Читать книгу Das Netz im Dunkel - V.C. Andrews - Страница 8
Papas Traum
ОглавлениеNoch ehe die Dunkelheit der Dämmerung folgen konnte, war Papa schon aus dem Krankenhaus zurück und trug Vera in den neurömischen Salon. Als wenn Vera so leicht wie eine Feder wäre – selbst mit dem hüftlangen Gips an ihrem linken Bein und dem frischen Gips an ihrem linken Arm –, legte Papa sie vorsichtig und liebevoll auf die purpurfarbene Samtcouch, die Mammi so liebte. Vera schien sehr glücklich mit der großen Pralinenschachtel, die sie auf dem Heimweg vom Krankenhaus schon zur Hälfte leergegessen hatte. Sie bot mir nichts an. Also stand ich da und wünschte mir sehnsüchtig, wenigstens eine Praline zu bekommen. Dann sah ich, daß Papa ihr auch ein neues Puzzle gekauft hatte, das sie mit ihrem rechten, gesunden Arm zusammenfügen konnte. »Schon gut, Liebling«, besänftigte er mich. »Ich habe dir auch Pralinen und ein Puzzle mitgebracht. Aber du solltest dankbar sein, daß du nicht fallen und dir die Knochen brechen mußt, um ein bißchen Aufmerksamkeit und Liebe zu bekommen.«
Augenblicklich warf Vera ihr Puzzle fort und schob die Pralinen vom Tisch. »Aber, aber«, beruhigte Papa sie, hob die Schachtel auf und reichte sie ihr. »Dein Puzzle ist sehr groß. Audrinas ist nur klein. Und du hast eine Schachtel mit zwei Pfund Süßigkeiten, und Audrinas Schachtel wiegt nur ein Pfund.«
Wieder glücklich grinste Vera mich an. »Danke, Papa. Du bist so gut zu mir.« Sie streckte die Arme nach ihm aus, damit er sie küßte. Ich krümmte, mich innerlich, haßte sie, weil sie ihn Papa nannte, wo er doch gar nicht ihr Vater war, sondern meiner. Ich nahm ihm den Kuß übel, den er ihr auf die Wange drückte, ebenso wie die große Schachtel Pralinen und das größere Puzzle, das auch noch schönere Farben hatte als das, was Papa mir gegeben hatte.
Unfähig, sie noch länger anzusehen, schlenderte ich hinaus auf die Veranda und starrte zum Mond empor, der über dem dunklen Wasser aufging. Es war ein Viertelmond, den Papa Hornmond nannte, und ich bildete mir ein, das Profil vom Mann im Mond sehen zu können, der alt und gebrechlich aussah. Der Wind, der durch die Sommerblätter rauschte, klang nach Einsamkeit und erzählte mir, daß die Blätter bald sterben würden, der Winter kommen würde. Dabei hatte ich den Sommer überhaupt noch nicht genossen. Ich konnte mich schwach an glücklichere, heißere Sommer erinnern, und doch sah ich sie nicht deutlich vor mir. Ich schob eine Praline in den Mund, obwohl wir noch zu Abend essen mußten. Dieser August kam mir eher wie ein Oktober vor, ja, wirklich.
Als hätte er mich rufen gehört, kam Papa heraus und setzte sich neben mich. Er atmete den Wind tief ein, wie er es immer tat. Eine alte Angewohnheit aus seiner Zeit bei der Marine, hatte er mir oft erklärt.
»Papa, warum fliegen diese Gänse nach Süden, wenn es noch Sommer ist? Ich dachte, sie fliegen erst im Spätherbst.«
»Ich vermute, daß die Gänse mehr über das Wetter wissen als wir, und sie versuchen uns etwas zu sagen.« Sanft streichelte er mir übers Haar.
Ich wollte gerade noch eine Praline essen, als er sagte: »Iß nicht mehr als eine davon.« Seine Stimme war immer viel sanfter, wenn er mit mir sprach, freundlicher, als wären meine Gefühle so empfindlich wie Veras Knochen. »Ich habe gesehen, wie eifersüchtig du geschaut hast, als ich Vera einen Kuß gegeben habe. Du hast die Geschenke übelgenommen, die ich ihr gemacht habe. Aber irgend jemand muß sie trösten, wenn sie leidet. Und du weißt doch, daß nur du das Licht meines Lebens bist.«
»Du hast die erste Audrina lieber gehabt«, würgte ich heraus. »Ich werde nie so sein wie sie, Papa, ganz gleich, wie oft du mich in diesem Stuhl schaukelst. Warum muß ich denn so sein wie sie? Warum kannst du mich nicht nehmen, wie ich bin?«
Mit dem Arm um meine Schultern erklärte er mir wieder, daß er mir nur Selbstvertrauen schenken wollte. »In diesem Stuhl ruht ein Zauber, Audrina. Ich liebe dich, so wie du bist. Ich möchte dir nur darüber hinaus noch etwas geben, das sie nicht mehr braucht. Wenn du gebrauchen kannst, was sie hatte, warum nicht? Dann würde sich dein Gedächtnis, das jetzt noch wie ein Sieb ist, füllen, und ich würde mich so für dich freuen.«
Ich glaubte nicht daran, daß man aus diesem Stuhl etwas gewinnen konnte. Es war nur wieder eine weitere Lüge, die mich mit Entsetzen und ihn mit Hoffnung erfüllte. Seine Stimme nahm einen bittenden Ton an. »Ich brauche jemanden, der von ganzem Herzen an mich glaubt, Audrina. Ich brauche vom dir das Vertrauen, das sie mir geschenkt hat. Das ist die einzige Gabe, die dir fehlt. Ihre Art, Vertrauen in mich zu setzen, an mich zu glauben wie an sich selbst. Deine Mutter liebt mich, das weiß ich. Aber sie glaubt nicht an mich. Jetzt, wo meine erste Audrina nicht mehr ist, brauche ich dich, damit du mir das gibst, was einst in mir das Gefühl erweckt hat, rein und wunderbar zu sein. Ich möchte, daß du mich so brauchst, wie sie mich gebraucht hat. Mir vertraust, wie sie mir vertraut hat. Denn wenn du nur das Beste erwartest, dann wirst du auch nur das Beste bekommen.«
Das war nicht wahr! Ich riß mich aus seiner Umarmung. »Nein, Papa. Wenn sie wirklich nur das Beste erwartet hätte und wenn sie dir so vertraut hat, warum ist sie dann gegen deinen Willen in den Wald gegangen? Hat sie das Beste erwartet an dem Tag, als sie tot unter dem Goldregen gefunden wurde?«
»Wer hat dir das erzählt?« fuhr er mich scharf an.
»Ich weiß es nicht!« rief ich, verwirrt, als ich meine eigenen Worte hörte. Ich wußte nicht einmal, was ein Goldregen war. Sein Gesicht senkte sich in mein Haar, während seine Hände meine Schultern so fest umklammerten, daß es schmerzte. Als er schließlich Worte fand, hörte es sich an, als wäre er meilenweit entfernt, wie der warme Ort, zu dem diese Gänse gezogen waren. »In gewisser Weise hast du recht. Vielleicht hätten deine Mutter und ich sie eindringlicher warnen sollen. Aber wir waren einfach verlegen und haben unserer ersten Audrina nicht genug erzählt. Aber nichts davon war ihre Schuld.«
»Nichts wovon, Papa?«
»Abendessen«, rief Mammi, als hätte sie zugehört und genau gewußt, wann es Zeit war, unsere Unterhaltung zu unterbrechen. Meine Tante saß bereits an dem runden Tisch im Eßzimmer der Familie und machte ein finsteres Gesicht, als Papa Vera ins Zimmer trug. Vera sah sie ebenso funkelnd an. Meine Tante schien ihre Tochter nur zu mögen, wenn sie nirgends zu sehen war. In Gegenwart von Papa konnte sie so grausam zu Vera sein, daß sogar ich zusammenzuckte. Zu mir war sie nicht so gemein. Meistens behandelte sie mich gleichgültig, außer wenn es mir gelang, sie irgendwie zu verärgern, was häufig der Fall war.
Papa zog Vera an sich, ehe er am Kopf der Tafel Platz nahm. »Fühlst du dich schon besser, Liebes?«
»Ja, Papa«, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln. »Ich fühle mich jetzt prima.«
Kaum sagte sie das, als Papa mich anstrahlte. Er zwinkerte mir zu, und ich bin überzeugt, daß Vera es gesehen hat. Sie schlug die Augen nieder und starrte auf ihren Teller. Sie weigerte sich, ihre Gabel zu nehmen und zu essen. »Ich habe keinen Hunger«, erklärte sie, als meine Mutter sie zu überreden versuchte.
»Iß jetzt«, befahl Tante Elsbeth, »oder du bekommst erst wieder zum Frühstück etwas. Damian, du hättest wissen sollen, daß du den Kindern nichts Süßes vor dem Essen geben darfst.«
»Ellie, du gehst mir auf die Nerven. Vera wird schon nicht an Unterernährung sterben. Morgen stopft sie sich wieder so voll, wie sie es vor ihrem Sturz getan hat.«
Er streckte den Arm aus, um Veras blasse, lange Finger zu drücken. »Nun komm schon, Liebes, iß. Zeig deiner Mutter, daß du doppelt soviel vertragen kannst wie sie.«
Vera fing an zu weinen.
Wie schrecklich, daß Papa so grausam sein konnte! Nach dem Essen lief ich genau wie Mammi die Treppe hinauf, warf mich auf mein Bett und heulte aus vollem Hals. Ich wünschte mir ein einfaches Leben mit festem Boden unter den Füßen. Aber alles, worauf ich stand, war Treibsand. Ich wünschte mir Eltern, die ehrlich und beständig waren, nicht so launisch, daß ich mich nie darauf verlassen konnte, ob ihre Liebe nicht nur ein paar Minuten anhielt.
Eine Stunde später hallte der Flur von Papas schweren Schritten wider. Er machte sich nicht die Mühe zu klopfen, er riß einfach so heftig die Tür auf, daß der Griff noch eine Kerbe in die Wand schlug. Es gab zwar einen Schlüssel zu der Tür, aber ich wagte nie, ihn zu benutzen, aus Angst, mein Vater würde die Tür eintreten, wenn ich es tat. Papa betrat mein Zimmer in einem neuen Anzug, den er nach dem Abendessen angezogen hatte, und erzählte mir, daß er und Mammi ausgehen würden. Er hatte sich noch einmal rasiert, geduscht, und sein Haar umrahmte den Schädel in sanften, perfekten Wellen. Er setzte sich auf mein Bett, ergriff meine Hand und erlaubte mir, seine großen, eckigen Nägel zu sehen, die so lange poliert worden waren, daß sie glänzten.
Minuten verstrichen, in denen er einfach nur dasaß und meine Hand hielt. Die Nachtvögel in den Bäumen vor meinem Schlafzimmerfenster zwitscherten. Die kleine Uhr auf meinem Nachttisch zeigte zwölf Uhr, aber das war nicht die richtige Zeit. Ich wußte, daß er und Mammi nicht um Mitternacht ausgehen würden. Ich hörte in der Ferne ein Boot pfeifen, dann lief ein Schiff aus.
»Nun«, meinte er schließlich, »was habe ich denn diesmal getan, um dein empfindliches Ego zu verletzen?«
»Du brauchst nicht in der einen Minute so nett zu Vera sein und dann in der nächsten so gemein. Ich habe Vera nicht die Treppe hinuntergestoßen.« Ich stockte. Gewiß klang meine Stimme nicht gerade glaubwürdig.
»Ich weiß, daß du sie nicht geschubst hast«, sagte er ungeduldig. »Das hättest du mir gar nicht zu erzählen brauchen. Audrina, gestehe niemals ein Verbrechen, bevor du überhaupt angeklagt bist.« Seine dunklen Augen glitzerten im Dämmerlicht. Er machte mir angst.
»Deine Mutter und ich werden den Abend mit Freunden in der Stadt verbringen. Du brauchst heute abend nicht in den Schaukelstuhl. Sei einfach ein liebes Mädchen und schlaf, ohne zu träumen.«
Glaubte er, ich könnte meine Träume beherrschen? »Wie alt bin ich, Papa? Der Schaukelstuhl hat mir das nie verraten.«
Er stand auf und ging zur Tür. Dort blieb er noch einmal stehen und sah mich an. Das Licht der Gaslampen im Flur schimmerte auf seinem dichten, schwarzen Haar. »Du bist sieben und wirst bald acht.«
»Wie bald?«
»Sehr bald.« Er kam zurück und setzte sich wieder. »Wie alt möchtest du denn sein?«
»Nur so alt, wie ich sein sollte.«
»Du würdest einen guten Anwalt abgeben, Audrina. Du gibst mir niemals eine direkte Antwort.«
Ich übernahm seine Gewohnheiten. »Papa, sag mir noch mal, warum ich mich nicht mehr genau erinnern kann, was ich im letzten Jahr und in dem Jahr davor gemacht habe.«
Er seufzte tief, wie immer, wenn ich zu viele Fragen stellte. »Liebling, wie oft muß ich dir das denn noch erzählen? Du bist ein besonderes Mädchen, mit so außergewöhnlichen Talenten, daß du einfach nicht bemerkst, wie die Zeit vergeht. Du spazierst ganz für dich allein durch Zeit und Raum.«
Das wußte ich schon. »Aber das gefällt mir nicht, Papa. Ich fühle mich so einsam. Ich möchte lieber zur Schule gehen, so wie Vera. Ich möchte in dem gelben Schulbus fahren. Ich möchte Freundinnen haben, mit denen ich spielen kann ... und ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen Geburtstag gefeiert zu haben.«
»Kannst du dich an Veras Geburtstagsfeiern erinnern?«
»Nein.«
»Das liegt daran, daß wir in diesem Haus keine Geburtstage feiern. Es ist viel gesünder, die Zeit zu vergessen und zu leben, als gäbe es keine Uhren und keine Kalender. Auf diese Weise wird man niemals alt.«
Seine Geschichte war genau wie die von Mammi ... viel zu sehr wie ihre. Die Zeit war wichtig, Geburtstage ebenfalls; beides war wichtiger, als er sagte.
Er sagte gute Nacht, schloß die Tür und ließ mich auf dem Bett liegend nachdenklich zurück.
Eines Nachts wurde ich durch Schreie wach. Durch meine Schreie. Ich saß im Bett, umklammerte die Decke, zog sie bis zum Kinn hinauf. Ich hörte das Klatschen von Papas nackten Füßen im Flur, als er herbeigelaufen kam. Dann hockte er sich auf mein Bett, nahm mich in seine Arme, strich mein zerzaustes Haar glatt, beruhigte mich, damit ich aufhörte zu schreien. Er versuchte wieder und wieder, mich zu trösten und zur Vernunft zu bringen. Bald schlief ich wieder ein, sicher und geborgen in seinen Armen.
Ich wachte vom Morgenlicht auf. Papa stand in der Tür und lächelte breit, es war fast, als hätte er mich nie allein gelassen. »Sonntagmorgen, Liebling. Zeit zum Aufstehen. Zieh deine Sonntagskleider an, dann brechen wir auf.«
Verschlafen starrte ich ihn an. War es erst eine Woche her, daß sich Vera das Bein gebrochen hatte? Oder lag das schon viel, viel länger zurück? Es war eine Frage, die ich Papa stellte.
»Liebes, verstehst du jetzt, was ich meine? Es ist Dezember. In fünf Tagen ist Weihnachten. Sag nicht, du hättest das vergessen.«
Aber ich hatte es vergessen. Die Zeit flog so schnell an mir vorbei. O Gott ... was Vera über mich gesagt hatte, war richtig. Mein Kopf war leer, ich war vergeßlich.
»Papa!« rief ich nervös, ehe er die Tür schloß, damit ich mich zum Kirchgang anziehen konnte. »Warum laßt ihr, du und Mammi, jeden in der Kirche glauben, daß Vera eure Tochter sei und nicht die von Tante Elsbeth?«
»Wir haben jetzt keine Zeit für eine Diskussion, Audrina. Außerdem habe ich dir schon oft erzählt, wie deine Tante für zwei Jahre fortging und dann mit einer einjährigen Tochter wiederkam. Sie hat natürlich damit gerechnet, Veras Vater zu heiraten. Wir konnten nicht jeden wissen lassen, daß eine Whitefern ein uneheliches Kind geboren hatte. Ist es denn ein solches Verbrechen, daß Vera als unsere Tochter gilt und wir deiner Tante damit die Schande ersparen? Wir sind hier nicht in New York, Audrina. Wir leben im Bible Belt, und hier wird von guten Christen erwartet, daß sie die Gebote des Herrn befolgen.«
Veras Vater war irgendein Mann, und mein Vater war großzügig und handelte anständig, und ich war seine einzige lebende Tochter. Vera tat gern so, als sei er ihr Vater, aber das war er nicht. »Ich bin so froh, daß ich deine einzige Tochter bin ... die lebt.«
Einen Augenblick starrte er mich an, preßte die vollen Lippen zusammen. Man hatte mir mehr als einmal erzählt, daß die Augen die Fenster der Seele wären. Also kümmerte ich mich nicht um seine Lippen, sondern musterte die dunklen, verschlossenen Augen. In ihnen ruhte etwas Hartes und Mißtrauisches. »Deine Mutter hat nichts anderes gesagt, oder?«
»Nein, Papa, aber Vera.«
Da lachte er plötzlich und zog mich so fest an seine Brust, daß mir hinterher die Rippen schmerzten. »Was macht es schon, was Vera sagt? Sie möchte natürlich als meine Tochter gelten. Schließlich bin ich der einzige Vater, den sie je gekannt hat. Und wenn alle anderen denken, Vera wäre das Kind deiner Mutter, dann laß sie doch. Es gibt nirgendwo eine Familie, die nicht einen dunklen Punkt hat. Unsere dunklen Punkte sind nicht schlimmer als die von irgend jemand anderem. Und wäre die Welt nicht langweilig, wenn jeder über jeden alles wüßte? Geheimnisse sind die Würze des Lebens. Sie halten die Leute am Leben, weil sie hoffen, alle nur möglichen Geheimnisse aufzudecken.«
Ich dachte, daß die Welt ohne all die Geheimnisse und dunklen Punkte schöner sein würde. Meine eigene Welt wäre perfekt, wenn nur alle in meinem Heim Ehrlichkeit zu schätzen wüßten.