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Whitefern

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Irgend etwas war sonderbar an dem Haus, in dem ich aufwuchs. Da waren Schatten in den Ecken, Geflüster auf den Treppen, und die Zeit war so unwichtig wie die Ehrlichkeit. Dabei hätte ich nicht sagen können, woher ich das wußte.

Ein Krieg fand in unserem Hause statt, ein stummer Krieg, bei dem keine Kanonen zu hören waren; und die Gefallenen waren nur Wünsche, die gestorben waren; und die Kugeln waren Worte, und das Blut, das vergossen wurde, wurde immer Stolz genannt.

Obwohl ich noch nie eine Schule besucht hatte – dabei war ich schon sieben Jahre alt, und es war höchste Zeit, daß ich in die Schule kam –, schien ich doch alles über den Sezessionskrieg zu wissen. In meiner Nähe fand dieser Krieg noch immer statt, und wenn sich die Zukunft auch endlos vor uns erstreckte, war da doch immer noch der Krieg, den wir nie vergessen würden. Denn unser Stolz war verletzt. Wir hatten die Schlacht verloren. Vielleicht tat es deshalb immer noch weh.

Meine Mutter und Tante Elsbeth sagten immer, daß Männer wilde Diskussionen über den Krieg jedem anderen Thema vorzögen. Aber wenn es überhaupt andere, wichtige Kriege gegeben hatte, in unserem Haus jedenfalls wurde niemals darüber gesprochen. Papa las jedes Buch, sah jeden Film, schnitt jedes Foto in einer Zeitschrift aus, das mit dem Krieg zwischen den Brüdern zu tun hatte, obwohl seine Vorfahren gegen meine Vorfahren mütterlicherseits gekämpft hatten. Er war in den Nordstaaten geboren, zog es aber vor, in den Südstaaten zu leben. Bei Tisch erzählte er aus den dicken Büchern, die er über General Robert E. Lee gelesen hatte, und er erzählte schreckliche Geschichten von blutigen Schlachten. Mich interessierte fast alles, was er las; nicht so meine Tante, die lieber fernsah, oder meine Mutter, die es vorzog, ihre eigenen Bücher zu lesen, und die behauptete, daß Papa die schönsten Stellen ausließ, weil sie nicht für Kinderohren geeignet waren.

Damit waren meine Cousine Vera und ich gemeint. Die meisten Menschen hielten Vera für meine Schwester, aber ich wußte, daß sie das uneheliche Kind meiner unverheirateten Tante war – und daß wir sie vor der gesellschaftlichen Schmach schützen mußten, indem wir sie als meine ältere Schwester ausgaben. Ich hatte auch wirklich eine ältere Schwester, aber sie starb schon, ehe ich geboren wurde. Sie hieß ebenfalls Audrina, und obwohl sie schon so lange tot war, war sie uns doch immer noch nah. Mein Papa vergaß die erste und außergewöhnliche Audrina niemals, und er hoffte immer noch, daß ich eines schönen Tages etwa genauso Besonderes sein würde wie sie.

Meine Cousine Vera freute sich, wenn die Leute sie für meine Schwester hielten. Ich wußte nicht, wie alt sie wirklich war, weil sie sich weigerte, es mir zu sagen. Niemand bei uns zu Haus nannte jemals sein wahres Alter. Nur über mein Alter wurde die ganze Zeit gesprochen. Vera prahlte immer damit, daß sie so alt sein konnte, wie sie gerade wollte – zehn, zwölf, fünfzehn oder sogar zwanzig. Sie konnte tatsächlich sehr erwachsen – oder sehr kindlich – aussehen. Das hing von ihrer Stimmung ab. Sie machte sich gern über mich lustig, weil ich überhaupt kein Zeitgefühl besaß. Oft erzählte mir Vera, daß ich aus dem Ei eines riesigen Straußes geschlüpft sei und daß ich von diesem Vogel eine Gewohnheit übernommen hätte: nämlich den Kopf in den Sand zu stecken und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Vera wußte nichts von meinen Träumen und der Schmach, der ich ausgeliefert war.

Von Anfang an wußte ich, daß Vera meine Feindin war, auch wenn sie so tat, als sei sie meine Freundin. Ich sehnte mich danach, sie zur Freundin zu haben, aber ich wußte, daß sie mich nicht mochte. Sie war eifersüchtig, weil ich eine Audrina war und sie nicht. Oh, wie sehr wünschte ich mir, daß Vera mich mögen und bewundern würde, so, wie ich sie manchmal bewunderte. Ich beneidete sie, denn sie war natürlich und mußte nicht versuchen wie jemand zu werden, der schon tot war. Niemand schien sich darum zu kümmern, ob Vera etwas Besonderes war. Niemand außer Vera. Vera sagte mir gern, daß ich eigentlich auch nichts Besonderes sei. Ich sei nur sonderbar. Um die Wahrheit zu sagen: Ich dachte manchmal selbst, daß ich irgendwie sonderbar war. Ich schien unfähig, mich an irgend etwas aus meiner frühen Kindheit zu erinnern. Ich konnte mich an überhaupt nichts entsinnen – was ich eine Woche oder auch nur einen Tag zuvor getan hatte. Ich wußte nicht, wie ich die Dinge gelernt hatte, die ich wußte, oder warum ich einiges zu wissen schien, was ich nicht wissen sollte.

Die vielen Uhren, die im ganzen Haus verteilt waren, verwirrten mich noch mehr. Die Standuhren in den Gängen schlugen unterschiedliche Stunden an; die Vögel in den Schweizer Kuckucksuhren hüpften durch ihre kleinen, geschnitzten Türen, und jeder widersprach jedem; die hübsche französische Uhr im Schlafzimmer meiner Eltern war schon vor langer Zeit am Mittag oder um Mitternacht stehengeblieben. Zu meinem großen Kummer gab es im ganzen Haus keine Kalender, auch keine alten. Die Zeitungen kamen nie an dem Tag, an dem sie erschienen. Die einzigen Zeitschriften, die wir besaßen, waren alt und in einem Schrank gestapelt, der oben auf dem Speicher stand. In unserem Haus warf niemand etwas fort. Alles wurde aufgehoben, damit unsere Nachkommen es eines Tages verkaufen und ein Vermögen damit verdienen konnten.

Meine Unsicherheit stand zum großen Teil mit der ersten Audrina in Zusammenhang, die genau neun Jahre vor meiner Geburt gestorben war. Sie war auf mysteriöse Weise im Wald umgekommen, nachdem grausame, herzlose Burschen sie auf unbeschreibliche Art mißbraucht hatten. Ihretwegen durfte ich niemals den Wald betreten, nicht einmal, um in die Schule zu gehen. Dabei waren wir von Wald umgeben, er erstickte uns fast. Auf drei Seiten wurden wir von Bäumen umarmt, auf der vierten verlief der Lyle-Fluß. Wenn wir irgendwohin wollten, mußten wir durch den Wald.

Überall in unserem Haus hingen Fotos von der ersten und unvergessenen Audrina. Auf Papas Schreibtisch standen drei gerahmte Porträts von ihr, mit ein, zwei und drei Jahren. Von mir stand da kein einziges Babyfoto, und das schmerzte mich. Die erste Audrina war ein zauberhaftes kleines Mädchen gewesen, und wenn ich ihre Fotos ansah, wünschte ich mir so sehr, wie sie zu sein, daß es weh tat. Ich wollte so sein wie sie, damit man mich liebhaben konnte, ich wollte etwas Besonderes sein, wie sie es gewesen sein mußte; und dann wieder wünschte ich mir nichts sehnlicher, als ich selbst zu sein, um meiner selbst willen die Liebe zu erhalten, die mir verweigert wurde.

Oh, die Geschichten, die Papa mir über seine erste Tochter zu erzählen wußte; mit jeder einzelnen von ihnen wurde mir immer bewußt gemacht, daß ich nicht die unvergessene Audrina war, nicht die perfekte und besondere – nur die zweite, minderwertige.

Meine Eltern hegten das Zimmer der ersten Audrina wie einen Schrein für eine tote Prinzessin. Es war noch genauso wie an dem Tag, der so schicksalhaft für sie geworden war. Aber Genaueres war mir nie darüber erzählt worden. Das Zimmer war so voll von Spielzeug, daß es eher wie ein Spiel- als ein Schlafzimmer aussah. Mammi selbst putzte dieses Zimmer, und dabei haßte sie Hausarbeit. Wenn ich bloß Audrinas Zimmer sah, wußte ich, daß für sie nichts zu gut gewesen war, während in meinem Zimmer viel weniger Spielsachen waren. Ich fühlte mich betrogen, um eine richtige Kindheit betrogen. Audrina, die erste und beste, hatte mir meine Jugend gestohlen, und alle redeten so viel von ihr, daß ich mich an nichts erinnern konnte, was mich selbst betraf. Ich glaubte, daß mein Gedächtnis ihretwegen so viele Lücken aufwies.

Papa versuchte diese Lücken zu stopfen, indem er sich mit mir in ihren Schaukelstuhl setzte und sang, bis ich »zu einem leeren Krug wurde, der alles in sich aufnahm«.

Er wollte, daß ich ihre Erinnerungen übernahm, ihre besonderen Kräfte erhielt, denn sie war tot und brauchte sie nicht mehr.

Als wäre ein Geist noch nicht genug, hatten wir noch einen zweiten, der jeden Dienstag um vier Uhr erschien. »Teestunde« nannten wir Tante Mercy Maries Tag. Da hockte sie dann auf dem Klavier, auf ihrem Schwarzweißfoto in dem Silberrahmen; ihr fettes Gesicht strahlte, und ihre blaßblauen Augen starrten uns an, als könnte sie uns wirklich sehen. Dabei konnte sie es nicht. Sie war tot, und doch wieder nicht tot, genau wie meine tote Schwester.

Meine Tante und meine Mutter sprachen dann für Tante Mercy Marie. Durch sie wurden sie all das Böse los, das sie sich extra für die »Teestunde« aufgehoben hatten. Merkwürdigerweise genoß meine Cousine Vera diese dienstäglichen Teestunden so sehr, daß sie immer einen Grund fand, um die Schule zu schwänzen. Nur um all die häßlichen Dinge hören zu können, die meine Mutter und ihre Halbschwester sich vorwarfen. Sie waren die Schwestern Whitefern, und vor langer Zeit hatte das einmal etwas Wundervolles bedeutet. Jetzt bedeutete es etwas Trauriges, aber sie wollten mir nie genau sagen, was.

Früher war die Familie Whitefern die angesehenste Familie in unserem Teil von Virginia gewesen. Aus ihr gingen die Senatoren und Vizepräsidenten hervor. Aber sie hatten uns nicht nur den Neid der Dorfbewohner, sondern auch aller anderen zugezogen; und jetzt wurde die Familie nicht mehr verehrt, ja, nicht einmal mehr respektiert.

Unser Haus lag fernab von jeglicher Stadt.

Das Dorf Whitefern war fünfzehn Meilen entfernt und über eine einsame Landstraße zu erreichen, aber wir fuhren nur selten hin. Es war, als wäre vor langer Zeit ein geheimer Krieg erklärt worden, und wir in unserem Schloß (wie Papa es gerne nannte) wurden von den ›Leibeigenen‹ aus dem Flachland gehaßt. Wenn überhaupt irgendeine Stelle in unserer Nähe als ›Hochland‹ bezeichnet werden konnte, dann war es der kleine Hügel, auf dem sich Whitefern erhob.

Papa mußte zu seinem Börsenmaklerbüro dreißig Meilen fahren. Alle Freunde, die wir hatten, wohnten in der Stadt. Unsere nächsten Nachbarn waren zwölf Meilen entfernt, wenn man über die Straße fuhr. Papa fuhr mit unserem einzigen Wagen zur Arbeit, und so blieben wir anderen ohne Transportmöglichkeit zurück. Immer wieder bedauerte meine Tante Elsbeth, daß sie ihr kleines Auto verkauft hatte, um dafür den Fernseher zu erstehen.

Meine Tante, die nie verheiratet war, liebte ihren Fernseher mit der 30-cm-Bildröhre. Sie erlaubte mir nur selten zuzusehen, aber ihre Tochter Vera konnte sich anschauen, was sie wollte, wenn sie aus der Schule heimkam. Das war auch wieder etwas, was ich nicht verstehen konnte: Warum durfte Vera zur Schule gehen und ich nicht? Für mich war die Schule gefährlich, nicht aber für Vera.

Natürlich schloß ich daraus, daß mit mir etwas nicht stimmen konnte. Meine Eltern mußten mich verstecken, damit ich sicher war sowohl vor anderen als auch vor mir selbst. Das war der Gedanke, der mir am meisten angst machte.

Im Alter von sieben Jahren, als andere Kinder in gelbe Schulbusse kletterten und kichernd und scherzend davonfuhren, saß ich am Küchentisch, und meine Mutter versuchte mir Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Sie spielte wunderbar Klavier, hatte aber nicht die Fähigkeit, jemandem etwas beizubringen, außer Klavierspielen. Zum Glück, oder vielleicht auch nicht, war meine Tante Elsbeth da, um zu helfen. Sie war früher einmal Lehrerin gewesen, immer bereit, jeden Jungen zu schlagen, der sie beleidigte. Doch dann war da ein Schlag zuviel gewesen, und die Eltern der Schüler hatten dafür gesorgt, daß meine Tante entlassen wurde. Sie hat noch viele Jahre lang versucht, eine neue Stelle zu finden, aber vergebens. Meine Tante hatte ein feuriges Temperament und eine nervöse Hand.

Ebenso wie ihre Tochter Vera nutzte auch Tante Elsbeth jede Gelegenheit, unser Leben zu kritisieren. Sie erklärte häufig, daß wir alle genauso ›vorsintflutlich‹ seien wie das Haus, in dem wir lebten.

In meinen Träumen von zu Hause erhob sich Whitefern hoch und hell vor einem dunklen, stürmischen Himmel, ein erschreckender Anblick. Bei Nacht ängstigte mich das Haus, doch bei Tage hieß es mich mit offenen Armen willkommen. Ich hatte die Gewohnheit, draußen auf dem Rasen zu sitzen und die Größe Whiteferns zu bewundern. Es sah aus wie ein viktorianisches Hexenhaus mit seinen vielen Schnörkeln, der weißen, abblätternden Farbe und den dunklen, rissigen Fensterläden. Es war drei Stockwerke hoch, hatte einen Dachboden und ein Tiefgeschoß auf der rückwärtigen Seite, dort, wo der riesige Garten sich zum Lyle hin senkte. Wenn ich das Haus so anstarrte, dachte ich, daß ich vieles mit ihm gemein hätte. Wir waren eben beide vorsintflutlich.

Wir hatten unzählige Fenster, von denen viele mit schönen Butzenscheiben geschmückt waren. Die Schlagläden, die fast schon abfielen, waren so dunkelrot, daß es aus der Ferne fast schwarz aussah, wie getrocknetes Blut. Von außen waren die Balustraden an all den Balkonen, Veranden und Terrassen das Schönste, denn sie waren so gearbeitet, daß sie aussahen wie Farnkraut.

Genau in der Mitte des dunklen Daches befand sich eine runde Kuppel mit einem Kupferdach, das sich jetzt grün verfärbt hatte. Dieses Dach lief spitz zu, und ganz oben krönte es eine goldene Kugel, deren Goldauflage jedesmal ein wenig dünner wurde, wenn es regnete. Die Kuppel war etwa vierzehn Fuß im Durchmesser, und jedes einzelne ihrer zahlreichen Fenster war aus Bleiglas, auf dem Szenen dargestellt wurden, die die Engel des Todes und des Lebens zeigten.

Im Haus und im Garten wuchsen überall Farnkräuter. Es gab auch noch andere Pflanzen, aber der Farn schien alle Feuchtigkeit an sich zu ziehen, so daß die meisten schon nach kurzer Zeit eingingen.

Heimlich und leise spielte ich in der großen Eingangshalle meine kleinen, einsamen Spielchen. Das bunte Glas der Doppeltür am Eingang warf Muster auf den Boden. Manchmal waren es messerscharfe Farben, die in mein Gehirn drangen und dort Löcher hinterließen. Dann hatte ich noch die kleinen Verse, die Vera mir beigebracht hatte. Ich sagte sie auf, damit sie mich vor den Farben beschützten:

Wenn du dem Schwarz trittst auf die Mitte,

lebst du für immer in ärmlicher Hütte.

Wenn du aber trittst auf Grün,

wirst nie in Sauberkeit du blüh’n.

Wenn du statt dessen trittst auf Blau,

macht schwere Arbeit dir dein Leben grau.

Wagst du dafür auf Gelb den Tritt,

spielt dir das Schicksal übel mit.

Trittst schließlich du auf Purpurrot,

bedeutet das den frühen Tod.

Um nun nicht auf irgendeine Farbe treten zu müssen, schlich ich mich an den Wänden entlang, hielt mich im Schatten, lauschte auf die Uhren, die die falschen Zeiten angaben, und die albernen Kuckucke, die des Nachts verrückt spielten. Wenn ein kräftiger Wind blies, klapperten die Fensterläden, und die Böden knarrten, der Ofen im Keller hustete, spuckte und stöhnte, und die Mobiles in der Kuppel klingelten, klingelten.

Doch bei Tage fühlte ich mich in unserem Haus wie Alice in einem Haus aus Edelsteinen. Überall hingen Art-Deco-Lampen, und Kunstgegenstände standen herum. Tiffany-Lampen warfen noch mehr Farben und Muster an die Wände. Kristallzapfen hingen von Lampenschirmen herunter, von Kerzenhaltern und Gaslampen, fingen Farben ein, leuchteten in allen Regenbogenfarben, wenn sich ein Sonnenstrahl durch die Spitzenvorhänge ins Haus stahl.

In jedem Zimmer hatten wir einen Kamin. Es gab acht aus Marmor, viele aus elegant geschnitztem Holz, aber nicht einen aus Ziegelsteinen. Ziegelsteine waren nicht elegant genug für unser Haus, das Einfachheit zu verabscheuen schien.

Die Decken waren hoch und kunstvoll geschnitzt. Sie bildeten den Rahmen für biblische oder romantische Szenen. In den alten Tagen hatten die Menschen, so erschien es zumindest meinen jungen Augen, entweder zu viel oder zu wenig an. Ich staunte darüber, daß die biblischen Szenen gewöhnlich mehr Fleisch zeigten als die Bilder, auf denen die Menschen entschieden böse waren. Man konnte kaum glauben, daß diese halbnackten Menschen ernsthaft versuchten, Gott zu folgen.

Nackte Busen von eindrucksvoller Größe stachen kühn in jedem Zimmer unseres Hauses hervor – mit einer Ausnahme, und das war in meinem Zimmer. George Washington und Thomas Jefferson und noch ein paar tote Präsidenten beäugten Tag für Tag die nackte Dame, die auf einem Sofa lag und sich für alle Zeiten Trauben in den offenen Mund fallen ließ. Nackte Babys flogen umher und schossen Pfeile ab. Die Männer verbargen ihre Nacktheit immer bescheiden hinter einem strategisch gut plazierten Blatt oder einem fließend drapierten Stück Stoff. Die Frauen waren nicht so geschickt, das zu verbergen, was sie hatten, dachte ich oft, wenn ich sie ansah. Sie blickten schüchtern, handelten aber kühn. Eines Tages war Tante Elsbeth hinter mich getreten und hatte verbittert erklärt, daß es nur natürlich sei, daß die Künstler die nackte, weibliche Gestalt ›ausbeuteten‹, da die meisten Maler Männer seien. »Beurteile die Frauen nicht nach dem, was du auf Gemälden und als Statuen siehst. Beurteile sie nur danach, was du selbst über die Frauen weißt, die in deinem Leben eine Rolle spielen. An dem Tag, an dem jeder Mann jede Frau versteht, wird die Welt untergehen. Männer sind hassenswerte Geschöpfe. Sie sagen, sie wünschen sich Göttinnen, die sie auf ein Podest erheben können. Wenn sie sie erst einmal dort haben, reißen sie ihr den Heiligenschein herunter, zerreißen ihre Gewänder und entfernen die Flügel, damit sie nicht mehr fliegen kann. Und dann treten sie das Podest fort, so daß die Frau ihnen zu Füßen fällt und die Männer aufschreien können, während sie sie treten oder – noch Schlimmeres mit ihnen tun.«

Wenn man meine Tante so reden hörte, hätte man meinen können, sie wäre mindestens ein dutzendmal verheiratet gewesen, und tausend Männer hätten sie enttäuscht. Dabei war es nur ein einziger Mann gewesen, soviel ich wußte.

Unsere Möbel gehörten verschiedenen Stilrichtungen an, aber alle waren ausgefallen und kunstvoll. Es schien so, als bemühte sich jeder Stuhl, jeder Tisch, jedes Sofa, jede Lampe, jedes Kissen darum, die anderen zu übertreffen. Tante Elsbeth schimpfte zwar auf die Möbel, aber Mammi nahm oft meine Hand und führte mich ehrfürchtig von einem Zimmer zum anderen, um mir zu erklären, daß dieser Tisch ›im Renaissance-Stil‹ gearbeitet war, hergestellt von Berkey und Gay, Grand Rapids, Michigan.

»Das sind alles Antiquitäten, Audrina. Sie sind alle ihr Gewicht in Gold wert. Das Bett in meinem Zimmer ist fünfhundert Jahre alt. Früher einmal haben Könige und Königinnen hinter seinen Vorhängen geschlafen.«

Hinter uns schnaubte meine Tante verächtlich und ungläubig.

Andere Leute hatten Strom in allen Zimmern; wir nur in der Küche und in den Badezimmern. In den anderen Zimmern benutzten wir Gaslampen, weil Mammi fand, daß sie ihrer Haut schmeichelten. Meine Tante fand sie Sch-- (aber ich durfte viele der Worte nicht benutzen, die meiner Tante so schnell über die Lippen kamen). Noch mehr als Gaslampen liebte meine Mutter brennende Kerzen und Holzscheite im Feuer, die knisterten und knackten und tanzende Schatten an die dunkel getäfelten Wände warfen. Unsere Küche fiel völlig aus dem Rahmen mit all den modernen Geräten, die das Leben für Mammi erträglich machten. Denn sie haßte jede Art von Arbeit, kochte aber liebend gern die Feinschmeckermenüs, die mein Vater so gern aß.

Von allen Zimmern liebten wir den neurömischen Salon am meisten. Dort lag Mammi in einem dünnen Negligée oder Sommerkleid auf der scharlachroten Samt-Chaiselongue, deren goldene Kordeln matt geworden waren und überall dort, wo sie nicht von Troddeln festgehalten wurden, abzufallen drohten. Mammi schien aber nicht zu bemerken, daß die Sprungfedern an ein paar Stellen herausstanden und daß die Polsterung herausquoll. In eleganter Haltung lag sie auf der Couch, las ihre Romane und hob gelegentlich die Augen, um verträumt in die Ferne zu starren. Ich vermutete, daß sie sich einbildete, in den Armen des hübschen Liebhabers zu liegen, der auf dem bunten Umschlag ihres Buches abgebildet war. Mutig nahm ich mir vor, eines Tages selbst solche Romane zu lesen, die gleichzeitig schön und böse sein mußten – aber woher ich wußte, daß es böse Bücher waren, hätte ich nicht sagen können, denn ich hatte noch niemals eines gelesen. Aber halbnackte Menschen auf dem Umschlag, das erschien mir schon sehr böse.

In Papas riesigem, runden Arbeitszimmer, das sich direkt unter der Kuppel befand, standen Tausende von uralten Büchern und viele schöne Ausgaben von Klassikern, die niemand außer Tante Elsbeth und mir las. Papa sagte, er hätte keine Zeit, sie zu lesen. Aber immer wieder fügte er der Sammlung neue Lederbände hinzu, als hoffe er, daß seine Freunde dächten, er würde sie lesen. Mammi versteckte ihre Taschenbücher im Schlafzimmerschrank und tat so, als würde auch sie die hochangesehenen, auf feinem Papier gedruckten und in Leder gebundenen Geschichten lieben.

Einige dieser klassischen Bücher beinhalteten wirklich Böses. Jedenfalls behauptete das meine Cousine Vera, die mich immer darüber aufklärte, was böse war und was nicht.

Ich hatte es gern, Mammi auf der Couch liegen zu sehen. Hinter ihr stand ein Konzertflügel, den ihr Vater ihr geschenkt hatte, als sie bei einem Musikwettbewerb den ersten Preis gewonnen hatte. Wie oft hat sie mir erzählt, daß sie in den besten Konzerthallen hätte spielen können. Aber Papa hatte keine Musikerin zur Frau gewollt. »Besser, du hast kein zu großes Talent, Audrina. Die Männer mögen es nicht, wenn eine Frau die Möglichkeit hat, mehr Geld zu verdienen als sie.« Ihre Hand schwebte abwärts. Ohne auch nur hinzusehen, fand sie genau das Stück Schokolade, das sie haben wollte, und steckte es sich in den Mund. Mein Vater befürchtete, sie würde zuviel Schokolade essen und fett werden. Aber das wurde sie nie.

Meine Mutter war groß und dort rundlich, wo eine Frau rundlich sein soll, und überall dort schlank, wo eine Frau schlank sein soll. Mein Papa hat mir oft erzählt, daß sie die schönste Frau an der Ostküste gewesen sei. Viele reiche und gutaussehende Männer hatten um die Hand meiner Mammi angehalten, aber es war Damian Jonathan Adare gewesen, der meiner Mutter mit seinem guten Aussehen und seinem gewinnenden Charme den Kopf verdreht hatte. »Er hat jeden anderen Mann in meinem Leben überragt, Audrina«, erzählte mir Mammi. »Als dein Vater von der See zurückkam, wurden alle Mädchen fast verrückt, einfach, weil er mit ihnen in einem Zimmer war. Und ich war natürlich glücklich, als er dann nur Augen für mich hatte.« Dann runzelte sie die Stirn, als wäre ihr gerade ein anderes Mädchen eingefallen, für das Papa ›Augen gehabt‹ haben könnte.

Vera scherzte gern darüber, daß mein Vater meine Mutter nur geheiratet habe, weil ihm ihre Haarfarbe so gut gefiel. »Hexenhaar«, nannte Vera Mammis und mein Haar. »Chamäleonhaar«, sagte Papa oft dazu. Es war merkwürdiges Haar, und manchmal dachte ich, daß Vera recht hatte. Unser Haar wußte einfach nicht, welche Farbe es haben wollte, und deshalb war es alles: flachsblond, weißgold, kastanienbraun, hellrot, goldbraun, kupfer und manchmal sogar weiß. Papa liebte die merkwürdige Farbe unseres Haares. Ich glaubte, er hätte Gott befohlen, mir das Haar mitzugeben, das ich hatte; wenn ER das nicht getan hätte, hätte Papa mich vielleicht wieder zurückgeschickt, denn die erste Audrina hatte dieses Haar auch gehabt.

Mein Papa war einsfünfundneunzig groß und gut zweihundert Pfund schwer. Er war der größte Mann, den ich je gesehen hatte. Aber Vera erzählte mir ständig, daß es viele Männer gab, die größer waren, vor allem Basketball-Spieler. Papas Haar war so schwarz, daß es im Sonnenlicht bläulich schimmerte. Er hatte wunderschöne, mandelförmige Augen, dunkelbraun, manchmal wirkten sie fast schwarz, und seine Wimpern waren so lang und dicht, daß sie künstlich zu sein schienen. Aber das waren sie nicht. Ich wußte es; ich hatte nämlich einmal versucht, sie abzureißen, nachdem ich gesehen hatte, wie Mammi sich falsche Wimpern angeklebt hatte. Seine Augen waren wie Öl, schreckhaft und wundervoll, vor allem, wenn sie glitzerten. Er hatte glatte, weiche Haut, die im Winter oft gerötet war und im Sommer dunkelbraun. Wenn Mammi böse auf Papa und seine selbstsüchtige Art war, mehr Geld für sich als für sie auszugeben, dann nannte sie ihn einen Stutzer und einen Gecken, aber ich wußte nicht, was diese Worte bedeuteten. Ich vermutete, daß es hieß, mein riesiger, mächtiger Papa sorgte sich mehr um Kleider als um Prinzipien.

Er hatte Angst davor, alt zu werden. Vor allem fürchtete er, sein Haar zu verlieren. Jeden Tag überprüfte er seine Bürste, zählte förmlich die Haare, die er fand. Viermal im Jahr ging er zum Zahnarzt. Der Arzt untersuchte ihn ebenso häufig wie der Zahnarzt. Papa jammerte über Kleinigkeiten, die niemand außer ihm selbst bemerkte, wie zum Beispiel seine dicken, hornigen Zehennägel, die er nur mit Mühe schneiden konnte. Aber wenn er lächelte, war sein Charme unwiderstehlich.

Prinzipien war ein weiteres Wort, das ich nicht verstand. Aber Mammi sagte oft, daß sie Papa fehlten. Wiederum vermutete ich, daß sie damit sagen wollte, daß Papa sich nahm, was er sich wünschte, und daß es besser war, wenn sich ihm niemand in den Weg stellte. Aber manchmal, wenn er mit mir zusammen war, war er zärtlich und liebevoll und ließ mir meinen Willen – aber nur manchmal. Es gab auch andere Zeiten – schreckliche Zeiten.

Als meine Tante mit Vera, die damals ein Jahr alt war, hierher zurückgekommen war, hatten sie abgemacht, daß Tante Elsbeth für Kost und Logis die Hausarbeit erledigen sollte, während meine Mutter das Kochen übernahm. Dummerweise wollte meine Tante kochen (was sie für einfacher hielt), statt die Hausarbeit zu erledigen, aber niemand hätte essen können, was meine Tante zubereitet hatte. Mammi verabscheute Hausarbeit, aber sie konnte einfach irgend etwas in einen Topf oder eine Schüssel werfen, und wenn es fertig war, schmeckte es einfach himmlisch. Papa sagte, sie wäre eine ›kreative‹ Köchin, weil sie den Geist des Künstlers in sich trug, während Ellie (nur er nannte sie so) dazu geboren war, die Sklavin eines Mannes zu werden. Oh, wie meine Tante ihn immer anfunkelte, wenn er so gemeine Sachen sagte.

Meine Tante war eine schreckliche Frau. Groß, schlank und gemein lautete Vaters Beschreibung. »Kein Wunder, daß dich kein Mann heiraten will«, neckte er sie oft. »Du hast die Zunge einer Xanthippe.« Aber sie hatte nicht nur eine spitze Zunge, die für Vera und mich gleichermaßen bissige Bemerkungen übrig hatte, sondern war auch schnell mit der Rute zur Hand. Zum Glück ließen meine Eltern uns selten mit ihr allein. In gewisser Weise schien es so, als würde meine Tante ihre eigene Tochter noch mehr verabscheuen als mich. Ich hatte immer geglaubt, daß Frauen dazu geboren sind, liebevolle Mütter zu werden. Aber wenn ich dann genauer darüber nachdachte, wußte ich nicht, wie ich darauf gekommen war. Mammi liebte es direkt, wenn meine Tante Vera züchtigte, denn dann konnte sie weit die Arme öffnen und Vera trösten, konnte wieder und wieder sagen: »Ist ja schon gut, ich liebe dich, auch wenn deine Mutter es nicht kann.«

»Das ist eben deine Schwäche, Lucietta«, erklärte meine Tante scharf. »Du kannst alles lieben.«

Als wäre ihre eigene Tochter weniger als ein Mensch.

Niemals verriet Tante Elsbeth, wer der Vater ihrer Tochter war. »Er war ein Lügner und Betrüger. Ich will mich nicht an seinen Namen erinnern«, schimpfte sie.

Es war so schwer zu verstehen, was in unserem Haus vorging. Da waren verräterische Strömungen wie in den Flüssen, die ins Meer führten, das nicht sehr weit von uns entfernt war.

Meine Tante war wirklich groß, ihr Gesicht war lang, und sie war knochig, obwohl sie dreimal soviel aß wie meine Mutter. Manchmal, wenn mein Papa ihr gemeine Dinge sagte, preßte meine Tante die Lippen zu einem ganz schmalen Strich zusammen. Ihre Nasenlöcher blähten sich auf, ihre Hände ballten sich zu Fäusten, als hätte sie ihn am liebsten geschlagen – wenn sie nur den Mut dazu gehabt hätte.

Vielleicht war es Tante Elsbeth, die unsere Freunde aus der Stadt davon abhielt, öfter zu kommen. Es mußte doch einen Grund dafür geben, daß sie nur kamen, wenn wir eine Party gaben. Mammi verglich unsere ›Freunde‹ mit Insekten, die aus dem Wald kämen, um sich am Picknick gütlich tun zu wollen. Papa bewunderte und liebte alle Parties, bis sie vorüber waren. Aber aus irgendeinem Grund schimpfte er danach auf Mammi und bestrafte sie für irgendeine Kleinigkeit, die er als ›gesellschaftlichen Fehltritt‹ bezeichnete, wie zum Beispiel einen gutaussehenden Mann zu lange anzusehen oder zu oft mit ihm zu tanzen. Oh, es war schwer, eine Ehefrau zu sein, davon konnte sie ein Liedchen singen. Man wußte nie genau, was man tun sollte, wie freundlich man sein durfte. Es wurde von Mammi erwartet, daß sie Klavier spielte, um die Leute zu unterhalten, während andere sangen oder tanzten. Aber sie durfte auch nicht so gut spielen, daß einige Leute zu weinen anfingen und ihr später sagten, wie dumm sie gewesen war, zu heiraten und ihre Karriere als Pianistin aufzugeben.

Aber niemals kamen unangemeldete Besucher in unser Haus. Auch Vertreter waren nicht zugelassen. Überall standen Schilder: »Vorsicht! Bissiger Hund!« und »Betreten verboten! Privatgrund!«

Häufig, wenn ich zu Bett ging, war ich unglücklich über mein Leben. Ich fühlte Strömungen, die mir die Füße unter dem Leib fortzuziehen drohten, und ich trieb dahin, zum Untergang und Tod durch Ertrinken verurteilt. Es kam mir vor, als hörte ich eine Stimme, die mir flüsternd erklärte, daß es viele Orte gab, zu denen ich gehen mußte. Aber ich ging niemals irgendwohin. Da konnte man Menschen kennenlernen, Spaß haben, aber ich wußte nichts davon. Ich wachte auf und hörte das Klingen der Mobiles, die mir wieder und wieder sagten, daß ich dort war, wo ich hingehörte. Und hier würde ich für alle Zeiten bleiben, und nichts, was ich auch tat, würde am Ende zählen. Schaudernd schlang ich die Arme um meine schmale Brust. In meinen Ohren hörte ich Papas Stimme, die wieder und wieder sagte: »Hierher gehörst du, hier zu deinem Papa, wo du sicher bist, in dieses Haus.«

Warum mußte ich auch eine ältere Schwester haben, die mit neun Jahren starb und jetzt tot in ihrem Grab lag? Warum mußte ich nach einem toten Mädchen benannt werden? Es schien sonderbar, unnatürlich. Ich haßte die erste Audrina, die unvergessene Audrina, die gute und perfekte Audrina, die nie etwas Falsches tat. Und doch mußte ich sie ersetzen, wenn ich jemals einen festen Platz in Papas Herz erhalten wollte. Ich haßte das Ritual, jeden Sonntag nach der Kirche ihr Grab zu besuchen und Blumen hinzulegen, die wir beim Blumenhändler gekauft hatten. Als wären die Blumen aus unserem Garten nicht gut genug für sie.

Am Morgen lief ich zu Papa, und er hob mich hoch und hielt mich in den Armen, als all die Standuhren in der Halle tickten und tickten. Das ganze Haus war still wie ein Grab, als wartete es darauf, daß der Tod kam und uns alle mitnahm, so, wie er die erste und unvergessene Audrina geholt hatte. Oh, wie ich meine tote, ältere Schwester haßte und beneidete. Es war wie ein Fluch, ihren Namen tragen zu müssen.

»Wo sind die anderen?« flüsterte ich und sah mich ängstlich um.

»Im Hof. Es ist Samstag, mein Liebling. Ich weiß, daß die Zeit für dich nicht wichtig ist, aber für mich. Für besondere Menschen mit ungewöhnlichen Gaben ist die Zeit nie wichtig. Aber für mich sind die Stunden des Wochenendes die schönsten. Ich wußte, daß du Angst haben würdest, wenn du plötzlich ganz allein hier im Haus gewesen wärst. Deshalb bin ich drinnen geblieben, während die anderen schon hinausgegangen sind, um die Früchte ihrer Pflanzarbeit zu ernten.«

»Papa, warum kann ich mich nicht wie alle anderen Menschen an jeden Tag erinnern? Ich kann mich nicht an letztes Jahr erinnern oder an das Jahr zuvor – warum nicht?«

»Wir sind alle Opfer eines doppelten Erbes«, sagte er leise und streichelte über mein Haar, während er mich in der alten Wiege schaukelte, die meine Urururgroßmutter benutzt hatte, um ihre zwölf Kinder aufzuziehen. »Jedes Kind erbt Gene von beiden Eltern, und diese bestimmen ihre oder seine Haarfarbe, Augenfarbe und Charakterzüge. Wenn Babys auf die Welt kommen, werden sie von diesen Genen und ihrer besonderen Umgebung beherrscht. Du wartest immer noch darauf, die Gaben deiner toten Schwester zu übernehmen. Wenn du das erst getan hast, wird dir alles Gute und Schöne auf dieser Welt gehören, so wie es ihr gehört hat. Und während du und ich darauf warten, daß der wunderbare Tag kommt, an dem dein leerer Kelch sich gefüllt hat, tue ich mein möglichstes, um dir nur das Allerbeste zu geben.«

In diesem Augenblick kamen meine Tante und meine Mutter in die Küche, gefolgt von Vera, die einen Korb mit frisch gepflückten Bohnen trug.

Tante Elsbeth mußte das meiste von dem, was Papa gesagt hatte, gehört haben, denn sie meinte ironisch: »Du hättest Philosoph statt Börsenmakler werden sollen, Damian. Dann würde vielleicht jemand auf deine Worte hören.«

Ich starrte sie an; aus meinem verräterischen Gedächtnis tauchte etwas auf, das ich vielleicht geträumt hatte, vielleicht auch nicht. Es hätte ein Traum sein können, der der ersten Audrina gehörte, die so klug, so schön und perfekt gewesen war. Aber ehe ich die Erinnerung festhalten konnte, war sie auch schon fort.

Ich seufzte, unglücklich über mich selbst und über die Erwachsenen, die mich beherrschten, über die Cousine, die darauf bestand, daß sie meine einzige Schwester sei, weil sie mir meinen Platz streitig machen wollte. Dabei war mir mein Platz schon längst von der ersten und unvergessenen Audrina gestohlen worden, der Audrina, die eine tote Audrina war.

Und jetzt sollte ich mich verhalten wie sie, sollte handeln wie sie, reden wie sie, sein wie sie ... und was sollte aus meinem wirklichen Selbst werden?

Der Sonntag kam. Sobald der Gottesdienst vorüber war, fuhr Papa wie immer direkt zum Familienfriedhof in der Nähe unseres Hauses. Der Name Whitefern war in ein riesiges Tor gemeißelt, durch das wir nun langsam fuhren. Wir hatten alle unsere besten Kleider an und hielten teure Blumen in den Händen. Papa zerrte mich aus dem Wagen. Ich wehrte mich, haßte dieses Grab, das wir besuchen mußten, und dieses tote Mädchen, das mir alle Liebe der anderen genommen hatte.

Ich glaube, das war das erste Mal, daß ich mich klar an die Worte erinnern konnte, die Papa schon oft zuvor gesagt haben mußte. »Da liegt sie, meine erste Audrina.« Traurig starrte er auf das flache Grab mit dem schmalen Grabstein aus weißem Marmor, auf dem mein eigener Name stand – aber ihr Geburts- und Sterbedatum. Ich fragte mich, wann sich meine Eltern wohl von dem Schock ihres geheimnisvollen Todes erholen würden. Mir kam es so vor, als würde das nie der Fall sein, wenn sechzehn Jahre es nicht geschafft hatten, sie zu heilen. Ich konnte es nicht ertragen, den Grabstein anzusehen. Deshalb starrte ich in das hübsche Gesicht meines Vaters hoch über mir. So würde ich es nie mehr sehen, wenn ich erst einmal erwachsen war; das kräftige, eckige Kinn von unten, dann die schwere, geschürzte Unterlippe, die Nasenlöcher und die langen Wimpern am unteren Augenrand, die sich mit den oberen mischten, als er blinzelte, um die Tränen zu unterdrücken. Es war, als würde ich zu Gott aufschauen.

Er schien so mächtig, als würde er alles beherrschen. Dann lächelte er mich wieder an. »Meine erste Audrina liegt in diesem Grab, mit neun Jahren gestorben. Diese wundervolle, ganz besondere Audrina – genauso wundervoll und besonders wie du. Zweifle niemals auch nur für einen Augenblick daran, daß du genauso wundervoll und begabt bist wie sie. Glaub an das, was Papa dir erzählt, und du wirst nie einen Fehler machen.«

Ich schluckte. Es tat mir immer in der Kehle weh, wenn wir dieses Grab besuchten und er mir von dieser Audrina erzählte. Natürlich war ich nicht wundervoll oder etwas Besonderes. Aber wie konnte ich ihm das sagen, wo er doch so davon überzeugt zu sein schien? In meiner kindlichen Art dachte ich mir, mein Wert für ihn hinge davon ab, wie wundervoll ich später sein würde.

»Oh, Papa«, weinte Vera und stolperte an seine Seite, umklammerte seine Hand. »Ich habe sie so geliebt, so sehr geliebt. Sie war so süß und wundervoll. Und so schön. Ich glaube, in einer Million Jahren gibt es niemanden mehr, der so ist wie deine erste Audrina.« Sie lächelte mir boshaft zu, um mir zu sagen, daß ich niemals so hübsch sein würde wie die erste und unvergessene und perfekte Audrina. »Und sie war so gut in der Schule. Es ist schrecklich, wie sie gestorben ist, einfach entsetzlich. Ich hätte mich so geschämt, wenn mir das zugestoßen wäre. So geschämt, daß ich lieber tot gewesen wäre.«

»Halt den Mund!« brüllte Papa so laut, daß die Enten auf dem Fluß davonflogen. Dann legte er hastig seine Blumen auf das Grab, nahm mich bei der Hand und zog mich zum Auto.

Mammi fing an zu weinen.

Aber ich wußte schon, daß Vera recht hatte. Welche wundervolle, besondere Gabe die erste Audrina auch gehabt hatte, sie war mit ihr in diesem Grab begraben.

Das Netz im Dunkel

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