Читать книгу Die Welt ist ein großer Flipper - Velibor Colic - Страница 10
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ОглавлениеDie Pariser Metro ist ein Ameisenhaufen: die Menschen und die Gesichter, die Gerüche und eine besondere, graue Traurigkeit, die auf ihren unausgeschlafenen Körpern liegt. Tausend Treppen und tausend Gänge. Ich gehe mit festem, entschlossenem Schritt. Ich fühle mich wie ein Musketier, ein auf feindliches Territorium entsandter Wachposten. Die Luft ist kühl, aber ich schwitze. Zwei kalte Schlangen beißen meinen Rücken, ungesunde Perlen erkunden meine Stirn. Die Tasche rutscht mir aus der Hand, ich bin angespannt, ich laufe mit gesenktem Kopf, mit dem Mut eines Stiers, der blind und ohne Hoffnung der langen Klinge des Matadors entgegenstürmt.
Wie Puschkin am Morgen seines Duells, denke ich, wie Cäsar vor der Überquerung des Rubikons.
Ich presse mich an die zerkratzte Fensterscheibe des RER A. Ich will so wenig Platz wie möglich einnehmen, möchte durchsichtig, unsichtbar werden. Nur um irgendwas zu tun, beobachte ich alle Schattierungen des Grau, des rohen Zements und der Dunkelheit draußen. Ich zähle die Minuten, die unser Zug braucht, um die Strecke von Nation bis Vincennes zu schlucken und endlich in den kleinen Bahnhof von Vincennes und dann in den von Fontenay-sous-Bois einzufahren.
Ich komme zu früh. Also rauche ich eine Zigarette und suche vergeblich nach der geringsten Spur des Waldes, den Fontenay-sous-Bois im Namen trägt.
Weht die französische Fahne vor dem Büro auf halbmast? Ich erkenne das Blau, das Weiß, das Rot. Die drei Farben der Freiheit. Blau und Rot für die Farben von Paris, die das Weiß der Königsmacht umgeben.
*
Mein Termin beim Flüchtlingsamt OFPRA ist wie eine Therapiestunde beim Psychologen. Ich sitze neben meiner Dolmetscherin, uns gegenüber eine Dame mit großer Brille. Wir haben uns alle drei in ihr winziges Büro zwischen die Akten gezwängt. Ich habe Durst. All mein Wasser ist zu Schweiß geworden. Da ich mich frisch rasiert habe, um vorzeigbarer zu sein, spüre ich ein leichtes Pieken am Hals.
»In Ihrem Land herrscht Krieg«, stellt die Dame fest. »Das ist traurig, ich weiß, aber der Krieg interessiert uns hier nicht. Wir sind hier, damit Sie mir erklären, warum Sie, Velibor Čolić, um den Schutz des französischen Staates und um politisches Asyl bitten. Was sind Ihre persönlichen Gründe?«
*
Ich fühle mich wie Scheherezade, als wäre der Bericht über mein früheres Leben nur ein düsteres Märchen, durch das erneut Braunhemden marschieren, in dem man noch einmal Städte, Menschen und Bücher verbrennt. Ich spreche mit ruhiger, eintöniger Stimme. Ich bin in einer Art Trance, als ich erkläre, wie ich meine Arbeit als Rock- und Jazz-DJ beim Radio verloren habe, wie die paramilitärische Miliz mehrmals in meiner Wohnung war und mich gesucht hat, wie ich in meiner eigenen Armee als gefährlicher Linker beschimpft wurde. Wie ich gegen meinen Willen Soldat wurde. Wie ich mehrmals fast umgekommen wäre. Wie ich während der Angriffe der serbischen Armee weit nach oben geschossen habe, damit ich auch bestimmt niemanden treffe. Wie ich mit dreitausend anderen Männern, bosnischen Muslimen, Serben und ein paar kroatischen »Verrätern« wie mir, in ein Stadion in Slavonski Brod eingesperrt war, einer kroatischen Stadt, die plötzlich zur Grenze geworden war. Wie mein Bewacher, ein kroatischer Soldat, mich demütigte, wie er mich mit dem Kolben seiner Kalaschnikow schlug und mich mit seinen Militärstiefeln trat. Wie ich der Verräter geworden bin, wie ich für niemanden mehr irgendetwas bin.
»Vor dem Krieg war ich ein Mensch«, beende ich meinen Bericht trocken, »jetzt bin ich eine Beleidigung.«
Die Dame vom OFPRA hört mir zu und macht sich Notizen.
»Sprechen Sie Französisch?«, fragt sie mich am Ende der Sitzung.
Ich warte die Übersetzung ab, dann antworte ich auf Englisch:
»Ja, ich spreche perfekt Französisch.«
*
Ich verlasse das OFPRA so müde wie erleichtert. Ich weiß nicht, ob meine Geschichte ausreicht. In Kriegszeiten Deserteur und für alle Seiten ein Verräter – macht mich das zum politischen Flüchtling? Wo beginnt die Politik, wo hört sie auf?
Die Rückfahrt im RER geht schnell und leicht, der Waggon ist fast leer.
Ich steige bei Châtelet-Les Halles aus und gehe zu Fuß zur Gare Montparnasse.
Ich schaue auf die Leute, ohne sie wirklich zu sehen. Vor der großen Abfahrtstafel zögere ich einen Moment.
Und wenn ich nach La Rochelle fahre?
Ich überschlage schnell meine mageren Ersparnisse und gebe La Rochelle endgültig auf.
*
Um mich herum, am Bahnhofsbüffet, sind alle unterwegs, oder der Zufall hat sie hergeführt. Ihre fest verschlossenen Koffer sind grau, schwer, gewöhnlich. Die Traurigkeit, die jeder Abfahrt innewohnt, mischt sich mit der Ungewissheit der Reise. Sie steigen in die Züge, setzen sich auf ihre Plätze, lesen Zeitungen, Bücher. Ich habe noch fünfzehn Minuten bis zur Abfahrt und nutze sie, um Zigaretten zu kaufen. Aus dem Augenwinkel bemerke ich das Lächeln einer Frau, aber es ist schon zu spät.
Als ich im Zug nach Rennes sitze, schließe ich die Augen und schlafe ein.