten mochte. Er murmelte mir Liebkosungen ins Ohr; sein Atem war heiß und feucht, und ehe ich noch protestieren konnte; sprang er auf und raste aus dem Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und schloß ab.

Er hatte mich noch nie allein hier zurückgelassen!

»Nein, Papa!« schrie ich voller Panik und Entsetzen. »Komm zurück! Laß mich hier nicht allein!«

»Du bist nicht allein«, rief er mir von der anderen Seite der Tür aus zu. »Gott ist bei dir, und ich bin auch bei dir. Ich warte hier draußen, beobachte dich durchs Schlüsselloch, bete und lausche. Nur Gutes kann von deinem Schaukeln in diesem Stuhl kommen. Du mußt daran glauben, Audrina; nur Gutes wird deinen Geist erfüllen und an die Stelle deiner verlorenen Erinnerungen treten.«

Ich kniff die Augen zusammen und hörte die Mobiles noch lauter, viel lauter klingeln.

»Liebling, wein doch nicht. Du brauchst keine Angst zu haben. Hab Vertrauen zu mir und tu, was ich dir sage. Dann wird deine Zukunft noch heller sein als die Sonne über uns.«

Neben dem Stuhl war ein Nachttisch, auf dem eine Lampe stand. Daneben lag eine Bibel, ihre Bibel. Ich nahm das in schwarzes Leder gebundene Buch und hielt es dicht an mein Herz. Dann sagte ich mir, wie ich es schon so oft getan hatte, daß es nichts gab, wovor ich Angst haben mußte. Die Toten konnten niemandem etwas anhaben. Aber wenn sie das nicht konnten – weshalb hatte ich dann solche Angst?

Ich hörte Papas sanfte Stimme vor der verschlossenen Tür. »Du hast ihre Gaben, Audrina, ich weiß es. Selbst wenn du es nicht glaubst, ich glaube es. Und ich bin es, der Bescheid weiß. Ich bin sicher, unsere Bemühungen haben bisher nur deshalb nicht zum Erfolg geführt, weil ich mit dir im Zimmer geblieben bin. Meine Gegenwart ist es, die dir die Chance zum Erfolg nimmt. Jetzt weiß ich, daß es die Einsamkeit, die Abgeschiedenheit ist, die den Prozeß in Gang setzt. Du mußt deinen Geist von jeglicher Sorge befreien. Darfst weder Angst noch Freude, noch Verwirrung empfinden. Alles und nichts wird dir gegeben werden. Sei einfach zufrieden, daß du am Leben bist daß du bist, wer du bist und wo du bist. Verlange nichts und erhalte alles. Sitz einfach da und laß alles los, was dir angst oder Sorgen macht. Die Zufriedenheit wird dir deine Glieder lockern, deinen Geist entspannen, und wenn der Schlaf dich zu übermannen droht, dann laß ihn kommen. Hörst du mich? Hörst du mir zu? Keine Angst. Papa ist ja hier.«

All seine Worte waren mir vertraut. Es war immer dasselbe: Ich brauchte keine Angst zu haben, wo mich die Angst doch fast ersticken ließ. »Papa?« heulte ich ein letztes Mal, »bitte, laß mich nicht ...«

»Oh«, er seufzte aus tiefstem Herzen, »warum muß ich dich zwingen? Warum kannst du nicht einfach glauben? Lehn dich in den Schaukelstuhl zurück, lehn deinen Kopf gegen die hohe Rückenlehne, umfasse die Armlehnen und fang an zu schaukeln. Sing, wenn es dir hilft, einen klaren Kopf zu bekommen, Ängste, Sorgen und Wünsche abzulegen. Sing und sing, bis du wie ein leerer Krug bist. Leere Krüge haben Platz für vieles, aber volle Krüge können nichts mehr aufnehmen ...«

O ja, das hatte ich schon früher gehört. Ich wußte, was er tat. Er versuchte, mich in die erste Audrina zu verwandeln – oder vielleicht sollte ich auch nur das Instrument werden, durch das er mit ihr in Verbindung treten konnte. Ich wollte nicht sie sein. Und wenn ich jemals sie werden würde, dann würde ich ihn hassen, hassen! Ja, er beruhigte mich, tröstete mich, und wenn ich nicht die ganze Nacht hierbleiben wollte, dann mußte ich tun, was er sagte. Zuerst blickte ich mich wieder im Zimmer um, prägte mir noch einmal jede Einzelheit ein. Dann kam das Gefühl, daß ich sie sein könnte, die tote Audrina, die nur noch aus Knochen in ihrem Grab bestand. Nein, nein, ich mußte die richtigen Gedanken haben, mußte Papa geben, was er haben mußte. Ich sagte mir, daß das hier nur ein altes Schlafzimmer war, angefüllt mit altem Spielzeug. Ich sah eine riesige Spinne, die ihr Netz von einer Puppe zur anderen webte. Mammi mochte keine Hausarbeit, wollte nicht einmal dieses Zimmer putzen. Es wirkte zwar makellos sauber, aber das war nur die Oberfläche. Ich fühlte mich irgendwie wohler, als ich erkannte, daß Mammi nur Papas wegen so tat. Und Tante Elsbeth weigerte sich, dieses Zimmer zu putzen.

Unbewußt fing ich an zu schaukeln.

Eine alte, fast vergessene Melodie tauchte plötzlich wieder auf. Die Worte schläferten mich ein, die Melodie ließ meinen Puls langsamer schlagen. Plötzlich überkam mich innere Ruhe, ließ meine Lider schwer werden ..., und dann hörte ich ganz schwach mein dünnes Stimmchen singen:

Nur ein Spielzimmer im sichern Zuhaus,

nichts als ein Spielzimmer im sichern Zuhaus,

ich weine nicht, ich fürchte nichts, muß nicht in die Welt hinaus,

denn mein Papa behält mich immer zu Haus,

in meinem Spielzimmer im sichern Zuhaus.

Das Spielzimmer der ersten und unvergessenen Audrina. Der perfekten Audrina, die ihren Eltern niemals den Kummer und die Sorgen bereitet hatte, die sie mit mir täglich erlebten. Ich wollte ihr Lied nicht singen, aber ich konnte nicht aufhören. Wieder und wieder hörte ich, wie ich es sang, versuchte, meine Augen offenzuhalten, damit sie die Elefanten, Bären und Spielzeugtiger auf den Regalen sehen konnten, die alle so süß und freundlich schauten – bis ich mich abwandte. Wenn ich dann wieder hinsah, fletschten sie die Zähne.

Die Tapete war von einem verblaßten bläulichen Violett, geschmückt mit glitzernden Silberfäden, die Spinnweben an die Wände warfen. Auf den Spielsachen gab es noch mehr Spinnen. Eine riesige fing an, noch mehr Puppen zusammenzuweben, und eine andere ruhte sich in der Augenhöhle einer Puppe aus, deren Haar irgendwie die Farbe von meinem eigenen hatte. Es war schrecklich!

»Schaukle, Audrina, schaukeln!« befahl Papa. »Laß die Bodenbretter knarren. Laß die grauen Nebel kommen. Sieh zu, wie sich die Wände auflösen, hör zu, wie die Mobiles im Wind klirren. Sie bringen dich zurück, dorthin zurück, wo du all deine Erinnerungen wiederfindest, all die Gaben, die ihr innewohnten. Sie braucht sie nicht mehr, dort, wo sie jetzt ist, aber du brauchst sie. Also sing,

sing, sing,...«

Sein Singsang war hypnotisierend, aber er kannte die Worte nicht, die ich sagte. Papa liebt mich, ja, das tut er. Papa braucht mich, ja, das tut er.

Jesus liebt mich, das ist klar,

was in der Bibel steht, ist wahr ...

Die glänzenden, schwarzen Knopfaugen der Plüschtiere schienen zu glitzern und zu leuchten. Sie schienen mehr zu wissen, als ich je wissen würde. Kleine rosa oder rote Zungen schienen bereit, mir Geheimnisse zu erzählen, die Papa niemals enthüllen würde. Hoch über mir klirrten die Mobiles. Zufriedenheit überkam mich, als ich schaukelte und schaukelte und ruhiger wurde. Alles war in Ordnung mit mir, denn früher oder später würde ich auf unerklärliche Weise in etwas Besseres verwandelt werden ...

Ich wurde schläfrig, noch schläfriger, ein unwirkliches Gefühl. Das orangefarbene Licht der Gaslampen zitterte, fing die Silber- und Goldfäden in der Tapete ein. Die Farben im Raum fingen an, sich zu bewegen, zu funkeln wie Diamanten, die plötzlich Feuer gefangen hatten. Die Musik der Mobiles unter der Kuppel drang in meinen Kopf, tanzend, tanzend, sie erzählte mir von glücklichen Zeiten da oben, wenn ich gespielt hatte, und von einem schrecklichen Augenblick da oben. Wer ließ den Kristallzapfen aufblitzen? Wie konnte der Wind ins Haus eindringen und meine Haare flattern lassen, wenn alle Fenster verschlossen waren? Gab es Gespenster auf dem Dachboden? Oder Zugluft in der Kuppel? Warum bewegte sich das Haar auf meinem Kopf, warum?

Der gesunde Teil in mir wollte glauben, daß dies alles hoffnungslos sei, daß ich niemals ein »leerer Krug« werden würde, der sich mit allem nur erdenklichen Wunderbaren füllen würde. Ich wollte wirklich nicht diese erste Audrina sein, auch wenn sie schöner und talentierter gewesen war. Trotzdem schaukelte und sang ich weiter. Ich konnte nicht aufhören. Zufriedenheit breitete sich aus, machte mich glücklicher. Mein aufgeregtes Herz schlug langsamer. Mein Puls raste nicht mehr. Die Musik, die ich hörte, war schön, und ich hörte hinter mir – oder vor mir – eine Männerstimme singen.

Jemand, der mich brauchte, rief mich; jemand, der in der Zukunft wartete. Träumerisch, ohne mich darüber zu wundern, sah ich, wie sich die Wände öffneten, als sich die Moleküle langsam, ganz langsam trennten, öffneten und Poren bildeten, durch die ich ohne Schwierigkeit hinausschweben konnte. Ich war draußen in der Nacht, die schnell zum Tag wurde.

Frei! Ich war frei! Da war kein Spielzimmer mehr, kein Papa! Kein Whitefern!

Glücklich hüpfte ich nach der Schule an diesem, meinem besonderen Tag, heim. Und ich war ich. Glücklich tanzte ich einen schmutzigen Waldweg entlang. Ich kam gerade aus der Schule, und ich wunderte mich nicht darüber, obwohl ich wußte, daß ich nie zur Schule gegangen war. Irgend etwas Weises sagte mir, daß ich im Körper der ersten und wundervollsten Audrina steckte, und ich würde sie ebensogut kennenlernen, wie ich mich selbst kannte. Ich war sie, und sie war ich, und ›wir‹ trugen ein hübsches Kleid aus Crêpe de Chine. Darunter trug ich meinen besten Unterrock – den mit der irischen Spitze und den gestickten Kleeblättern am Saum.

Es war mein Geburtstag, und ich war neun. Jahre alt. Das hieß, daß ich bald zehn sein würde, und zehn war nicht mehr so weit von elf, und wenn ich erst einmal zwölf war, lag der ganze Zauber, eine Frau zu sein, zum Greifen nah vor mir.

Ich wirbelte im Kreis herum, um zu sehen, wie mein Faltenrock bis hoch zur Taille hinaufflog. Ich neigte den Kopf und drehte mich weiter, um meinen hübschen Unterrock zu sehen.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch auf dem Weg vor mir. Jemand kicherte. Der Himmel färbte sich plötzlich dunkel, es war wie Schwarze Magie. Blitze zuckten, Donner grollte.

Ich konnte mich nicht rühren. Wie eine Marmorstatue stand ich erstarrt da. Mein Herz begann wild zu schlagen. Ein sechster Sinn erwachte und schrie mir zu, daß etwas Entsetzliches geschehen würde, schon bald.

Schmerz, hämmerte mir mein sechster Sinn ein, Schande, Schrecken und Beschämung. Mammi, Papa, helft mir! Laßt nicht zu, daß sie mir weh tun! Laßt es nicht zu! Ich bin jede Woche zur Sonntagsschule gegangen, habe nicht einmal gefehlt, wenn ich einen Schnupfen hatte. Ich hatte mir meine schwarze Bibel mit meinem Namen in Gold verdient, und eine Goldmedaille hatte ich auch. Warum hatte der Schaukelstuhl mich nicht gewarnt und mir erzählt, wie ich fliehen könnte! Gott, bist du da? Siehst du das, Gott? Dann tu doch etwas! Tu irgend etwas! Hilf mir!

Sie stürzten aus den Büschen hervor. Drei von ihnen. Lauf, lauf ganz schnell. Sie würden mich nie kriegen, wenn ich schnell genug lief. Meine Beine bewegten sich, rannten ... aber nicht schnell genug.

Schrei, schrei laut und immer lauter!

Ich kämpfte, stieß und kratzte, mein Kopf krachte gegen die Zähne des Jungen, der mir die Arme auf dem Rücken festhielt.

Gott hörte meine Hilferufe nicht. Niemand hörte sie. Schrei, schrei, schrei noch einmal – bis ich nicht mehr schreien konnte. Ich fühlte nur noch Scham, Erniedrigung, rücksichtslose Hände, die mir Gewalt antaten.

Dann der andere Junge, der sich hinter den Büschen erhob, wie gelähmt dort stand und mich anstarrte. Sein Haar klebte an der Stirn, denn es regnete jetzt heftig. Sehen, wie er fortlief!

Meine Schreie ließen Papa ins Zimmer stürzen. »Liebling, Liebling«, rief er und fiel auf die Knie, damit er mich in die Arme nehmen konnte. Er drückte mich an seine Brust und streichelte meinen. Rücken, mein Haar. »Ist ja schon gut, ich bin ja hier. Ich werde immer hiersein.«

»Du hättest das nicht tun sollen«, schluchzte ich, noch immer zitternd von dem Schock.

»Was hast du diesmal geträumt, mein Liebes?«

»Schlimme Sachen, schreckliche Sachen.«

»Erzähl mir alles. Laß deinen Papa den Schmerz und die Schande von dir nehmen. Weißt du jetzt, warum ich dich immer davor warne, in den Wald zu gehen? Das war deine Schwester, Audrina. Deine tote Schwester. So etwas darf dir nicht geschehen. Du läßt diese Szene in deinen Kopf dringen, wo ich doch nur möchte, daß du dich auf die andere Seite des Waldes versetzt. Hast du gesehen, wie glücklich sie sein konnte? Wie froh und lebhaft? Hast du gefühlt, wie wundervoll alles für sie war, wenn sie sich dem Wald fernhielt? Das wünsche ich mir für dich. Ach, meine süße Audrina«, flüsterte er und vergrub sein Gesicht in meinem Haar, »es wird nicht immer so sein. Eines Tages, wenn du dich hinsetzt und schaukelst, dann wirst du auf die andere Seite des Waldes gelangen, wirst die Knaben vergessen und feststellen, wie schön es ist, am Leben zu sein. Und wenn du das erst tust, dann werden all die Erinnerungen, die du vergessen hast, die guten Dinge zurückkommen und dich wieder zu einem Ganzen machen.«

Da erzählte er mir, mit besten Absichten, daß ich jetzt kein Ganzes war – und wenn das stimmte, was war ich dann? Verrückt?

»Morgen abend werden wir es noch einmal versuchen. Ich glaube, es war nicht so schlimm wie bisher. Diesmal hast du dich frei gemacht und bist zu mir zurückgekehrt.«

Ich wußte, daß ich mich vor diesem Zimmer und diesem Stuhl hüten mußte. Irgendwie mußte ich Papa davon überzeugen, daß ich den Wald hinter mir gelassen und die Gaben bereits gefunden hatte, die die erste Audrina nicht mehr brauchte.

Ganz sanft und liebevoll brachte er mich ins Bett, deckte mich zu. Dann kniete er nieder und sprach ein Gebet, bat die Engel hoch droben, mich zu beschützen und sicher und mit süßen Träumen durch die Nacht zu geleiten. Er küßte mich auf die Wange und sagte mir, daß er mich liebte. Und schon als er die Tür hinter sich schloß, fragte ich mich, wie ich ihn dazu bringen könnte, mich nicht mehr in dieses Zimmer und diesen Stuhl zu zwingen. Wie kam es, daß ich haßte, was er mit mir machte, aber die Idee liebte, zu sein, was er sich wünschte? Wie konnte ich ich selbst bleiben – wenn er versuchte, mich in sie zu verwandeln?

Stundenlang lag ich auf dem Rücken und starrte zur Decke hinauf, versuchte, meine Vergangenheit wiederzufinden. Papa hatte mir unzählige Erklärungen dafür gegeben, was ihn am glücklichsten machen würde. Er wollte Geld, Unmengen von Geld, für sich selbst, für Mammi und mich. Er wollte dieses Haus herrichten lassen, bis es wie neu war. Er mußte all die Versprechen erfüllen, die er Lucietta Lana Whitefern gegeben hatte, der Erbin, die jeder achtbare Mann der Ostküste begehrt hatte, bis sie ihn geheiratet hatte. Was für eine gute Partie meine Mutter doch gewesen war. Hätte sie nur nicht zwei Audrinas geboren.

Das Netz im Dunkel

Подняться наверх