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Unter der Kuppel

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Nicht erwünscht, nicht würdig, nicht hübsch und nichts Besonderes: Das waren die Worte, die ich dachte, als ich die Treppe hinauf in den Dachboden stieg. Ich wünschte, die erste Audrina wäre niemals geboren worden. Ich mußte durch Unmengen staubigen, alten Gerümpels steigen, ehe ich die rostige, eiserne Wendeltreppe erreichte, die mich durch eine eckige Öffnung im Boden führte, die einmal von einem Eisengitter geschützt worden war. Eines Tages wollte Papa es ersetzen.

In dem achteckigen Raum lag ein rechteckiger Orientteppich, karmesinrot, gold und blau. Immer, wenn ich hier heraufkam, kämmte ich mit meinen Fingern die Fransen, so wie Papa oft mit seinen Fingern durch sein dunkles Haar fuhr, wenn er wütend oder enttäuscht war. In der Kuppel gab es keine Möbel, nur ein Kissen, auf dem ich sitzen konnte. Das Sonnenlicht fiel durch die bunten Glasfenster auf den Teppich und verwirrte mit seinem bunten Schein die Muster. Auch meine Arme und Beine waren gemustert, das sah aus wie Tätowierungen. Hoch droben hingen unter der Mitte des spitzen Daches lange Rechtecke aus buntem Glas – chinesische Windspiele, Mobiles an scharlachroten Seidenfäden. Sie hingen so hoch, daß sie sich niemals im Wind bewegten, und doch hörte ich sie oft klingeln, klirren. Wenn sie sich doch nur ein einziges Mal bewegen würden, wenn ich hinaufsah, dann könnte ich glauben, daß ich nicht verrückt war.

Ich ließ mich auf das Kissen, das auf dem Teppich lag, fallen und fing an, mit den alten Papierpuppen zu spielen, die ich an den Wänden entlang aufgestellt hatte. Jede einzelne hatte ihren Namen nach jemandem bekommen, den ich kannte. Aber da ich nicht viele Leute kannte, hatten viele der Papierpuppen denselben Namen. Aber nur eine einzige hieß Audrina. Ich schien mich schwach zu erinnern, daß es einmal Männer- und Knabenpuppen gegeben hatte, aber jetzt hatte ich nur noch Mädchen und Damen.

Ich war so in meine Gedanken vertieft, daß ich nichts hörte, bis plötzlich eine Stimme hinter mir fragte: »Denkst du über mich nach, süße Audrina?«

Mein Kopf fuhr herum. Da stand Vera in dem verwunschenen, bunten Licht der Kuppel. Ihr glattes Haar hatte die Farbe einer bleichen Aprikose. Noch nie hatte ich eine solche Farbe gesehen, aber das war in unserer Familie nichts Ungewöhnliches. Ihre Augen waren dunkel wie die Augen ihrer Mutter und meines Vaters.

Die Lichtstrahlen, die sich in den vielen bunten Fenstern brachen, warfen bunte Muster auf den Boden, tätowierten Muster in ihr Gesicht. Deshalb war ich sicher, daß meine Augen genauso leuchteten wie ihre, wie Juwelen. Die Kuppel war ein verzauberter Ort.

»Hörst du mir zu, Audrina?« fragte sie leise. »Warum sitzt du hier und antwortest nicht? Hast du die Sprache genauso verloren wie dein Gedächtnis?«

Ich haßte es, daß sie in der Kuppel war. Dies hier war mein eigener Raum, hier versuchte ich herauszufinden, an was ich mich nicht mehr erinnern konnte, während ich die Puppen hin und her schob, als wären sie meine Familie. Ehrlich gesagt: Ich spielte mit den Puppen die Jahre meines Lebens und versuchte auf diese Weise hinter das Geheimnis zu kommen, das sich mir immer wieder entzog. Eines Tages, eines wunderbaren Tages, so hoffte ich, würde ich diesen Puppen alles entlocken. Dann hätte ich mein eigenes Ich und wäre genauso wundervoll, wie meine tote Schwester gewesen war.

Veras linker Arm war bis vor kurzem noch eingegipst. Sie bewegte ihn jetzt ganz vorsichtig, als sie in mein kleines Heiligtum eindrang.

Trotz meines immer wiederkehrenden Hasses auf Vera tat es mir doch leid, daß sie sich den Arm brechen konnte, wenn sie damit an etwas Hartes stieß. Sie hatte sich angeblich schon elfmal einen Knochen gebrochen und ich noch nie! Ein kleiner Stoß gegen einen Tisch, und schon brach ihr Handgelenk. Ein leichter Anprall, und riesige, purpurrote Flecken zeichneten ihre Haut – wochenlang. Wenn sie aus ihrem Bett auf einen weichen Teppich fiel, brach sie sich immer noch ein Bein, einen Knöchel, einen Unterarm, irgend etwas.

»Tut dein Arm noch weh?«

»Sieh mich nicht so mitleidig an!« fauchte Vera, hinkte in die Kuppel und hockte sich dann ungeschickt hin. Ihre dunklen Augen bohrten sich in meine. »Ich habe zerbrechliche Knochen, zarte, kleine Knochen, und wenn sie so leicht brechen, dann liegt das daran, daß ich mehr blaues Blut habe als du.«

Sollte sie ihr blaues Blut doch behalten, wenn das mindestens zweimal im Jahr gebrochene Knochen bedeutete. Manchmal, wenn sie so gemein zu mir war, dachte ich, Gott wollte sie bestrafen. Und manchmal hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, weil meine Knochen so hart waren und nicht brechen wollten, wenn ich hin und wieder hinfiel.

›Ob wohl die erste, beste und perfekteste Audrina auch so aristokratisch wie Vera gewesen ist?‹ fragte ich mich wieder einmal.

»Und natürlich tut mein Arm noch weh!« kreischte Vera, und ihre dunklen Augen blitzten rot, blau und grün. »Es tut verteufelt weh!« Jetzt jammerte sie. »Wenn dein Arm gebrochen ist, fühlst du dich plötzlich so hilflos. Es ist wirklich noch viel schlimmer als ein gebrochenes Bein, weil es so viele Dinge gibt, die du nicht mehr tun kannst. Ich verstehe nicht, warum deine Knochen nicht viel eher brechen als meine, wo du doch nicht viel ißt ... aber das liegt wohl daran, daß du die Knochen eines Bauern hast.«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

»In meiner Klasse ist ein Junge, der sieht mich immer so mitfühlend an; und er trägt auch meine Bücher und unterhält sich mit mir und stellt mir alle möglichen Fragen. Er sieht so gut aus, du kannst es dir nicht vorstellen. Er heißt Arden Lowe. Ist das nicht ein ungewöhnlicher und romantischer Name für einen Jungen? Audrina, ich glaube, er hat sich in mich verliebt ... und er hat mich schon zweimal in der Garderobe geküßt.«

»Was ist eine Garderobe?«

»Mensch, bist du doof! Eine kleine Spinnerin, das ist Papas süße Audrina!« Sie kicherte, als sie mir den Fehdehandschuh hinwarf. Aber ich wollte nicht streiten, und so erzählte sie mir mehr von ihrem Freund namens Arden Lowe. »Seine Augen sind bernsteinfarben, die hübschesten Augen, die ich je gesehen habe. Wenn man sie aus der Nähe sieht, kann man sogar kleine grüne Flecken in ihnen sehen. Sein Haar ist dunkelbraun mit einem rötlichen Schimmer, wenn die Sonne darauf fällt. Klug ist er auch. Er ist ein Jahr älter als ich, aber das heißt nicht, daß er dumm ist. Er ist eben viel gereist und deshalb in der Schule ein bißchen zurückgeblieben.« Sie seufzte und schien verträumt.

»Wie alt ist Arden Lowe?«

»Gestern war ich zwanzig, also war Arden natürlich jünger. Ihm fehlt mein Talent, immer das Alter zu haben, was ich gerade haben will. Ich schätze, er ist elf, eine Art Baby, wenn ich zwanzig bin. Aber so ein hübsches Baby.« Sie lächelte mir zu, aber ich wußte verdammt gut, daß sie nicht älter sein konnte als ... zwölf? Ich wandte mich wieder meinen Puppen zu.

»Audrina, du liebst diese Puppen mehr als mich.«

»Nein, tu’ ich nicht ...« Aber ich war mir da gar nicht so sicher, nicht einmal jetzt, als ich es sagte.

»Dann gib mir die Knaben- und Männerpuppen.«

»Alle Knaben- und Männerpuppen sind fort«, antwortete ich mit merkwürdiger, zögernder Stimme, so daß Vera die Augen aufriß.

»Wohin sind denn all die Männerpuppen verschwunden, Audrina?« flüsterte sie mit einer so unheimlichen Stimme, daß ich schauderte.

»Ich weiß nicht«, flüsterte ich zurück, irgendwie verängstigt. Mit furchtsamen Augen blickte ich mich schnell um. Klimper-klimper machten die Mobiles über mir, während sie ganz ruhig hingen. Ich verkrampfte mich innerlich noch mehr. »Ich dachte, du hättest sie dir genommen.«

»Du bist ein böses Mädchen, Audrina. Wirklich, ein böses Mädchen. Eines Tages wirst du herausfinden, wie böse, und dann wirst du sterben wollen.« Sie kicherte und wich zurück.

Was stimmte nicht mit mir, daß sie mich immer wieder verletzen wollte? Oder stimmte mit ihr etwas nicht? Würden wir die Geschichte wieder und wieder nachvollziehen, wie meine Mutter und ihre Schwester?

Veras bleiches Gesicht grinste mich boshaft an. Es schien alles Böse zu zeigen. Als sie den Kopf wandte, spielten die Farben auf ihrem Haar. Ihr aprikosenfarbenes Haar wurde erst rot, dann blau mit lila Streifen. »Gib mir deine ganzen Puppen, auch wenn die besten schon zur Hölle gefahren sind.« Sie streckte sich, um ein halbes Dutzend der Puppen an sich zu reißen, die ihr am nächsten waren.

Blitzschnell riß ich ihr die Puppen aus den Händen. Dann sprang ich auf die Füße, lief umher und sammelte alle anderen Puppen ein. Vera kroch mir nach, um meine Beine mit ihren langen Fingernägeln, die immer messerscharf zugefeilt waren, zu zerkratzen. Aber es gelang mir, sie von mir fernzuhalten, indem ich einen Fuß gegen ihre Schulter stemmte, während ich die restlichen Puppen einsammelte. Jetzt hatte ich beide Hände voll, stieß Vera mit dem Fuß an, daß sie auf den Rücken fiel, und hastete auch schon mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Wendeltreppe hinab. Ich war sicher, daß sie mich nicht einholen konnte. Doch da hörte ich sie direkt hinter mir. Sie kreischte meinen Namen, befahl mir, stehenzubleiben. »Wenn ich falle, ist das deine Schuld, ganz allein deine Schuld!« Sie fügte noch ein paar schmutzige Worte hinzu, die ich nicht verstand.

»Du liebst mich nicht, Audrina«, hörte ich sie heulen. Die harten Sohlen ihrer Schuhe klapperten über die Metallstufen. »Wenn du mich wirklich wie eine Schwester lieben würdest, dann würdest du tun, was ich will, und mir alles geben, was ich haben möchte, um mich für den Schmerz zu entschädigen, den ich erdulden muß.« Ich hörte sie stehenbleiben und nach Luft ringen. »Audrina, wag ja nicht, diese Puppen zu verstecken! Wag es ja nicht! Sie gehören mir genauso wie dir!«

Nein, das taten sie nicht. Ich war es, die sie in einer alten Truhe gefunden hatte. Es gab eine Regel, daß der Finder die Fundsache behalten darf, und ich glaubte an Regeln und Maximen. Sie waren alt und im Laufe der Zeit erprobt.

Es war leicht, mich vor Vera zu verstecken, als sie unbeholfen die steile, schmale Treppe hinabstieg. Ich stopfte die Puppen und all ihre farbenprächtigen Kostüme unter ein loses Bodenbrett, als ich Vera schreien hörte.

O je! Sie war schon wieder gestürzt. Ich lief zu ihr. Sie lag zusammengekrümmt am Boden, das eine Bein grotesk abgewinkelt. Es war das linke Bein, das Bein, das sie schon zweimal gebrochen hatte. Ich fuhr zurück, als ich ein Stück Knochen aus dem Fleisch ragen sah. Blut spritzte aus der Wunde.

»Es ist deine Schuld«, stöhnte sie. Ihr hübsches Gesicht war vor Schmerz verzerrt und häßlich. »Es ist deine Schuld, weil du mir nicht gegeben hast, was ich haben wollte. Es ist immer deine Schuld, wenn mir etwas Schlechtes zustößt, immer nur deine Schuld. Manchmal sollte mir jemand das geben, was ich haben will.«

»Ich gebe dir die Puppen jetzt«, sagte ich leise, angesichts ihres Schmerzes bereit, ihr alles zu geben, was sie haben wollte. »Ich laufe nur schnell deine und meine Mutter holen, ehe –«

»Ich will deine verdammten Puppen nicht mehr!« schrie sie. »Hau bloß ab, und laß mich in Ruhe! Wenn du nicht wärst, hätte ich alles haben können. Eines Tages wirst du für alles bezahlen, was du mir gestohlen hast, Audrina. Ich sollte die Erste und Beste sein, nicht du!«

Mir war ganz übel, als ich sie so allein zurücklassen mußte, wie sie dalag, das Bein gebrochen, blutend. Dann bemerkte ich, daß auch ihr linker Arm merkwürdig verdreht war. O Gott! Er war auch wieder gebrochen. Jetzt hatte sie ein gebrochenes Bein und einen gebrochenen Arm. Aber dennoch hatte Gott Vera keine Demut beigebracht, die er mich gelehrt hatte – und gründlich gelehrt hatte ...

Woher wußte ich das?

Ich flog die Treppe hinab und stieß mit Papa zusammen. »Habe ich dir nicht verboten, in die Kuppel zu gehen?« fuhr er mich an, packte meinen Arm und versuchte mich davon abzuhalten, zu meiner Mutter zu laufen. »Geh nicht noch einmal dort hinauf, ehe ich das Gitter wieder angebracht habe. Du könntest fallen und dich verletzen.«

Ich wollte nicht diejenige sein, die Papa von Veras gebrochenen Knochen erzählte. Aber ich mußte es tun, da er meinen Arm nicht los ließ. »Sie liegt da oben und blutet, Papa. Wenn du mich nicht losläßt, stirbt sie vielleicht.«

»Das bezweifle ich«, sagte er. Trotzdem rief er Mammi zu: »Ruf den Rettungsdienst an, sie sollen einen Krankenwagen schicken, Lucky. Vera hat sich schon wieder die Knochen gebrochen. Meine Versicherung wird mir noch kündigen, wenn das so weitergeht.«

Doch obwohl er sich jetzt so unwirsch zeigte, war es dann Papa, der Vera beruhigte und neben ihr im Krankenwagen saß und ihre Hand hielt, während er mit der andern ihre Tränen fortwischte. Da lag sie nun auf der Bahre in einem Krankenwagen, der ihr schon sehr vertraut war, und befand sich wieder einmal auf dem Weg ins nächste Krankenhaus, wo man ihr noch einmal den Arm eingipsen würde und das Bein auch.

Ich stand an der Haustür und sah zu, wie der Krankenwagen um die Ecke bog. Sowohl meine Mutter als auch meine Tante weigerten sich, noch einmal mit ins Krankenhaus zu fahren und die langen Stunden des Wartens durchzustehen. Als Vera sich das letzte Mal das Bein gebrochen hatte, hatte der Arzt gesagt, daß es nicht noch einmal brechen dürfe, da es sonst vielleicht nicht so wachsen würde wie das andere.

»Schau doch nicht so traurig, Liebes«, tröstete Mammi mich. »Es war nicht deine Schuld. Wir haben Vera so oft gewarnt, diese Wendeltreppe hinaufzusteigen. Darum bitten wir dich ja auch immer, nicht dort hinaufzugehen, weil sie dir doch früher oder später folgen wird, um zu sehen, was du machst. Was die Ärzte angeht, die sagen immer nur das Schlimmste voraus, weil sie denken, daß wir dankbar seien, wenn es nicht wahr wird. Veras Bein wird wachsen und genauso lang werden wie das andere ... aber Gott allein weiß, wie sie es schafft, sich immer dasselbe zu brechen.«

Tante Elsbeth sagte überhaupt nichts. Es schien so, als beschäftigten sie die gebrochenen Knochen ihrer Tochter auch nicht annähernd so sehr wie die Suche nach einem Staubsauger, den sie schließlich im Schrank unter der Treppe fand. Sie machte sich auf den Weg zum Eßzimmer, in dem sechs Präsidenten hingen, die eine nackte Dame anstarrten.

»Kann ich dir irgendwie helfen, Tante Elsbeth?« fragte ich.

»Nein!« fuhr meine Tante mich an. »Du hast ja keine Ahnung, wie man irgendwas richtig macht. Am Ende hat man dann nur noch mehr Arbeit. Warum, zum Teufel, hast du Vera die Papierpuppen nicht gegeben, als sie darum gebeten hat?«

»Weil sie sie doch nur zerrissen hätte.«

Meine Tante warf mir einen wütenden Blick zu, dann meiner Mutter, die die Arme um mich gelegt hatte, und schließlich ging sie, den Staubsauger hinter sich, den Flur entlang und verschwand.

»Mammi«, flüsterte ich, »warum lügt Vera immer? Sie hat Papa erzählt, ich hätte sie die Treppe hinuntergestoßen, aber ich war nicht einmal in ihrer Nähe. Ich war auf dem Dachboden und hab’ die Puppen versteckt, während sie die Treppe herunterkam. Sie ist auch in der Schule gestürzt, und sogar damals hat sie behauptet, ich hätte sie geschubst. Mammi, warum sagt sie das? Wo ich doch überhaupt nicht zur Schule gehe? Warum darf ich nicht zur Schule gehen? Ist die erste Audrina zur Schule gegangen?«

»Ja, natürlich«, antwortete Mammi, und es hörte sich an, als hätte sie einen Frosch verschluckt. »Vera ist ein furchtbar trauriges kleines Mädchen. Deshalb lügt sie. Ihre Mutter kümmert sich kaum um sie, und Vera weiß, daß wir dich sehr liebhaben. Aber es ist so schwer, ein ungezogenes, haßerfülltes Mädchen liebzuhaben, obwohl wir uns alle wirklich viel Mühe geben. Vera hat einen grausamen Zug an sich, der mir große Sorgen macht. Ich habe solche Angst, daß sie etwas tun wird, um dir weh zu tun, uns allen weh zu tun.« Ihre hübschen, veilchenblauen Augen starrten ins Nichts. »Es ist zu schade, daß deine Tante hierherkommen mußte. Wir brauchen sie und Vera nicht, um unser Leben noch komplizierter zu machen.«

»Wie alt ist Vera, Mammi?«

»Was hat sie dir denn gesagt, wie alt sie sei?«

»Manchmal sagt sie, sie ist zehn, manchmal sagt sie, sie ist zwölf, und manchmal auch sechzehn oder sogar zwanzig. Mammi, sie lacht, als ob sie sich über mich lustig macht ... weil ich wirklich nicht weiß, wie alt ich selbst bin.«

»Aber natürlich weißt du, daß du sieben bist. Haben wir dir das nicht wieder und wieder gesagt?«

»Aber ich kann mich nicht an meinen siebten Geburtstag erinnern. Haben wir ihn gefeiert? Und feiert Vera ihren Geburtstag? Ich kann mich an keine einzige Feier erinnern.«

»Vera ist drei Jahre älter als du«, sagte Mammi schnell. »Wir können uns Geburtstagsfeiern nicht mehr leisten. Nicht, weil wir kein Geld dafür haben – aber du weißt ja, daß Geburtstagsfeste tragische Erinnerungen wecken. Weder dein Vater noch ich können den Gedanken an Geburtstagsfeiern ertragen. Deshalb haben wir alle nie mehr Geburtstag und behalten das Alter, das uns am besten gefällt. Ich werde zweiunddreißig bleiben.« Sie kicherte und küßte mich wieder. »Das ist ein hübsches Alter, nicht zu jung und nicht zu alt.«

Aber mir war es ernst, und ich hatte die Ausflüchte satt. »Dann hat Vera meine tote Schwester gekannt, ja? Sie sagt das jedenfalls. Aber wie kann sie das, wenn sie nur drei Jahre älter ist als ich?«

Wieder wirkte meine Mutter bekümmert. »In gewisser Weise hat sie sie gekannt. Weißt du, wir haben soviel von ihr gesprochen. Vielleicht reden wir immer noch zuviel über sie.«

Und so ging es immer, Ausflüchte, aber keine Enthüllungen, wenigstens nicht die, die ich mir wünschte, an die ich hätte glauben können.

»Wann darf ich zur Schule?« fragte ich.

»Eines Tages«, murmelte Mammi, »schon bald ...«

»Aber, Mammi«, beharrte ich und folgte ihr in die Küche, wo ich half, das Gemüse für den Salat zu schneiden. »Ich falle doch nicht immer hin und breche mir die Knochen. Also wäre ich in der Schule sicherer als Vera.«

»Nein, du fällst nicht«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich glaube, dafür sollten wir dankbar sein – aber du hast andere Möglichkeiten, dir selbst weh zu tun, nicht wahr?«

Hatte ich die?

Das Netz im Dunkel

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