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Löwen und Lämmer

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Eines Tages hörte ich, wie der Bote eines Bekleidungsgeschäfts zu Mammi sagte: »Ist heute nicht ein herrlicher Frühlingstag?« Sonst hätte ich vielleicht überhaupt nicht erfahren, daß Frühling war, so kalt war es. Die Bäume hatten noch nicht ausgeschlagen, die Vögel sangen nicht. Ich genoß es, zumindest die Jahreszeit zu wissen, wenn auch nicht den Monat. Aber ich schämte mich zu sehr, um zu fragen, welchen Monat wir hatten, und zu riskieren, daß die Leute mich mitleidig anstarrten. Es war nichts Tolles und Besonderes, nichts über die Zeit zu wissen – es war verrückt. Vielleicht schämten sie sich deshalb, mir zu sagen, warum die erste Audrina gestorben war. Vielleicht war sie auch verrückt gewesen.

Ich riskierte die Verachtung des Lieferanten, lief hinter ihm her und stellte meine alberne Frage: »Nun, wir haben März, Mädel. Er stürmt herbei wie ein Löwe, und bald verläßt er uns wieder so sanft wie ein Lamm.«

Es war kalt, der Wind blies heftig, und das konnte ich alles leicht mit einem Löwen in Verbindung bringen. Als ich am nächsten Tag aufwachte, schien die Sonne, Eichhörnchen und Kaninchen hüpften über unseren Rasen, und die Welt war in Ordnung, wenn man Papa und Mammi Glauben schenken konnte.

Das Abendessen am nächsten Tag endete damit, daß Papa Vera anfuhr: »Verschwinde aus der Küche! Man hat mir erzählt, daß du dabei erwischt worden bist, wie du im Drugstore schmutzige Bilder ausgeschnitten hast. Wenn ein Mädchen auf diese Weise stiehlt, dann steht fest: Wo Rauch ist, ist auch Feuer!«

»Ich habe nichts getan, Papa!« schluchzte Vera.

Später, in meinem Zimmer, fuhr sie mich an: »Gott hat mich mit zerbrechlichen Knochen und dich mit einem zerbrechlichen Hirn gestraft. Aber von beidem ist mir mein Schicksal noch immer lieber!« Aber dann weinte sie. »Papa liebt mich nicht, wie er dich liebt ... Ich hasse dich, Audrina, ich hasse dich wirklich.«

Ich war verblüfft. Ich war Papas Kind. Da war es doch nur natürlich, daß er mich am liebsten hatte. Ich versuchte, ihr das zu erklären. »Ach, du«, kreischte sie. »Was weißt du denn schon? Du bist verwöhnt und verhätschelt, als wenn du zu gut für diese Welt wärest ... Aber warte nur ab, am Ende bin ich es, die gewinnt!«

Entschlossen, etwas zu unternehmen, ging ich zu Papa, der aus irgendeinem Grund schrecklich aufgeregt zu sein schien. Er marschierte im neurömischen Salon auf und ab und warf von Zeit zu Zeit einen Blick auf seine Armbanduhr. Aber er wollte mich nicht hinsehen lassen, als ich es versuchte. »Was willst du, Audrina?« fragte er ungeduldig.

»Ich möchte über Vera reden, Papa.«

»Aber ich möchte nicht über Vera reden, Audrina.«

Ich wich zurück. »Selbst wenn sie nicht deine Tochter ist, solltest du nicht so gemein zu ihr sein.«

»Was hat sie dir erzählt?« erkundigte er sich mißtrauisch. »Hat sie versucht dir zu erklären, warum du diesen Traum hast?«

Ich riß die Augen auf. Ich hatte Vera niemals von meinem schlimmsten Alptraum erzählt. Papa war der einzige, der von meinen bösen Träumen wußte. Ich war sicher, daß er auch nicht wollte, daß Mammi sich deshalb Sorgen machte. Und dieser Traum war mein Fluch, meine Schande; niemals würde ich Vera davon erzählen. Ich bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, während ich immer weiter zurückwich.

»Warum hast du Angst vor deinem eigenen Vater? Hat dieses Mädchen dir schlimme Geschichten erzählt?«

»Nein, Papa.«

»Lüg mich nicht an, Mädel. Ich sehe sofort, wenn du lügst. Deine Augen verraten dich.«

Seine gemeine, rücksichtslose Art zwang mich, kehrtzumachen und fortzulaufen. Ich stieß gegen Garderobenständer und Schirmständer, bis ich schließlich in eine Ecke sank, um erst einmal wieder zu Atem zu kommen. Da hörte ich meine Tante und meinen Vater zusammen den Flur entlangkommen. »Es ist mir egal, was du sagst, Ellie. Ich tue mein Bestes, um sie zu heilen. Ich tue auch für Vera mein Bestes, und das ist nicht einfach. Großer Gott, warum konntest du nicht ein Kind wie meine Audrina bekommen?«

»Genau das braucht dieses Haus«, antwortete meine Tante kalt, »noch eine Audrina.«

»Jetzt hör mir mal zu, Ellie. Hör mir gut zu. Halt Vera von meiner Tochter fern! Erinnere Vera jeden Tag aufs neue daran, daß sie den Mund halten soll. Sonst ziehe ich ihr die Haut vom Leib und reiße ihr die Haare vom Kopf. Sollte ich jemals herausfinden, daß Vera auch nur irgend etwas damit zu tun hatte –«

»Natürlich nicht!«

Ihre Stimmen erstarben. Ich blieb allein im Schatten zurück. Mir war übel, als ich versuchte zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte. Vera kannte das Geheimnis, warum ich mich nicht wie andere Leute erinnern konnte. Ich mußte Vera dazu bringen, es mir zu erzählen. Aber Vera haßte mich. Sie würde mir niemals etwas erzählen. Irgendwie mußte ich Vera dazu bringen, mich nicht mehr zu hassen. Vielleicht sogar, mich zu mögen. Dann würde sie mir auch das Geheimnis erzählen, das mich umgab.

Beim Frühstück am nächsten Morgen lächelte Mammi und war sehr fröhlich. »Ratet, was passiert ist«, sagte sie, als sie sich zu Tisch setzte. »Wir werden Nachbarn bekommen. Dein Vater hat die kleine Hütte vermietet, in der Mr. Willis gewohnt hat, bis er starb.«

Dieser Name kam mir irgendwie bekannt vor. Hatte ich Mr. Willis gekannt?

»Heute ziehen sie ein«, fuhr Mammi fort. »Wenn wir nicht Tante Mercy Marie erwarten würden, könnten wir durch den Wald spazieren und sie willkommen heißen. Juni ist ein so schöner Monat.«

Mit offenem Mund starrte ich sie an. »Aber, Mammi, der Lieferant hat gestern gesagt, es sei März.«

»Nein, Liebling, es ist Juni. Der letzte Bote war schon vor Monaten hier.« Sie seufzte. »Ich wünschte, das Geschäft würde täglich liefern; dann hätte ich etwas, auf das ich mich freuen könnte, abgesehen von Damians Heimkehr.«

Die ganze Freude, die ich normalerweise bei der Aussicht auf Nachbarn empfunden hätte, war zerstört, weil ich ein so schlechtes Gedächtnis hatte. In diesem Augenblick hinkte Vera in die Küche, warf mir einen bösen Blick zu, ehe sie sich auf einen Stuhl fallen ließ und um Schinken, Eier, Pfannkuchen und Krapfen bat. »Hast du gesagt, wir würden Nachbarn bekommen, Mammi?«

Mammi? Warum nannte sie meine Mutter so? Ich funkelte sie zornig an, versuchte aber, es Mammi nicht sehen zu lassen. Sie sah müde aus, ziemlich mitgenommen, als sie anfing, die Gänseleberpastete für die Teestunde zuzubereiten. Warum machte sie sich nur so viel Mühe, wenn diese Frau doch tot war und nur Tante Elsbeth alles aufessen würde?

»Ich weiß, wer die neuen Nachbarn sind«, erklärte Vera grinsend. »Der Junge, der mir zum Valentinstag eine Schachtel mit Pralinen geschenkt hat, hat angedeutet, sie würden vielleicht in unsere Nähe ziehen. Er ist elf, aber er ist so groß, daß er aussieht wie dreizehn oder vierzehn.«

Mit grimmigem Gesicht stapfte meine Tante herein. »Dann ist er zu jung für dich«, fuhr sie Vera scharf an. War Vera wirklich so viel älter, als ich dachte? Himmel, warum konnte ich nicht von allen das Alter wissen? Sie wußten doch auch, wie alt ich war. »Fang bloß nicht an, ihm schönzutun, Vera, sonst wirft Damian uns beide hinaus.«

»Ich habe keine Angst vor Papa«, sagte Vera. »Ich weiß, wie man Männer behandeln muß. Ein Kuß, eine Umarmung, ein Lächeln, und schon schmelzen sie.«

»Du bist geschickt, das weiß ich. Aber laß diesen Jungen in Ruhe. Hast du gehört, Vera?«

»Ja, Mutter«, antwortete Vera, so verächtlich sie konnte. »Natürlich! Jeder Tote hat das hören können! Außerdem will ich wirklich keinen elfjährigen Jungen. Ich hasse das Leben hier draußen, wo es bloß die blöden Jungs aus dem Dorf gibt.«

Papa kam herein. Er trug einen neuen, maßgeschneiderten Anzug. Er setzte sich, befestigte eine Serviette unter seinem Kinn, um die reinseidene Krawatte nicht zu beschmutzen. Wenn Sauberkeit ein Zeichen der Götter war, dann war Papa ein wandelnder Gott.

»Ist es wirklich schon Juni, Papa?« fragte ich.

»Warum willst du das wissen?«

»Es kommt mir so vor, als wäre gestern erst März gewesen – der Mann, der Mammis neues Kleid gebracht hat, hat gesagt, es wäre März.«

»Das liegt doch schon Monate zurück, Liebling. Natürlich ist Juni. Sieh dir doch nur die Blumen an, wie sie blühen, und das grüne Gras. Und wie heiß es ist. Solche Tage hat man im März nicht.«

Vera aß die Hälfte ihrer Pfannkuchen. Dann sprang sie auf und lief in die Halle, um ihre Schulbücher zu holen. Sie hatte den Abschluß der Klasse nicht geschafft, und deshalb mußte sie jetzt in den Ferien acht Wochen lang die Sommerschule besuchen.

»Warum kommst du mir nach?« fuhr sie mich an.

Ich war dennoch fest entschlossen, Vera dazu zu bewegen, mich zu mögen. »Warum haßt du mich, Vera?«

»Ich hab’ keine Zeit, alle Gründe aufzuzählen.« Ihre Stimme war hochmütig. »In der Schule glauben alle, du seiest merkwürdig; sie wissen, daß du verrückt bist.«

Das überraschte mich. »Woher wissen sie das, wenn sie mich doch gar nicht kennen?«

Lächelnd drehte sie sich um. »Ich erzähle ihnen immer, was du Komisches machst: daß du dich immer im Schatten an der Wand hältst und daß du jede Nacht schreist. Sie wissen, daß du etwas so ›Besonderes‹ bist, daß du nicht einmal weißt, welches Jahr, welchen Monat oder welchen Tag der Woche wir haben.«

Wie gemein, die Familiengeheimnisse so auszuplaudern. Erneut verletzt, ließ mein Wunsch nach, sie zu bewegen, mich zu mögen. Ich glaubte sowieso nicht, daß sie es jemals tun würde. »Ich wünschte, du würdest nicht mit Leuten über mich reden, die das vielleicht nicht verstehen.«

»Was verstehen – daß du eine Irre ohne Gedächtnis bist? Wirklich, sie verstehen vollkommen; und niemand, absolut niemand, würde jemals mit dir befreundet sein wollen.«

Ein harter, schwerer Klumpen bildete sich in meiner Brust. Es tat weh. Ich seufzte und wandte mich ab. »Ich wollte bloß wissen, was alle anderen wissen.«

»Das, meine liebe kleine Schwester, ist vollkommen unmöglich für jemanden ohne Hirn.«

Ich wirbelte herum und brüllte: »Ich bin nicht deine Schwester! Lieber wäre ich tot, als deine Schwester zu sein!«

Noch lange nachdem sie die staubige Straße hinab verschwunden war, stand ich auf der Veranda und dachte, daß ich vielleicht verrückt war.

Um drei Uhr kam wieder Tante Mercy Marie, um auf unserem Klavier zu hocken. Wie immer wechselten sich meine Tante und meine Mutter ab, um für sie zu sprechen. Der Bourbon wurde in den dampfenden, heißen Tee geschenkt, und ich erhielt meine Tasse mit Cola und zwei Eiswürfeln. Mammi bat mich, so zu tun, als sei es heißer Tee. In meinem allerbesten, weißen Kleid saß ich im Sessel und fühlte mich ungemütlich. Weil Papa nicht da war, vergaßen mich die beiden Frauen schon bald und ließen all den Kummer heraus, der sich im Laufe der Woche angesammelt hatte.

»Elsbeth«, kreischte Mammi, nachdem das Haus beleidigt worden war, das sie so liebte, »das Schlimme mit dir ist, daß du so verdammt eifersüchtig darauf bist, daß unser Vater mich mehr geliebt hat als dich. Da sitzt du und sagst gemeine Sachen über dieses Haus, bloß weil du dir wünschst, es würde dir gehören. Genauso, wie du dir jede Nacht das Herz aus dem Leibe weinst, weil du allein in deinem Bett schläfst, oder dich unruhig hin und her wälzt, weil du eifersüchtig bist und das haben willst, was ich habe. Weil ich immer bekommen habe, was du dir gewünscht hast – dabei hättest du es haben können, wenn du deinen großen Mund nicht aufgemacht hättest!«

»Aber du weißt natürlich, wann du deinen großen Mund aufreißen mußt, Lucietta!« fuhr meine Tante sie an. »Dein Leben lang läufst du in diesem Mausoleum herum und schwärmst von seiner Schönheit. Natürlich hat unser Vater es dir hinterlassen und nicht mir. Ich hätte mich am liebsten übergeben, so süß warst du. Du hast mir alles gestohlen, was ich mir gewünscht habe. Sogar, wenn meine Freunde gekommen sind, um mich zu besuchen, warst du da, hast gelächelt und mit ihnen geflirtet. Du hast sogar mit unserem Vater geflirtet, hast ihn so umschmeichelt, daß ich daneben kalt und gleichgültig wirken mußte. Aber ich habe die ganze Arbeit hier getan, und ich tue sie immer noch! Du kochst das Essen und glaubst, das wäre genug. Nun, es ist nicht genug! Ich mache alles andere. Ich bin es leid, jedermanns Sklavin zu sein! Und als wenn das noch nicht genug wäre, bringst du deiner Tochter auch noch deine Tricks bei!«

Das schöne Gesicht meiner Mutter wurde flammendrot vor Empörung. »Nur weiter so, Elsbeth, dann wirst du kein Dach über dem Kopf mehr haben! Ich weiß schon, was dich so verbittert! Glaub nur nicht, ich wüßte es nicht. Du wünschst dir, daß du alles haben könntest, was ich habe!«

»Du bist eine Närrin. Und du hast einen Narren geheiratet. Damian Adare wollte nichts weiter als den Reichtum, von dem er angenommen hat, daß du ihn erben würdest. Du hast ihm niemals gesagt, daß unser lieber Vater seine Steuern nicht bezahlt hat, daß an unserem Haus nichts, aber auch gar nichts repariert worden ist. Das alles hat er erst erfahren, als es schon zu spät war. Du behauptest, du würdest Gaslicht lieben, aber in Wahrheit weißt du, daß elektrisches Licht den wahren Zustand dieses Hauses aufdecken würde. Die Küche und dieser Raum hier beherrschen unser Leben. Die Küche ist so hell, daß man kaum etwas sehen kann, wenn man anschließend dieses Zimmer betritt. Ich an deiner Stelle wäre ehrlich gewesen, und wenn du Ehrlichkeit einen Fehler nennst, dann bist du, bei Gott, fehlerlos!«

»Elsbeth«, schrie eine hohe Stimme vom Klavier her, »hör auf, so gehässig zu deiner geliebten Schwester zu sein.«

»Verschwinde und laß dich kochen«, kreischte Tante Elsbeth.

»Mercy Marie«, sagte meine Mutter, so arrogant sie konnte, »ich glaube, du solltest dich jetzt besser verabschieden. Da meine Schwester weder zu einem Gast noch zu meiner Tochter oder zu diesem Haus oder zu irgend jemandem sonst nett sein kann, nicht einmal zu ihrem eigenen Fleisch und Blut, sehe ich keinen Grund dafür, mit diesen Teestunden fortzufahren. Nur zögernd verabschiede ich mich von dir, denn ich habe dich geliebt und hasse den Gedanken an deinen Tod. Ich kann es nicht ertragen, zu sehen, wie Menschen, die ich liebe, sterben. Das hier war mein mitleiderregender Versuch, dich am Leben zu erhalten.« Sie sah meine Tante nicht an, als sie sagte: »Elsbeth, sei so freundlich und verlasse dieses Zimmer, bevor du etwas sagst, was mich dich noch mehr hassen läßt.« Mammi schien den Tränen nahe zu sein; ihre Stimme brach. Hatte sie vergessen, daß das alles nur ein Spiel war? War ich auch nur ein Spiel für sie, damit sie die geliebte erste Audrina am Leben erhalten konnte?

Der Mittwochmorgen kam. Ich war glücklich, daß ich mir einen Zettel geschrieben hatte, um mich zu erinnern, daß gestern Dienstag gewesen war. Jetzt hatte ich Zugriff zur Wirklichkeit. Heute war Mittwoch. Heute abend würde ich das aufschreiben. Endlich hatte ich eine Möglichkeit für mich gefunden, die Zeit festzuhalten.

Als ich am Zimmer meiner Eltern vorbeikam, auf dem Weg in die Küche, rief mich meine Mutter herein. Sie bürstete mit einer antiken, silbernen Bürste ihr langes Haar. Papa lehnte vor dem Spiegel und machte einen Knoten in seine Krawatte. Sorgfältig band er die Schlingen und Schlaufen, zog das eine Ende der Krawatte hindurch. »Sag du es ihr, Lucky«, sagte Papa sanft. Er schien vor Glück zu platzen. Mammi wandte sich mir zu. Auch sie lächelte.

Ich eilte zu ihr, damit sie mich umarmen und an ihre weiche Brust ziehen konnte. »Liebling, du hast dich immer darüber beklagt, daß du außer Vera niemanden zum Spielen hast. Aber es wird jemand kommen, der dir deine Einsamkeit nehmen wird. Ende November, Anfang Dezember wirst du bekommen, was du dir schon so lange sehnlichst wünschst ...«

Die Schule! Sie würden mich zur Schule schicken! Endlich!

»Liebling, hast du uns nicht oft gesagt, du hättest gern einen Bruder oder eine Schwester? Nun, dein Wunsch wird bald in Erfüllung gehen.«

Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Die Vision glücklicher Tage in der Schule schwand dahin. Niemals wurden meine Träume wahr, niemals. Doch als ich dann zitternd in ihrer Umarmung stand und Papa mein Haar streichelte, war ich plötzlich unerwartet glücklich. Ein Baby. Ein kleiner Bruder oder eine kleine Schwester würden mich sicher von ihrer allzu großen Aufmerksamkeit befreien. Vielleicht würden sie sich dann wünschen, daß ich nicht immer im Haus sei, würden mich zur Schule schicken, um zu lernen. Da war Hoffnung. Es mußte Hoffnung geben.

Mammi warf Papa einen langen, traurigen und bedeutungsvollen Blick zu. »Damian, diesmal werden wir doch bestimmt einen Sohn bekommen, nicht wahr?«

Warum sagte sie das? Mochte sie keine Mädchen?

»Ganz ruhig, Lucky. Die Chancen stehen gut. Diesmal werden wir einen Jungen bekommen.« Papa lächelte mir liebevoll zu, als könnte er in meinen aufgeschreckten Augen meine Gedanken lesen. »Wir haben schon eine wundervolle und besondere Tochter. Also schuldet Gott uns einen Sohn.«

Ja, Gott schuldete ihm einen Sohn, nachdem er ihm die erste und unvergessene Audrina genommen und nur durch mich ersetzt hatte.

An jenem Abend kniete ich neben meinem Bett, faltete die Hände unter dem Kinn und betete mit geschlossenen Augen: »Lieber Gott, selbst wenn meine Eltern sich einen Jungen wünschen, hätte ich wirklich nichts dagegen, wenn du ihnen ein Mädchen schickst. Laß sie bloß nicht veilchenfarbene Augen und Chamäleonhaar haben wie mich. Laß sie nichts Besonderes sein. Man ist so schrecklich einsam, wenn man etwas Besonderes ist. Ich wünschte, du hättest mich auch ganz gewöhnlich geschaffen und mir ein besseres Gedächtnis gegeben. Wenn die erste und unvergessene Audrina da oben bei dir ist, dann schaffe das Kind nach ihrem Vorbild oder nimm Vera. Mach dieses Baby wundervoll, aber nicht so besonders, daß es nicht einmal zur Schule gehen kann.« Ich wollte schon schließen und Amen sagen, aber dann fügte ich noch hinzu: »Und, lieber Gott, beeil dich und laß diese Nachbarn einziehen. Ich brauche einen Freund, selbst wenn es der Junge ist, der Vera mag.«

Ich führte jetzt Tagebuch, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. An diesem Donnerstag erfuhren meine Tante und meine Cousine die Neuigkeit, die ich schon einen ganzen Tag lang wußte. Es gab mir das Gefühl, meinen Eltern etwas Besonderes zu bedeuten, weil sie mir etwas so Wichtiges zuerst mitgeteilt hatten. »Ja, Ellie, Lucky ist wieder schwanger. Ist das nicht wundervoll? Natürlich werden wir diesmal einen Sohn verlangen, da wir ja schon die Tochter haben, um die wir gebeten hatten.«

Meine Tante warf meiner Mutter einen überraschten Blick zu. »Oh, mein Gott«, meinte sie bloß, »manche Menschen lernen es aber auch nie.«

Vera wurde noch bleicher, als sie es ohnehin schon war. Panik trat in ihre dunklen Augen. Dann bemerkte sie, daß ich sie anstarrte. Hastig richtete sie sich auf. »Ich gehe eine Freundin besuchen. Ich komme erst heim, wenn es wieder dunkel ist.«

Sie stand da, wartete darauf, daß jemand Einwände erhob, wie es sicherlich der Fall gewesen wäre, hätte ich dieselben Worte geäußert. Aber niemand sagte etwas. Es war fast, als wäre es ihnen allen egal, ob Vera zurückkam oder nicht. Erbost humpelte Vera aus der Küche. Ich sprang auf und folgte ihr auf die Veranda. »Wen besuchst du denn?«

»Das geht dich nichts an!«

»Wir haben keine Nachbarn in der Nähe, und bis zu den McKennas ist es sehr weit.«

»Kümmere dich nicht drum«, sagte sie mit erstickter Stimme. Tränen standen in ihren Augen. »Geh du nur wieder hinein und hör dir alles über das neue Baby an, und ich besuche meine Freundin, die dich nie ausstehen konnte.«

Ich sah ihr nach, wie sie die Sandstraße entlanghumpelte, und fragte mich, wen sie besuchen wollte. Vielleicht ging sie nirgendwohin, sondern suchte nur einen Flecken, wo sie für sich allein sein und weinen konnte.

Als ich wieder in die Küche kam, redete Papa noch immer. »Sie haben einen Teil ihrer Sachen letzte Woche in die Hütte gebracht, wohnen aber erst seit gestern dort. Ich habe sie noch nicht persönlich kennengelernt, aber der Makler sagt, sie hätten schon seit ein paar Jahren im Dorf gelebt und immer pünktlich ihre Miete bezahlt. Und denk nur, Lucky, jetzt hast du eine lebende Frau, die du zum Tee einladen kannst, und wir können uns von Mercy Marie verabschieden. Ihr beiden genießt es zweifellos, ihren grausamen, scharfen Geist zu imitieren, aber ich möchte dennoch, daß ihr mit diesem Spiel aufhört. Es ist nicht gut für Audrina, wenn sie Zeuge einer so bizarren Handlung wird. Außerdem kann Mercy Marie sehr gut die dicke Frau eines afrikanischen Häuptlings sein und alles andere als tot. Wir wissen nichts Genaues.«

Sowohl meine Mutter als auch meine Tante fingen an zu spotten – sie wollten nicht glauben, daß irgendein Mann Tante Mercy Marie haben wollte.

»Wir beenden die Teestunden«, sagte Mammi leise, als hätte sie jetzt, da sie ein Baby erwartete, jeglicher Gesellschaft ein Ende gemacht.

»Papa«, fing ich vorsichtig an, als ich mich wieder an den Tisch setzte, »wann habe ich Tante Mercy Marie das letzte Mal lebend gesehen?«

Papa beugte sich über den Tisch und küßte mich auf die Wange. Dann rückte er mit seinem Stuhl näher zu mir, so daß er den Arm um meine Schultern legen konnte. Meine Tante stand auf, um sich in den Schaukelstuhl zu setzen und zu stricken. Aber schon nach kurzer Zeit war sie so wütend mit ihrer Strickerei, daß sie sie hinwarf, einen Staubwedel ergriff und im angrenzenden Zimmer die Tischplatten abstaubte. Dabei hielt sie sich immer in der Nähe der Tür auf, damit sie zuhören konnte.

»Es ist schon viele Jahre her, daß du Mercy Marie gesehen hast. Natürlich kannst du dich nicht mehr an sie erinnern. Liebes, hör auf, dir deinen Kopf über die Vergangenheit zu zermartern. Heute zählt, nicht das Gestern. Erinnerungen sind nur wichtig für die Alten, die den besten Teil ihres Lebens bereits hinter sich haben und sich auf nichts mehr freuen können. Aber du bist noch ein Kind, und all die schönen Dinge liegen noch vor dir, nicht hinter dir. Du kannst dich nicht an jede Einzelheit deiner Kindheit erinnern, aber ich auch nicht. ›Das Beste kommt noch‹, hat irgendein Dichter geschrieben, und ich glaube daran. Papa wird dafür sorgen, daß du eine schöne Zukunft haben wirst. Deine Gabe wird wachsen und wachsen. Du weißt warum, nicht wahr?«

Der Schaukelstuhl. Der Stuhl machte aus mir die erste unvergessene Audrina und löschte all meine Erinnerungen aus. Oh, ich haßte sie. Warum konnte sie nicht einfach tot in ihrem Grab liegenbleiben? Ich wollte ihr Leben nicht, ich wollte mein eigenes. Ich befreite mich aus Papas Umarmung. »Ich gehe auf den Hof zum Spielen, Papa.«

»Aber lauf nicht in den Wald«, warnte er mich. Tante Elsbeth schien von unsichtbaren Fäden in die Küche zurückgezogen zu werden. Sie schwenkte den Staubwedel so drohend, als wollte sie Papa damit verprügeln.

Mammi wandte ihre violetten Augen ihrer Schwester zu und sagte sanft: »Wirklich, Elsbeth, du wirbelst mehr Staub auf, als du fortwischst.«

Kaum war ich draußen, als Papas Worte mir im Kopf herumgingen. Er liebte mich nicht wirklich. Er liebte sie, die erste und unvergessene. Die perfekte Audrina. Für den Rest meines Lebens würde ich versuchen müssen, das Niveau zu erreichen, das sie vorgegeben hatte. Aber wie konnte ich alles sein, was sie gewesen war, wenn ich doch ich selbst war?

Ich hatte eigentlich durch den Wald schleichen und unsere neuen Nachbarn besuchen wollen, aber meine Tante rief mich ins Haus zurück und hielt mich den ganzen Morgen damit in Trab, das Haus zu putzen. Mammi fühlte sich nicht wohl. Irgend etwas, das sie ›morgendliche Übelkeit‹ nannte, ließ sie immer wieder ins Bad rennen. Meine Tante sah erfreut aus, wenn sie es bemerkte, und murmelte die ganze Zeit über etwas von Dummköpfen vor sich hin, die den Zorn Gottes riskierten.

Gegen drei Uhr kam Vera heim. Sie sah verschwitzt, blaß und erschöpft aus. Sie warf mir einen verächtlichen Blick zu und stapfte die Treppe hinauf. Ich beschloß, erst nachzusehen, was sie tat, ehe ich mich durch den Wald schlich, um die neuen Nachbarn zu besuchen. Ich wollte nicht, daß Vera mir nachkam. Sie würde es bestimmt Papa erzählen, und dann wurde ich bestraft.

Vera war nicht in ihrem Zimmer. Auch nicht in meinem, wo sie die Schubladen durchwühlt hatte in der Hoffnung, etwas zu finden, was sich zu stehlen lohnte. Ich suchte weiter, hoffte, sie zu überraschen. Statt dessen überraschte sie mich.

In dem Zimmer der ersten Audrina, das Papa normalerweise verschlossen hielt, außer an den Tagen, an denen Mammi dort saubermachte, saß Vera in dem Schaukelstuhl. Dem Zauberstuhl. Hin und her schaukelte sie, sang dabei vor sich hin, wie Papa mich so oft singen ließ. Aus irgendeinem Grund war ich wütend, sie da zu sehen. Kein Wunder, daß ich die Gabe nicht empfing – Vera versuchte, sie mir zu stehlen!

»Steh sofort aus dem Stuhl auf!« schrie ich.

Zögernd kam sie wieder zu sich, öffnete ihre großen, dunklen Augen, die genauso funkelten wie Papas. Höhnisch verzog sie die Lippen. »Willst du mich etwa dazu zwingen, Kleine?«

»Ja!« wütete ich, marschierte in das gefürchtete und verhaßte Zimmer, bereit, mein Recht zu verteidigen, in diesem Stuhl zu sitzen. Auch wenn ich die Gabe der ersten und unvergessenen Audrina nicht wollte – Vera sollte sie erst recht nicht bekommen.

Ehe ich noch etwas tun konnte, war Vera schon aufgesprungen. »Jetzt hör mir mal zu, Audrina Nummer zwei. Am Ende werde ich es sein, die den Platz der ersten Audrina einnimmt. Du hast nicht, was sie gehabt hat, und du wirst es auch nie besitzen. Papa versucht und versucht, dich zu dem zu machen, was sie gewesen ist, aber es gelingt ihm nicht, und allmählich begreift er das. Darum hat er mir gesagt, ich sollte diesen Stuhl jetzt auch benutzen. Denn jetzt will er, daß ich die Gaben der ersten Audrina aufnehme. «

Ich glaubte ihr nicht, aber irgend etwas Zartes in mir bekam einen Sprung. Sie sah mich schwach werden, sah mich zittern. »Deine Mutter liebt dich auch nicht annähernd so sehr, wie sie die erste Audrina geliebt hat. Sie spielt dir ihre Liebe nur vor! Deine Eltern würden dich beide gern tot sehen, wenn sie dafür das Mädchen wiederhaben könnten, das sie wirklich geliebt haben.«

»Hör auf, so etwas zu sagen!«

»Ich werde nie aufhören zu sagen, was gesagt werden muß!«

»Laß mich in Ruhe, geh nie wieder in dieses Zimmer! Du bist eine Lügnerin, Vera, eine böse, gemeine Lügnerin!« Ich holte weit aus und schlug nach ihr. Ausgerechnet in diesem Augenblick mußte sie aufstehen. Hätte sie es nicht so genau abgepaßt, hätte meine Faust sie wohl verfehlt. So jedoch traf ich sie voll am Kinn. Sie fiel rücklings in den Schaukelstuhl, der daraufhin umstürzte. Aber der Sturz konnte nicht so schlimm gewesen sein, wie ihr Geheul vermuten ließ ...

Tante Elsbeth lief herbei. »Was hast du meiner Tochter angetan?« brüllte sie und half Vera auf die Füße. Kaum stand Vera, da stürzte Tante Elsbeth zu mir und schlug mich ins Gesicht. Geschickt wich ich ihrem zweiten Schlag aus. Ich hörte Vera schreien: »Mutter, hilf mir! Ich bekomme keine Luft mehr!«

»Natürlich bekommst du Luft«, fuhr meine Tante sie ungeduldig an. Aber eine Untersuchung im Krankenhaus ergab, daß Vera vier gebrochene Rippen hatte. Die Männer vom Rettungswagen warfen Mammi und meiner Tante sonderbare Blicke zu, als vermuteten sie, daß Vera sich nicht immer und immer wieder von selbst verletzen konnte. Dann schauten sie mich an und lächelten schwach.

Ich wurde ohne Abendessen zu Bett geschickt. (Papa kam erst spät heim, wegen eines Geschäftstreffens, und Mammi zog sich früh zurück und überließ mich der Obhut meiner Tante.) Die ganze Nacht über hörte ich Vera stöhnen, keuchen und nach Luft ringen, während sie versuchte zu schlafen. Vornübergebeugt wie eine uralte Frau kam sie mitten in der Nacht in mein Zimmer und schüttelte vor meinem Gesicht die Faust. »Eines Tages werde ich dieses Haus und alle, die darin sind, kaputtmachen«, zischte sie, »und du wirst die erste sein, an der ich Rache nehme. Denk immer daran, zweite und schlimmste Audrina, auch wenn du sonst alles vergißt.«

Das Netz im Dunkel

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